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2.2 Das im Sturz sich stabilisierende moderne Schulsystem

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Anfänge von Schulen

Vor der Etablierung eines flächendeckenden Schulwesens im 19. Jahrhundert war schulförmig organisierter Unterricht weitgehend ein Privileg der gesellschaftlichen Eliten, die für bestimmte Aufgaben ausgebildet wurden. Solche Schulungen gibt es schon in allen frühen Hochkulturen, sobald ein gesellschaftlicher Bedarf für die grundlegenden Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen entstand. Im antiken Griechenland gab es ab dem fünften vorchristlichen Jahrhundert auch schon Schulungen für die politische Praxis oder für gymnastische Übungen (vgl. MARROU 1957). Dieser Unterricht wurde von bezahlten Lehrern veranstaltet, deren Status meist allerdings gering geachtet wurde. Die Mehrzahl der Menschen erhält freilich keine schulische Bildung, sondern geht, sofern sie es überhaupt brauchte, noch bis in die frühe Neuzeit zu Schreibern, die ihnen die mühevolle Arbeit des Lesens und Schreibens abnehmen. Die Schule als stabile Institution, die mit berufsmäßigen Lehrern und einem festgelegten Lehrgang arbeitet, entwickelte sich in Europa zunächst im Umfeld der christlichen Klöster, da die Kleriker die lateinische Sprache beherrschen und die Bibel gewissenhaft lesen müssen, oder in China im Umfeld der bürokratischen Organisation, da die chinesischen Mandarine für ihre Verwaltungstätigkeit die Schriftzeichen beherrschen müssen. Erst mit der Entfaltung einer städtischen Kultur und der Entwicklung länderüberschreitenden Handels im Oberitalien des 14. Jahrhunderts entstehen Schulen auch für das Verwaltungspersonal in den Städten und für die kaufmännische Ausbildung. Mit der Renaissance – der großen gemeineuropäischen Kulturepoche, welche die Wende vom Mittelalter zur Neuzeit umfasst – und dem Humanismus, dessen bekanntester Vertreter Erasmus von Rotterdam (1469–1536) war, erhält die europäische gelehrte Kultur eine eigene Dynamik, die sich in der Gründung von Lateinschulen und Universitäten niederschlägt, welche aber kaum am Erwerb neuen Wissens durch Forschung interessiert sind, sondern eher überliefertes Wissen weitergeben. Von einer allgemeinen Bildung des gesamten Volkes kann noch immer keine Rede sein. Der Anschub dazu geht erst von der Reformation aus, die von den Gläubigen die selbständige Lektüre der Bibel verlangt, die 1545 durch Luthers Übersetzung der Bibel in die deutsche Volkssprache erst möglich wurde. Die protestantischen Fürsten forcieren aus religiösen, aber auch politischen Gründen die damit verbundene Bildungsambition und legen im 16. Jahrhundert den Grundstein für schulische Eliteanstalten wie etwa die Fürstenschulen von Meißen, Grimma oder Schulpforta in Sachsen, diktieren aber auch die ersten Schulordnungen für die Bildung des Volkes (vgl. LUNDGREEN 1980). Im Katholizismus entstehen im Zuge der Gegenreformation im 16. und 17. Jahrhundert mit den Jesuitenschulen ebenfalls pädagogische Neuerungen, die den neuen Ansprüchen gerecht zu werden versuchen.

Schulen als öffentliche Angelegenheit

Gleichwohl bleiben das schulische Lernen und die Beherrschung der Kulturtechniken für alle zunächst noch ein leeres Versprechen, da der Wissenserwerb in der Realität weitgehend immer noch das Privileg einer schmalen gesellschaftlichen Gruppe ist. Erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte sich ein folgenschwerer Einschnitt in der Bildungsgeschichte, der zur Folge hatte, dass fast die gesamte Bevölkerung in langwierigen schulischen Alphabetisierungsprozessen lesen und schreiben lernte. Dabei gab es in den verschiedenen Ländern, aus denen sich Deutschland zusammensetzte, durchaus unterschiedliche Entwicklungsprozesse, die zu den sehr verschiedenen Gestaltungen von Schule in den einzelnen Ländern beitrugen. Meist wird sich in der pädagogischen Geschichtsschreibung zwar auf die gut dokumentierte preußische Schulgeschichte beschränkt, aber auch in den anderen Ländern wurde die Schulentwicklung mit andersartigen Formen und Ergebnissen vorangetrieben. Gemein ist dabei allen, dass erst vor etwa 200 Jahren sich das schulische Lernen von ständischen Privilegien so ablöste, dass es zu einer öffentlichen, allen zugänglichen und zugleich verpflichtenden Aufgabe wurde. Für diese Errungenschaft sind mehrere Ursachen verantwortlich:

 Auf der politischen Ebene verlangt der moderne Nationalstaat die Loyalität der Bürger, die nicht mehr durch Gewalt erzwungen, sondern durch Bildung hergestellt werden soll,

 auf der ökonomischen Ebene erfordert der beginnende Kapitalismus eine über das bisherige Maß weit hinausgehende Qualifizierung und

 auf der kulturellen Ebene wird den Menschen eine säkularisierte Lebenshaltung abverlangt, die einen radikalen und schmerzhaften Bruch mit den eingelebten Traditionen voraussetzt.

Schule soll die Menschen durch allgemeine Bildung auf das Leben in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit so vorbereiten, dass sich die Individuen vernünftig selbst bestimmen und durch ihre eigene Perfektionierung zur allgemeinen Verbesserung der Welt beitragen können.

Große Gedanken, verhaltene Praxis

Auch wenn mit den großen Plänen der Verbesserung der öffentlichen Bildung um das Jahr 1800, das eine Epochenschwelle darstellt (s. Kapitel 3 und 4), die entscheidenden Weichen gestellt worden sind, um ein allgemein bildendes Schulwesen für alle aufzubauen, ist nicht zu übersehen, dass die hochfliegenden Pläne der pädagogischen Reformer zu Beginn des 19. Jahrhunderts – den Menschen zu wahrer Menschlichkeit zu bilden – in den Folgejahren kaum der Realität in den Schulen entsprach (vgl. PETRAT 1979). Dennoch kann von einer Bildungsrevolution gesprochen werden, da das Schulwesen zu einer öffentlichen, meist staatlichen Angelegenheit wurde, die im Prinzip allen offen stand – ein Vorgang, der in der Vorgeschichte ohnegleichen ist. Die Abschlussprüfungen werden etwa durch die Einführung des Abiturs 1788 und 1812 als Voraussetzung des Zugangs zur Universität in Preußen vereinheitlicht und staatlich reglementiert, der Beruf des Lehrers wird vom Pfarramt abgetrennt und selbst für den Unterricht in Elementarschulen gibt es eine eigene Lehrerausbildung. Das elterliche Erziehungsmonopol wird durch die Unterrichtspflicht und ab der Weimarer Republik (1919–1933) sogar durch die Schulpflicht soweit gebrochen, dass Kindern prinzipiell andere Wege des gesellschaftlichen Aufstiegs eröffnet werden als die durch die familiäre Erziehung vorgegebenen. Das Schulwesen entwickelt dazu verschiedene Schularten und Prüfungen. Die Vergabe von Zertifikaten wird schulintern durchgeführt und mit einer nicht mehr nur am sozialen Status, sondern auch an der individuellen Leistungsfähigkeit orientierten Ordnung des gesellschaftlichen Aufstiegs verbunden (vgl. DIEDERICH/TENORTH 1997, S. 45ff.). Pointiert gesagt beginnt die Schule erst mit der Epochenschwelle um 1800 an Fahrt zu gewinnen.

Das lange 19. Jahrhundert

Allerdings ist dies auch eine Fahrt mit Hindernissen, denn trotz der einmal in Gang gesetzten Dynamik des Schulwesens, unterliegt es auch der politischen Kontrolle und erleidet im gesellschaftlichen Widerstreit Rückschläge, die es zwar nicht aus der Bahn bringen, die aber immer wieder zu Verzögerungen in seiner Entwicklung führen. Gewissermaßen ist das gesamte lange 19. Jahrhundert eine Phase der Verzögerung des Aufbaus des Schulwesens. Denn in dieser Zeit gibt es zwei von einander getrennte Schulsysteme: das höhere und das niedere Schulwesen.

Niederes und höheres Schulwesen

Beide haben eine unterschiedliche Klientel, unterschiedlich ausgebildete Lehrer, unterschiedliche Formen des Unterrichts, unterschiedliche Lernziele, unterschiedliche Verwaltungsapparate und vergeben unterschiedliche Berechtigungen. Im niederen Schulwesen dauert die Volksschule, mit der nach der Reichsgründung 1870 die Beschulung des gemeinen Volkes durchgesetzt ist, je nach Land zwischen sechs und acht Jahren, vermittelt die Kulturtechniken des Schreibens, Lesens und des einfachen Rechnens, dient hauptsächlich der nationalstaatlichen Gesinnungsbildung durch Religion und Geschichte, endet aber ohne eine Berechtigung, sich schulisch weiterzubilden. Das höhere Schulwesen wird von den Sprösslingen des Bildungs- und Besitzbürgertums besucht, die etwa 8% eines Altersjahrgangs ausmachen. In diesen privilegierten Anstalten werden weitgehend leistungsunabhängig die Vorrechte vererbt wie etwa das Einjährig-Freiwilligen-Zeugnis, mit dem ein verkürzter Militärdienst ermöglicht wird; zudem bieten sie mit dem Reifezeugnis den Weg in die Hochschulen und in die akademischen Berufe. Das höhere Schulwesen konserviert damit die enge Verzahnung von Schule und sozialer Struktur, welche die Klassentrennung in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zementiert. Die unterschiedlichen Bildungsmöglichkeiten der verschiedenen Klassen geben so weiterhin überwiegend die Lebensläufe vor. Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs durch schulische Bildung sind durch die strikte Trennung in niederes und höheres Schulwesen kaum vorgesehen, obwohl dies der Dynamik moderner Gesellschaften entgegensteht. Während in den Volksschulen die Mehrheit der Bevölkerung indoktriniert wird, dient das humanistische Gymnasium als Anstalt elitärer Bildung und Kaderschmiede der aufstrebenden (bildungs-) bürgerlichen Eliten. Neben der sozialen Differenz gilt bis 1908 auch die geschlechtsspezifische Differenz, da Mädchen zwar die Volksschulen besuchen müssen, jedoch von der höheren Bildung und damit auch vom Studium ausgeschlossen bleiben.

Von der Weimarer Republik ...

Erst 1918, nach dem ersten Weltkrieg und mit dem Ende der Monarchie, endet diese erste Phase. Die zweite Phase beginnt mit der Weimarer Reichsverfassung, die am 11. August 1919 verabschiedet wurde. Mit ihr wird der erneute Versuch gestartet, den Klassencharakter des Schulwesens so abzuschaffen, dass tatsächlich von einer demokratischen Schule in einer Demokratie gesprochen werden kann, die nicht mehr nach ständischen, sondern nach pädagogischen Kriterien gestaltet wird. Freilich ist auch der Weimarer Schulkompromiss aus dem Jahr 1919/1920 Ausdruck der politischen Machtverhältnisse, so dass nach zähen Auseinandersetzungen nur ein Minimalkonsens gefunden werden konnte, der gleichwohl als schulisches Pendant zu den demokratischen Grundrechten verstanden werden kann (vgl. ZYMEK 1989). So wird statt der bisher geltenden Unterrichtspflicht die Schulpflicht verwirklicht. Die Vorschulen der Gymnasien werden abgeschafft, so dass alle Kinder eines Wohnbezirks für vier Jahre gemeinsam die neu gegründete Grundschule besuchen. Eine längere gemeinsame Schulzeit war politisch nicht durchzusetzen, so dass mit dem vierten Schuljahr das gemeinschaftliche Lernen endet und die Schularten mit unterschiedlichen Lehrplänen und unterschiedlichen Abschlüssen weitgehend getrennt blieben. Ebenso blieben die Ausbildungsgänge der Lehrer an den Volksschulen, die jetzt allerdings zu einer Abiturientenkarriere wurden, und den höheren Schulen weiterhin unterschiedlich.

... bis zur Gegenwart

Trotz aller sozialegalitären Symbolik des Nationalsozialismus wurde ab 1933 diese schon angelegte, aber durch ein weit verzweigtes Privatschulsystem aufgelockerte, rigide Trennung der Schulformen nicht nur übernommen, sondern zum alternativlosen Modell der Schulung der Volksgemeinschaft gemacht. Dieses mit staatlicher Willkür durchgesetzte Modell hat das Ende des Nationalsozialismus nach 1945 trotz aller Demokratisierungsbemühungen durch die Alliierten überlebt (vgl. DEPARTMENT OF STATE 1946). Denn während sich die Lehrerausbildungsgänge heute auf universitärem Niveau angeglichen haben, mit Ausnahme des Bundeslandes Baden-Württemberg, in dem weiterhin die Lehrer der Grund-, Haupt- und Realschulen an Pädagogischen Hochschulen und die Gymnasiallehrer an den Universitäten ausgebildet werden, bestätigt und erzeugt das dreigliedrige Schulsystem bis heute eine hierarchische Ordnung zwischen den unterschiedlichen Schularten (vgl. MUÑOZ 2007). Erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde mit dem Versuch, in der Bundesrepublik Deutschland flächendeckend Gesamtschulen einzuführen, auf die Überlegungen der Schulrefomer um 1800 über eine gemeinsame einheitliche Schule zurückgegriffen (vgl. OELKERS 2006). Während jedoch in der BRD Gesamtschulen lediglich als vierte Säule des dreigliedrigen Schulsystems ausgebaut und in die vorhandene Struktur integriert wurden, hatte die Deutsche Demokratische Republik auf ihrem Staatsgebiet zu dieser Zeit schon die Einheitsschule verwirklicht, was dieses Schulmodell ideologisch entschlackt zum Vorbild der skandinavischen Schulreformen der 60er Jahre machte. Die zunächst acht-, dann zehnjährige allgemeinbildende polytechnische Oberschule hatte teilweise auch andere Fächer wie etwa Polytechnik und Russisch. Die ideologische Ausrichtung des Schulwesens in der DDR konterkarierte aber letztlich auch hier das prinzipiell fortschrittliche schulische Strukturmuster, da der Zugang zur studienvorbereitenden erweiterten Oberschule streng reglementiert und die Zugangschancen ungleich verteilt waren.

Zur gegenwärtigen Struktur des Bildungswesens sei auf die Übersicht der Kultusministerkonferenz verwiesen (vgl. KMK 2006).

Bildungsexpansion

Das Grundmodell des gegliederten, allgemeinbildenden Schulwesens blieb also im Westen Deutschlands trotz des Ausbaus durch Gesamtschulen einigermaßen stabil, jedoch ging innerhalb dieses Rahmens in den letzten 50 Jahren eine erstaunliche Dynamik vonstatten. So ist die Hauptschule nicht mehr die Volksschule. Denn während 1950 noch über 80% eines Altersjahrgangs nach der gemeinsamen Grundschulzeit die Volksschuloberstufe, die spätere Hauptschule, besuchten, sind es heute durchschnittlich nicht einmal mehr 30%. Weiterführende Schulen wie Gymnasien (35–50%) und Realschulen (20–25%) werden dagegen von der Mehrheit der Schüler und Schülerinnen besucht (s. Kapitel 13). Die Hauptschule wird von Lehrern, Eltern und Schülern realistischerweise als aussichtslose Restschule betrachtet. Diese Veränderung der Schülerzahlen an weiterführenden Schulen hat auch die schwerwiegendsten Unterschiede der Bildungsbeteiligung zumindest abgeschwächt, wenn auch nicht zum Verschwinden gebracht. Die pädagogische Symbolfigur des katholischen Arbeitmädchens vom Land, die in den 60er Jahren die traditionellen Bildungsdefizite kennzeichnete, hat an Sinngehalt verloren. Das katholische Bildungsdefizit ist ebenso verschwunden wie der Bildungsrückstand von Mädchen, die heute öfter das Abitur erwerben als gleichaltrige Jungen. Die regionalen Unterschiede der Bildungsbeteiligung sind zwar abhängig vom jeweiligen Schulangebot, das von Bundesland zu Bundesland variiert, aber bei weitem nicht mehr so gravierend wie in den 50er Jahren. Selbst bei der Gleichheit der Bildungschancen von Kindern mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund hat sich die Verteilung auf Schularten zumindest insofern verbessert, als heute ein Arbeiterkind bei gleicher Intelligenz zwar immer noch eine vielfach geringere Chance hat, ein Gymnasium zu besuchen als ein Kind aus der Mittel- und Oberschicht, aber im Vergleich zu den Gründerjahren der Bundesrepublik Deutschland, in denen allenfalls eines von hundert Arbeiterkindern die Reifeprüfung ablegte, ist auch hier ein – wenn auch geringer – Fortschritt zu verzeichnen. Die soziale Herkunft bestimmt also nach wie vor die schulischen Chancen und damit den späteren Lebensweg, aber nicht mehr in dem Ausmaß, wie vor der Bildungsexpansion der 60er und 70er Jahre. Gleichwohl kann immer noch nicht von Chancengleichheit gesprochen werden, da die Problemlagen dann kumulieren, wenn zur sozialen Herkunft etwa hinzukommt, dass besonders (männliche) Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund unter der sozialen Selektivität der Schule zu leiden haben.

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