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Zwillingsschwestern entzweit

Die Frau, die Pfleger, selbst Dottore Caputo waren vom Ernst meiner Lage überzeugt, durchschauten mein Spiel nicht. Mit jedem Tag ohne feste Nahrung wandelte sich meine gespielte Ohnmacht allerdings in eine körperliche Schwäche, die ich nicht mehr lange hätte kontrollieren und beherrschen können. Nicht immer wusste ich zu unterscheiden, ob die Türen, die sich vor meinen Augen öffneten und verschlossen, geträumt oder phantasiert waren, ob die Stimmen um mich herum von außen in mich eindrangen oder aus mir heraus gesponnen wurden. Obwohl ich sicher war, meine Augen fest verschlossen zu halten, sah ich in wallendem Weiß die Frau ans Fenster treten, auf mich herabblicken und auf mein weißseidenes Bett und zu ihrem Mann klagend sagen: »Mich gelüstet von diesem Treibgut zu essen.« Mich schauerte, ob sie wirklich mich meinte. Ich, ein Treibgut? Der Mann, der hinter ihr stehend über ihre Schulter ebenfalls auf mich herabblickte, schien mir unglaublich devot: »Was fehlt dir, liebe Frau?«, jammerte er. »Du siehst so blass und elend aus.« »Ach«, antwortete sie, und da konnte kein Zweifel mehr sein, dass sie mich meinte: »ach, wenn ich keine Rapunzeln aus diesem Bett bekomme, so sterbe ich, und auch die Frucht meines Leibes wird sterben.« Auf diese Bitte der Schwangeren ganz in Weiß schien die Frau, die doch eigentlich mich pflegen und zu neuem Leben erwecken sollte, nur gewartet zu haben. Als wolle sie den Mann zusätzlich antreiben, rief sie: »Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter!« Schon drängte der Mann sich vor seine Frau in das Fenster hinein, schon seilte der Mann sich an den langen Zöpfen seiner klagenden Frau ab und rutschte seilabwärts auf mich zu, eine blitzende scharfe Machete in seiner Rechten. »Wir werden ihm Bärlauchpesto einflößen schön vermischt mit Maiglöckchenblättern und frischen Blättern der Herbstzeitlosen, 60 Gramm davon reichen völlig, dann stirbt er innerhalb von sechs Stunden. Ist er mausetot, musst du ihn sogleich kräftig ausweiden und deine Frau mit seinen Eingeweiden füttern«, versuchte die treulose Frau in meinem Zimmer den immer noch die Zöpfe abwärts gleitenden Mann aufzuhetzen gegen mich. Ich selbst war viel zu schwach auch nur eine Hand zur Gegenwehr zu heben. Ich verurteilte, dass ich so lange nichts gegessen und so leichtfertig mich im Bett herumgetrieben hatte. Dann aber im letzten Augenblick hörte ich die Frau in der mir so lieb gewordenen weichen Stimme sich selber zurecht weisen: »Das kannst du nicht im Ernst meinen. Du weißt, wie schmerzhaft der Tod ist, in den die Herbstzeitlose sogar Erwachsene hineinzieht, ein Tod aus Würgen und Erbrechen. Überhaupt, wirst du doch keine Mörderin sein wollen.« Ohne vermittelnde Überleitung fiel die Frau wieder in den mir feindlich gesonnenen Stimmton und wie im Streit mit sich selbst antwortete sie auf ihren eigenen Vorwurf, der mich hätte retten können: »Dein Mitleid hat er nicht verdient. Eingeschlichen hat er sich in das Herz unseres Vaters, als Sohn ausgegeben. Dabei ist er nichts anderes als Treibgut, wertlos, selbst das Meer hat ihn ausgekotzt, so ein Dreck, so ein Abschaum ist er.« Der Mann an den Zöpfen von Rapunzel war verblasst. Erleichterung, als mir klar wurde, dass ein Traum mir mitgespielt haben musste. Kein Traum aber war das Streitgespräch nahe bei meinem Bett: »Du sprichst, als wäre alles menschliche Fühlen aus dir entwichen. Wer immer er sein mag, er ist doch ein Mensch, ein hilfloser Mensch. Schwester, so fremd warst du mir noch nie.« Meine Lippen waren so eingetrocknet, dass ich nicht einmal den Mund zu kräuseln vermochte, obwohl ich so gerne gerufen hätte: »Recht haben Sie. Ich bin doch ein erbarmenswürdig hilfloser Mensch. Ich führe doch nichts Böses im Schilde. Seien Sie doch menschlich, seien Sie barmherzig. Lassen Sie mich doch einfach leben!« Warum nur vermochte ich mich nicht einzumischen in das Zwiegespräch, das meine Bewacherin mit sich selber führte? »Das nennst du hilflos, wo er sich doch in das Herz unseres Vaters hineingeschlichen hat und uns unaufhaltsam verdrängt? Merkst du nicht, was für eine infame Kanaille er ist, dieser Hundesohn? Noch heute werde ich ihm dies Pesto einflößen.« So schlecht meine Lage war, ich beglückwünschte mich, dass meine Fähigkeiten als Regisseur zu mir zurückgekehrt sein mussten. Nur zu genau vermochte ich die beiden Stimmlagen zu unterscheiden, in der diese Frau mit sich selber im Streit lag. Nur zu genau merkte ich, dass der Stimmfluss in seiner Breite identisch war, von nur einer Person stammen konnte. Mit geschlossenen Augen überwältigte mich die Erkenntnis, dass mein Retter, der Mann, der sich als meinen Vater auszugeben versuchte, mich von einer Tochter umsorgen ließ, die ohne Zweifel schizophren war und in ärztliche Behandlung gehörte. Noch nie hatte sie mich so deutlich ihre Spaltung spüren lassen wie durch dieses Streitgespräch, in das sie sich selbst verwickelt hatte. Verschwunden war all mein Entsetzen der ersten Tage, das mich niederdrückte ins Bett, bewegungsunfähig machte. Verschwunden war mein verantwortungslos leichtsinniges Dahinschweben in den Empfindungen eines eingebildeten Kranken, der sich lustvoll umsorgt fühlen durfte. Nur noch die Gefahr dieses Augenblicks spürte ich. Ich konnte gar nicht anders, als die Augen zu öffnen mit dem festen Vorsatz, mich der Attacken dieser schwerkranken jungen Frau zu erwehren, ihr das vergiftete Essen aus der Hand zu schlagen und auf irgendeine Weise einen der geistig normalen Pfleger in dies Zimmer zu rufen. Kampfbereit öffnete ich die Augen, sah aber nicht eine arme einsame kranke Schizophrene, verwickelt in ihre ureigensten Idiotismen, sah nicht die eine Frau, die ich bei der Planung ihres tödlichen Anschlags auf mich belauscht hatte. Nicht eine, zwei Frauen musste ich erblicken, einander in Gesicht, in Größe und Körperumfang zum Verwechseln ähnlich, allerdings auseinander dividiert durch gänzlich verschiedene Kleidung. So gerne ich mich, wie schon beim überwältigenden Anblick der Freiheitsstatue, in eine schwarze Ohnmacht hätte zurückfallen lassen, ich fühlte mich wacher denn je. Meine Augen blieben überweit geöffnet auf die überraschende Erscheinung fixiert. Zwei identische Gesichter. Vollkommen gleich auch die verführerisch lockenden Hälse, die stolz erhoben markante Köpfe trugen. Kaum unterschiedlicher hätte sein können die Kleidung schulterabwärts. Giftig rotes Kleid gehalten von schmalsten Spaghettiträgern, welche drohende Schultern eher entblößten als verdeckten, ein luftiges Kleidchen, die Körperformen gewollt betonend; entspannt bis schloddrig die andere Kleidung, vielfältig sich übereinander schiebende Oberteile. Unter einer weitbauschigen Lederjacke aus Naturfell guckten wie überflüssig zwei verschiedenfarbige und offensichtlich unterschiedlich lange Pullover- oder Hemdumrundungen hervor, die sich darin übereilten, tief über die abgewetzten Jeans abwärts zu hängen. Die Zwillingsschwestern, die so lange schon mich Bettlägrigen pflegten und gesund zu machen versuchten, im geregelten täglichen Wechsel besorgt oder bösartig, hatten nur noch Augen für mich. Leider aber setzten sie ihren Streit über mich nicht in dem Italienisch fort, welches ich mit geschlossenen Augen so gut verstanden und als Zwiegespräch einer Schizophrenen missdeutet hatte. Zu meinem Bedauern wechselten sie ins Grekaniko, dem calabresischen Griechischitalienisch, von dem sie sicher sein konnten, dass ich Fremdling kein Wort würde verstehen können. Dem Stimmton, dem immer heftigeren Gestikulieren und der sich steigernden Erregung konnte ich entnehmen, dass die Schwestern sich sehr uneinig waren, wie sie den erstmals zu vollem Bewusstsein erwachten Kranken behandeln sollten. Offensichtlich ohne eine Einigung zu erzielen und ohne jeden Versuch, sich mir zuzuwenden und mich über meine Lage zu beruhigen, verließen die beiden Zwillingsschwestern unversöhnlich zerstritten, jeden ihrer Schritte wechselseitig bewachend, mein Zimmer, schlossen die Tür und ließen mich im lautlos verdämmernden Tag in lauter Unbestimmtheiten zurück.

Als ein Anderer leben

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