Читать книгу Einführung in die Theorie der Schule - Hans-Peter Gerstner - Страница 16

2.3 Aufbau und Wirkung schulischer Tätigkeiten

Оглавление

Auseinandersetzung um Schule

Mit der äußeren Struktur des Schulaufbaus und der Schularten ist eine wichtige Dimension der Wirklichkeit von Schule erkannt, aber noch nicht die innere Struktur der Schule. Schon der Kontrast von weiterhin selektiver Struktur und dennoch zunehmender Bildungsbeteiligung macht deutlich, dass politisch gewollte Organisationsmuster durch die aktive Schulwahl der Schüler und ihrer Eltern dynamisch so überformt werden, dass sie ihren exklusiven Charakter verlieren. Die Wirklichkeit der Schule wird also nicht nur allein durch politische Vorgaben und schon gar nicht durch pädagogische Absichten bestimmt, sondern ebenso durch das interessenbestimmte Handeln der einzelnen sozialen Akteure, welche die Gestalt der Schule formen (vgl. FEND 2006a; DIEDERICH/TENORTH 1997, S. 180ff.). Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Ordnung der Schule werden schon bei grundlegenden Fragen offenkundig:

 Warum ist die Schule etwa nach Jahrgangsklassen gegliedert und nicht nach Lernausgangslagen und Lernfortschritt?

 Warum hat sich ein bestimmter traditioneller Fächerkanon in der Schule durchgesetzt und nicht ein interdisziplinäres Lernen entlang der Lösung von Problemen?

 Warum dauert die gemeinsame Schule in manchen Ländern acht Jahre und in Deutschland meist nur vier?

 Warum gibt es in Deutschland die Schulpflicht, wo doch in einer modernen Gesellschaft alle um die Wichtigkeit des Lernens wissen und es frei- und bereitwillig tun könnten, um keine Nachteile erleiden zu müssen?

 Warum sind Schulen in Deutschland Sache der Länder und nicht, wie in Frankreich, Sache des Zentralstaats oder fallen gar in die Kompetenz der einzelnen Gemeinden wie in der Schweiz?

Obwohl einerseits weltweit also die Parameter schulischer Organisationen gelten, deren Zwecksetzung das thematisch beschränkte, pädagogisch arrangierte Lernen ist, überwiegt andererseits, von Land zu Land, von Schule zu Schule verschieden, kulturelle Mannigfaltigkeit (vgl. ADICK 1992).

Die innere Ordnung der Schule

Diese Vielseitigkeit zeigt sich noch ausgeprägter im alltäglichen Umgang von Lehrern und Schülern, Schülern und Schülern, Lehrern und Lehrern in der Schule. Denn Schule wird auch jenseits der Ebene des offiziellen Lehrplans von den Lernenden und Lehrenden derart gestaltet, dass sie Rituale, Stile, Taktiken und Strategien entwickeln, mit denen sie ihr schulisches Lernen organisieren. Diese Formen reichen vom Aufbau von Klassenhierarchien und der Cliquenbildung bis zur Sitzordnung, vom Spickzettel bis zu routinisierten Methoden der Arbeitsentlastung, von den ritualisierten Entschuldigungsschreiben bis zu den kanonischen Formen der Schulfeste. Es ist dieses fein justierte Räderwerk, das dazu dient, die schulische Ordnung durchzusetzen, zugleich aber das Leben in der Schule erträglicher zu machen. Schüler wie Lehrer lernen in der Schule, auch damit mehr oder weniger souverän umzugehen. Pädagogen haben für diesen inoffiziellen Lehrplan den Begriff „heimlicher“ Lehrplan erfunden, auch wenn das Lernen nach diesem Lehrplan nicht gar zu heimlich ist, sondern ziemlich offen dazu dient, die Zumutungen der Schule auszubalancieren (s. Kapitel 8). Ohne diese Balance – wenn also Schule einfach nur eine Lernfabrik wäre, die ihre Ziele durch direkte Instruktion durchsetzen würde – könnten es wohl weder Lehrerinnen und Lehrer noch Schülerinnen und Schüler lange in ihr aushalten. Das jeweilige „Betriebsklima“ einer Schule macht dann auch den Unterschied zwischen guten und schlechten Schulen aus, wobei diese „atmosphärischen“ Differenzen teilweise mehr zu Buche schlagen als Unterschiede zwischen den jeweiligen Schulsystemen (vgl. FEND 1996). Es sind also trotz aller organisatorischen Hindernisse und bürokratischer Reglementierung immer noch die Lehrer und Schüler, die Schulleitung und die Eltern, die im Guten wie im Schlechten das Klima an einer Schule für förderliches Lernen gestalten.

Wirkungen von schulischen Lernprozessen

Die großen pädagogischen Erwartungen hat Schule nicht erfüllt. Ob mit der Ausbreitung von Schulen ein allzu großer Fortschritt in der Zivilisierung und Moralisierung der Menschen einherging und ob Vorurteile durch umfassende Beschulung aufgeklärten Urteilen gewichen sind, ist wohl zumindest fraglich. Selbst die einfachsten Lektionen der Schule, also das Lehren von Lesen, Schreiben und Rechnen, dürfen angesichts der Ergebnisse der PISA-Untersuchungen in Zweifel gezogen werden (s. Kapitel 13).

Trotz aller Skepsis über die Leistungsfähigkeit von Schule: Ein Nachdenken über die Art und Weise, wie sie auf die Individuen und die Gesellschaft wirkt, lohnt sich. So lautet die auf Seneca zurückgehende Sentenz, „non scholae, sed vitae discimus“, dass wir für das Leben und nicht für die Schule lernen. Diese Ansicht wird, seitdem es Schulen gibt, immer wieder in Zweifel gezogen. Denn dass schulisch erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten unmittelbar ins Leben außerhalb der Schule übersetzt werden können, ist mehr als fraglich, und tatsächlich hatte Seneca diesen Satz genau umgekehrt formuliert, als Kritik an einer lebensfernen Bildungsbeflissenheit. Weder sind gute Schulleistungen ein Garant für späteren Berufserfolg, noch lässt sich aus einem guten Abitur der Studienerfolg prognostizieren. Das Wissen, das wir in der Schule lernen, ist Schulwissen. Lernen wir also doch nur für die Schule? Womöglich aber ist die Frage nach dem Wissen zu eng gefasst. Schule scheint zwar nicht sonderlich erfolgreich zu sein bei der Vermittlung von konkretem Wissen, aber sie ist immerhin folgenreich für den Umgang mit Lernen selbst. Dass Menschen, die vor einem Problem stehen, sich hinsetzen und versuchen, dieses Problem durch Lernen zu lösen, kann durchaus als Auswirkung der Schule verstanden werden. Die Schule vermittelt also nicht spezifisches Wissen, sondern erzeugt bestimmte Verhaltensweisen, die gesellschaftlich folgenreich sind.

Folgenreich scheint die Schule auch bei der Konstruktion von Selbstwahrnehmungen zu sein, wenn etwa zwischen Erfolg und Misserfolg anhand von schulischen Kriterien zu unterscheiden gelernt wird (vgl. FEND 1997; TSCHIRA 2003). Wobei sicherlich zu beachten ist, dass die familiäre Sozialisation die Persönlichkeit mehr formt als die Schule. Schule kann gegenüber den Neigungen und Erwartungen, welche die Kinder mitbringen, lediglich verstärkend wirken, aber sie kaum allein bewirken. Die Schule ist daher keine pädagogische Provinz, sondern bleibt verflochten in die Gesellschaft, in der die Schülerinnen und Schüler leben und gebunden an die Kultur, die in der Schule selbst vorherrscht. Damit werden in der Schule aber weiterhin überwiegend Attitüden prämiert, die mit einem bildungsbürgerlichen Standard konform gehen. Schule ist so immer die Schule in einer bestimmten Gesellschaft und bleibt abhängig von der tonangebenden Kultur.

Einführung in die Theorie der Schule

Подняться наверх