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1.1 Impressionen aus einer Schule

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Langsam, ganz langsam schiebt sich eine Schildkröte ins Bild. Sie verharrt, reckt den Kopf und schaut uns an. Schildkröten gelten als Wahrzeichen der Intelligenz und des Wissens. Sie bewegen sich bedächtig voran, und wenn sie auf ein Hindernis stoßen oder ihnen eine Gefahr droht, so werden Kopf und Beine in die schützende Obhut des Körperpanzers zurückgezogen. Nur sehr zaghaft werden Kopf und Beine wieder sichtbar. Besteht das Hindernis weiter, wird ein Umweg eingeschlagen, droht immer noch Gefahr, verschwinden Kopf und Beine aufs Neue und der Abstand zum nächsten Versuch, sich hervorzuwagen, wird größer. Schildkröten gelten als Symbol der Intelligenz, weil es sich mit dem menschlichen Intellekt ähnlich verhalten mag.

Verhalten und Intelligenz

Auch der menschliche Intellekt wagt sich vor, erkundet wissbegierig die Welt und zieht sich zurück, wenn er auf Widerstand und drohende Gefahr stößt. Bietet ihm seine Umgebung keine Anregung zur Weiterentwicklung oder wird er gar dazu genötigt, im Schädelpanzer zu verharren, und sich nicht nach neuen Richtungen wenden zu können, so verkümmert die Intelligenz. Die ersten zögerlichen Schritte des erwachenden Geistes sind sehr leicht zu hemmen, die ersten erkundenden Blicke auf die Welt nur zu leicht zu brechen. Wo die Hemmung oder Gefahr zu lange besteht und die Richtung, in die der Geist drängt, endgültig blockiert ist, wendet er sich ab und erkundet die Welt in diesem Bereich nicht weiter. Er hat an Erfahrung, wie es doppelbödig heißt, gewonnen, dass trotz wiederholter Anspannung seinem Wissensdrang äußere Grenzen gesetzt sind. Wer aber je gesehen hat, wie unermüdlich und ausdauernd kleine Kinder laufen lernen und mit welcher Geduld und Beharrlichkeit sie sich die Sprache aneignen, wer je sich gefreut oder auch gelitten hat unter den nimmermüden und hartnäckigen Fragen eines Kindes nach dem Warum der Dinge, kann ermessen, wie brutal die Hemmung sein muss, damit ein Kind die Lust am Lernen und an geistiger Anstrengung verliert.

Être et avoir

Die emblematische Szene mit der Schildkröte findet sich am Anfang des Dokumentarfilmes être et avoir des Filmemachers Nicolas Philibert, der von Winter bis Sommer ein Schuljahr lang das alltägliche Leben in einer Zwergschule in Sainte-Etienne-sur-Usson in der Auvergne auf Zelluloid gebannt hat, wo der Lehrer Georges Lopez mit 13 Kindern im Alter zwischen vier und elf Jahren Schule macht und alle gemeinsam unterrichtet. Was verbindet das Schulehalten von Monsieur Lopez mit dem Bild der Schildkröte, die sich forschend durch das Klassenzimmer der Zwergschule bewegt? Sehen wir uns einige Szenen an.

Der schwere Beginn

Die kleinsten Schülerinnen und Schüler üben sich im Schreiben. Monsieur Lopez hat große Kärtchen vorbereitet, auf denen das Wort „maman“ steht. Die Kinder schreiben das Wort in Schreibschrift darunter. Es herrscht eine konzentrierte Arbeitsstimmung im Klassenraum. Der Lehrer sitzt dabei, gibt Hilfestellung, wenn das Kärtchen nicht richtig liegt oder die Schrift allzu sehr in Schräglage gerät, greift durchaus auch mal energisch in den Schreibprozess ein und lenkt mit seiner Hand Stift und Hand eines Kindes. Als alle fertig geschrieben haben und auch Jojos Zwischenfrage, ob jetzt Nachmittag oder Vormittag sei, zufriedenstellend geklärt ist, hält Monsieur Lopez das Kärtchen von Jojo hoch und fragt die anderen Kinder, wie sie Jojos Schreibbemühungen bewerten. Zunächst sagen die meisten sehr gut, „très bien“, doch als Monsieur Lopez nachfragt, meint Marie, dass Jojos „maman“, was eher als „moman“ entziffert werden kann, „petit peu bien“, ein kleines bisschen gut sei, während Jojo selbst es durchaus für „bien“ hält. Nach einem kleinen Korrekturhinweis des Lehrers sehen sich die Kinder die „maman“ Maries an, einige finden es „bien“, andere „pas bien“, während Marie es für „beaucoup bien“ hält, obwohl ihr Schriftzug etwas krakelig rauf und runter wogt.

Allein und gemeinsam lernen

Axel, ein Leseanfänger, liest etwas stockend einen Text über das Schäfchenzählen beim Zubettgehen. Monsieur Lopez sitzt ganz nah neben ihm und zeigt Axel mit dem Finger die Zeile, die er gerade liest. Im Text taucht das schwierige Wort Alptraum, „cauchemar“, auf, das der Lehrer nutzt, um Axel zu fragen, ob er wisse, was Alpträume sind, und ob er selbst manchmal welche habe. Ein böser Traum, antwortet Axel, und nach einigem Zögern, ja, er habe manchmal Alpträume und sehe dann Gespenster, „des fantômes“. Als sich andere Kinder, die wir aber nicht sehen, in die intime Situation zwischen Axel und seinem Lehrer einschalten wollen und beginnen, über die Frage zu debattieren, ob es Gespenster gebe oder nicht, weist Monsieur Lopez sie resolut darauf hin, dass ihm jetzt Axel seine Alpträume erzählt und die anderen still sein sollen. Zwischen Monsieur Lopez und Axel entspannt sich ein Frage-Antwort-Spiel über die Existenz von Gespenstern, ein Gespräch, das keine Ablenkung vom Leselernprozess zu sein scheint, sondern unmittelbar dazu gehört und ihn voranbringt.

Diszipliniertes Arbeiten

Monsieur Lopez führt mit dem vierjährigen Jojo ein Gespräch über eine Zeichnung, die Jojo noch fertig malen soll. Als Monsieur Lopez fragt, was noch fehle auf seiner Zeichnung, ist Jojo sicher, dass er damit schon fast fertig ist. Als er selbst aber überprüft, wie viel er von dem vorgedruckten Fisch schon ausgemalt hat und was noch fehlt, sagt ihm sein Lehrer, dass das Bild sehr unvollständig sei, obwohl Jojo doch versprochen habe, das Bild fertig zu machen. Wenn er noch nicht fertig sei, dürfe er nicht mit den anderen Kindern in der Pause in den Hof gehen. Als dann endlich Pause ist, darf Jojo tatsächlich nicht ins Freie, da sein Bild noch unvollständig ist und das der Absprache, die sein Lehrer mit ihm getroffen hat, widerspricht. Selbst als Jojo vorschlägt, das Bild nach der Pause fertig zu malen, kann ihm sein Lehrer nicht zustimmen. Du hast versprochen, es zu machen. Hast du dein Versprechen gehalten? Ist der Fisch fertig? Nein, muss Jojo eingestehen. Du musst ihn fertig machen. Sofort!, bestimmt Monsieur Lopez.

Warum wir in die Schule gehen

Monsieur Lopez unterhält sich mit Jojo über die Frage, warum er in die Schule kommt. Meine Mutter will immer, dass ich in die Schule gehe, antwortet Jojo. – Und du willst nicht? – Doch. – Aha. Warum kommst du in die Schule? Nur zum Spielen? Warum noch? – Zum Arbeiten. – Und was ist das für Arbeit? – Mit Tatjana und Ihnen. – Mit Tatjana und mir. Was machen wir? Was lernst Du in der Schule? Nur wie man Sachen ausmalt? – Nein. – Anmalen ist wichtig, aber was noch? – Die Arbeit. – Was noch? – Dem Lehrer zuhören. – Das ist keine Arbeit. Was hast du heute morgen gemalt? – Eine Zeichnung. – Nein, an der Tafel. – Kringel. – Ja, du machst also Kringel um was zu lernen? Um schreiben zu lernen? – Um Sechser zu malen. – Und wozu lernen wir Sechser? – Zum Rechnen. – Ja, damit wir zählen können. – Ja. Ich kann schon bis sechs zählen. – Bis sechs? – Nach fünf kommt sechs. – Und nach sechs? – Kommt sieben. – Das haben wir noch gar nicht gemacht. – Und nach sieben kommt se…, nein, nach sieben kommt acht. Monsieur Lopez schaut voller Stolz seinen vierjährigen Schüler an, der schon bis acht zählen kann.

Soziales Lernen

Eines der kleinen Mädchen, Alizé, baut aus einem Brettchen und verschiedenen großen Radiergummis ein kleines Kunstwerk. Sie hat Schnupfen und ihre Nase läuft fürchterlich, so dass sie diese öfter mal hochziehen muss. Sie ist andächtig bei ihrer Aufgabe, den kleinen Radiergummi hier, den großen Radiergummi dort zu platzieren, als plötzlich eine Hand ins Bild greift und einen Radiergummi stibitzt. Alizé ist sprachlos vor Empörung. Tränen treten in ihre Augen und dennoch kann sie ihrer Empörung nur flüsternd Ausdruck verleihen, weil im Klassenzimmer konzentrierte Stille herrschen muss, da die anderen Schülerinnen und Schüler arbeiten. Sie will zunächst weiterbauen, entschließt sich dann aber dazu, die verbliebenen Radiergummis in ihren Händen in Sicherheit zu bringen.

Ein sachhaltiger Grund für die Schule

Julien sitzt nach dem Ausmisten des Kuhstalls zusammen mit seiner Mutter am Küchentisch und macht seine Rechenhausaufgaben. Wenn er falsch rechnet, kann es schon passieren, dass der Mutter die Hand ausrutscht, sie ihm damit droht, die Dreierreihe hundertmal aufschreiben zu müssen, oder dass sein Vater ihm die Aufgabe stellt: 2 mal 6 Ohrfeigen sind wie viele? Als Julien an eine schwierige Stelle kommt und weder er noch seine Mutter weiter wissen, versucht sein Onkel ihm zu helfen. Doch auch er kann die Aufgabe nicht lösen. Am Ende der Szene ist die ganze Familie am Tisch versammelt und versucht, Juliens Hausaufgabe zu verstehen und zu lösen. Alle müssen sich aber eingestehen, dass sie nicht mehr durchblicken und die Aufgabe nicht lösen können, denn irgendwo ist immer ein Fehler.

Beruf: Lehrer

Monsieur Lopez und seine Schüler unterhalten sich über zukünftige Berufe der Schülerinnen und Schüler. Monsieur Lopez fragt, warum manche Lehrer werden wollen. – Weil der Lehrer sagt, was wir machen sollen. Nicht wir entscheiden, was wir machen, sondern Sie sagen, was wir machen sollen. Wenn wir groß sind, sagen wir unseren Kindern, was sie machen sollen. – Genau, antwortet der Lehrer, vielleicht wirst du ja eines Tages Lehrerin. – Ja. – Dann gibst du den Schülern Aufgaben. Möchtest du das? – Ja. Während Johann lieber Polizist werden möchte, wollen Jessie und Jojo also Lehrerin und Lehrer werden. Und was würdest du tun, wenn du Lehrer wärst Jojo? Was tun Lehrer? fragt Monsieur Lopez seinen kleinen Schüler. Und Jojo antwortet ihm, Sie geben den Großen, den Erstklässlern und den Kleinen Aufgaben. – Allen drei Gruppen? Und allen zugleich? – Ja. Nein, nicht allen zur gleichen Zeit. – Nacheinander? – Ja.

An der Grenze der Fassungskraft

Die kleineren Kinder haben die Zahl sieben gelernt. Sie haben die Sieben mitunter etwas windschief an die Tafel geschrieben und nun soll resümiert werden, was sie gelernt haben. Monsieur Lopez sitzt mit einem der Mädchen, Létitia, gemeinsam am Tisch und will sich von ihr die Zahlenreihe von eins bis sieben aufsagen lassen. Létitia kommt aber immer nur bis zur sechs und kann die neu gelernte Zahl nicht nennen. – Was kommt nach sechs? Was hast du gerade gezeichnet? Was hast du rot ausgemalt? Was haben wir heute gelernt? Létitia weiß keine Antwort und wird neben dem Lehrer zusehends kleiner. Sie weiß es nicht mehr. Er fragt die anderen Schülerinnen, welche neue Zahl haben wir heute gelernt? – Die 7, antwortet Marie. Er wendet sich wieder Létitia zu, Los, 1, 2, 3, 4, 5, 6. Und dann kommt? Aber Létitia kann immer noch nicht „sieben“ sagen, obwohl es ihr die anderen Kindern laut vorflüstern. „Wir müssen ihr helfen.“

Die Sprachen der Welt

Monsieur Lopez hat Kärtchen vorbereitet, auf denen „ami“ und „amie“ steht. Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen, das grammatikalische Geschlecht richtig zu verwenden. Der Lehrer erklärt die Verwendung der Worte, vergewissert sich, dass alle es verstanden haben, und fordert sie auf, mit den Kärtchen einfache Sätze zu bilden wie „Marie und ihre Freundin Jessie“ oder „Papa und sein Freund Jojo“. Als Johann an die Reihe kommt, zeigt sich, dass er zwar das Prinzip verstanden hat, aber das Wort „ami“ durch das Wort „copain“ – Kamerad – ersetzt, da er das Wort „ami“ nicht kennt. Auch nach wiederholter und zusehends genervter Aufforderung von Monsieur Lopez, das Wort auf dem Kärtchen zu verwenden, bleibt Johann hartnäckig bei „copain“ und „copine“.

Wie weit kann man zählen

Monsieur Lopez besucht mit seiner Klasse das Collège, das zwei der Schüler im nächsten Schuljahr besuchen werden. Während die älteren Schülerinnen und Schüler eine Bibliotheksführung machen, unterhält sich der Lehrer mit Jojo. „Wie weit kann man zählen?“ Jojo, der in einem Bilderbuch blättert, sagt nach einigem Überlegen: „Hundert.“ Monsieur Lopez gibt sich damit nicht zufrieden. „Bis hundert. Kommen danach noch andere Zahlen? Kann man weiter zählen?“ „Ja“, gesteht Jojo ein. „Wie weit?“ „Tausend“, gibt Jojo zur Antwort. „Kann man weiter zählen als bis tausend?“, fragt der Lehrer. „Nein“, Jojo ist sich sicher. Der Lehrer fängt an zu zählen: „Tausendeins, tausendzwei …“, bereitwillig fügt Jojo „tausenddrei“ hinzu. George Lopez macht weiter mit diesem Zahlenspiel, bis Jojo bei den Millionen ankommt. Spätestens jetzt verliert Jojo die Geduld und lenkt seinen Lehrer von den Zahlen ab, indem er ihn auf zwei streitende Mitschüler aufmerksam macht, die der Zuwendung bedürfen.

Einführung in die Theorie der Schule

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