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Als ein Anderer leben

Roman

für Anne und ihre Malkunst

Ein Wort vorweg

Tröstlich. Dieses Verschwinden. Das Verschwinden Charlie Chaplins, wenn er als Rückenfigur groß uns verlassend, zum Horizont hin wegschreitet, weg von uns auf eine unendliche Weite zutrippelnd und latschend zugleich. Immer kleiner werdend, am ENDE zu einem Punkt gerinnend. Charlie Chaplin, am Ende seines Films Punktum entschwindend, entlässt uns in grenzenlose Weiten

Mein Verschwinden, trostlos dagegen. Unvermittelt war ich weg. Kein Indiz zurücklassend, kein Zeichen, keinen Abschied. So kränkend das für Dich gewesen sein mag, so wenig trage ich Schuld daran.

Selbst wenn ich Dich auch nie mehr erreichen könnte, erklären muss ich mich Dir. Ich muss.

Stellt Dir mein Bekennerschreiben nicht als Spaß vor, als Laune. Hinterrücks schreibe ich. Nur noch mein Schreiben bestimme ich, nicht mein tägliches Leben. Man lässt mir die Zeit, nicht ahnend, was ich damit anstelle mit der überflüssigen Zeit, nicht ahnend, dass ich schreibe, schon gar nicht ahnend, was ich schreibe. Wüsste man das, ich dürfte nicht. Nicht so verquält wie Kafka schreibe ich, ich schreibe nur notfalls in der Nacht, meist am Tag, immer, wenn ich mich am stärksten fühle, nicht wie Kafka verquält von zehn Uhr abends bis sechs Uhr früh in einem Zug: »Kein Wort fast, das ich schreibe, passt zum anderen. Meine Zweifel stehen um jedes Wort im Kreis herum, ich sehe sie früher als das Wort.« So viele Zweifel, wie Kafka sie in diesen Sätzen an seiner Niederschrift äußert, habe ich nicht, wenn ich auf mein Geschriebenes blicke. Bin ja auch nur ein Schrift-Steller in allerersten Versuchen. Dennoch habe ich Zweifel, aber am Leben, das ich jetzt zu führen gezwungen werde. Zwitschernd im Goldenen Käfig? Hinterrücks schreibe ich. Wozu? Vielleicht, weil das mein letzter Zipfel Freiheit ist? Vielleicht um zu kaschieren, wie feige ich gehandelt habe, als ich mutig hätte sein können und auch sein müssen? Vielleicht weil ich Dir, Catherine Steinreich, meiner lieben Frau, meiner einzig Geliebten, eine Flaschenpost zukommen lassen möchte? Denn wie oft sichtest Du in deinem Lieblingsbuchladen die Neuerscheinungen, stößt vielleicht auf meinen Roman, wenn er mir denn gelingt und unerwartet publiziert wird. Ein von mir so sehr erhoffter Zufall, der sich aber nicht wirklich ereignen wird. In einem guten Licht werde ich Dir nicht erscheinen - leider!

Und du, Leonora, meine zweite Leserin, verzeihe mir nicht, nimm Dein Verzeihen zurück, welches Du mir in Deiner allerersten geheimen Post vor einiger Zeit viel zu großmütig geschenkt hast. Ihr beiden, die ich, wenn ein glücklicher Zufall es will, mit dieser Flaschenpost erreichen kann, nehmt erst diese Lektüre auf Euch. Urteilt nach dem letzten Wort. Klappt bitte das Buch nicht zu, bevor der letzte Satz verklingt. Chaplin gerinnt am Ende seine Films zum Punkt. Im Entschwinden überlässt der kleine schwarze Fleck dem Zuschauer die Horizonte. Wie nur wird mein Text enden?

Nicht auszudenken, wie mir geschah. Ich habe es nicht zu verantworten. Das Leben verrückter als die Phantasie. Nicht ich bin verrückt, wie Ihr vielleicht mutmaßt, nein, das Leben hat mich verrückt.

Wenigstens zwei Augenblicke allerdings gab es in meinem Leben, die alleine ich zu verantworten hatte. Auf den jungen Mann, verstrickt in den nach Paris getragenen Algerienkrieg, kann ich stolz zurückblicken, der hat sich gestellt und seinen Augenblick genutzt, Widerstand zu leisten der Militärmaschinerie, ohne abzuwägen. Der erwachsene Mann aber hat im Angesicht väterlicher Großmannssucht und Gewalt sich gedrückt, hat seinen Auftritt nicht einmal sekundenlang erwogen. Da hätte ich erneut ich sein können, da hatte ich die Chance, mich zu riskieren, doch da erstarrte ich, als wäre ich nur Zuschauer in einem Spektakel. »Die ganze Welt ist Bühne. Und alle Frauen und Männer bloße Spieler. Sie treten auf und gehen wieder ab.« Als ich endlich nach vielen Jahren wieder meine Chance hatte, ich trat erst gar nicht auf. Vielleicht schreibe ich nur, mein Versagen zu kaschieren, meine Scham zu übertönen.

Nein, ich muss ehrlich sein. Den Anstoß zum Schreiben habe ich nicht aus meinem Inneren, habe ich alleine von Dir bekommen, von Dir Leonora.

Beim Lesen Deines ersten Briefes an mich. Beim Lesen des Briefes, den der alte Salvatore mir aushändigte und sogleich für immer, nachdem ich ihn gelesen hatte, in Asche verwandelte und natürlich beim Lesen Deines allerersten gedruckten Textes, der ungeschützt immer noch offen herumliegt. Vielleicht erinnerst Du Dich, dass Du in einem Zug davon sprachst, leben und schreiben zu wollen, Schriftstellerin werden zu wollen. Im gleichen Augenblick, als ich das las, verfestigte sich in mir mehr und mehr eine Gewissheit. Könnte doch sein, auch ich dafür geboren zu schreiben! Beinahe noch nie hatte ich daran gedacht. Plötzlich aber, als ich mich herausgefordert fühlte, mich mit Dir zu vergleichen, da dachte ich, dass es nicht nur Dein, sondern genauso gut auch mein Schicksal sein könnte, Schrift-Steller zu werden. Mein Leben kraus, wirr, sich überschlagend, ein Puzzle aus auseinanderdriftenden Inseln, die sich nicht zu einander fügen wollen - Fragmente. Hatte ich vielleicht den Auftrag zu schreiben, mich neugierig über mich selbst zu beugen und das Geschehene, das Passierte, die Ereignisse, das Zufällige wenigstens in Sätze zu fügen? Verzeih` mir Leonora, sollte ich Dir eine Idee gestohlen haben, die nur für Dich bestimmt war, verzeih` mir, wie ich inzwischen auch Dir verzeihen will. Du ahnst, worauf ich anspiele. Ich füge nichts Erfundenes hinzu, wenn ich schreibe, nach Sätzen suchend und greifend, die mein Leben in eine Ordnung bringen sollen. Satzgebilde, die Geschehnisse einfangen zwischen Komma und Punkt.

Bitte lest erst diesen Suchtext. Schiebt meine Verurteilung noch hinaus. Verachtet mich erst, wenn ihr nach der Lektüre das noch für gerechtfertigt halten müsst. Als Roman muss ich verkleiden, was zu erinnern ist, obwohl dieser Text, den Ihr hoffentlich lesen werdet, frei ist von Phantasie. Denn nicht ich habe mein Leben gelebt, sondern mir hat das Leben mitgespielt, wie ich selbst es mir nicht hätte ausdenken können, auch nicht hätte ausdenken wollen. Die Menschen, die mir jetzt meine Lebenswege vorschreiben, die lesen nicht, keine Romane jedenfalls, Bilanzen bestenfalls oder hochgeheime Polizeidossiers oder einschüchternde Verdächtigungen der Steuerbehörden. Der Pater, der mich so gütig begleitet hat, liest ausschließlich in der Heiligen Schrift.

Also kann ich es riskieren, alles niederzuschreiben, was mir einfällt auf der Suche nach den verlorenen Erinnerung, ohne befürchten zu müssen, von meinen eigenen Texten verraten zu werden und ausgeliefert an die Rache meines Retters. Vielleicht lässt Euch ein glücklicher Zufall greifen in einer Buchhandlung nach meinem Roman, der kein Roman ist. Einen anderen Weg, mich Euch zu erklären, wüsste ich nicht. Wo beginnen? Wer von Euch beiden soll mich zuerst wieder erkennen? Beim Versuch, dem ersten Satz aufzulauern und ihn niederzuschreiben, merke ich, dass sich mir am meisten aufdrängen die endlosen Augenblicke des Ausgeliefertseins ohne jede Chance auf Hoffnung.

Ins Ausgeliefertsein eingesperrt hatte mich kein Kriegsgeschehnis. Meine Nichtigkeit demonstriert hatte mir kein Verkehrsunfall, kein Mensch, nichts von Menschen Konstruiertes. Hellwach, aber verzweifelt ohnmächtig um und um geschleudert zu werden, ohne den Hauch einer Möglichkeit, die Geschehnisse beeinflussen oder gestalten zu können nach eigenem Willen mit den eigenen Kräften, das ist mir nur einmal zugestoßen in meinem Leben, unglaublicherweise machte das Meer mich so nieder, nicht irgendein Meer, das von mir so geliebte Mittelmeer zermalmte mich.

Weil ich zu meiner eigenen, nach Jahren immer noch anhaltenden ungläubigen Verwunderung die Katastrophe überlebte, wird mein erinnerndes Schreiben mit diesem Erlebnis - ein viel zu positiv klingendes Wort - beginnen müssen. Ein treffenderes Wort als »Erlebnis« fällt mir nicht ein, denn so grenzenlos lähmend die Ohnmacht, so heftig und intensiv war das innerste Empfinden totalen Ausgeliefertseins an tosende Gewalten. Allerdings wäre mir dies Ungeheuerliche niemals zugestoßen, hätte nicht ein Automobil mir seine Beweglichkeit verweigert. Beschreibe ich also erst einmal, wie unser Citroën ungehorsam bockte, alles andere formuliert sich dann, so hoffe ich, wie von selbst.

Als ein Anderer leben

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