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B Theorien und Vorstellungen von Schule

3 Ein eigener pädagogischer Kosmos – Stationen pädagogischer Vorstellungskraft

3.1 Die Geburt der modernen Schule aus dem Geist visionärer Reform – Johann Amos Comenius

Wie wir im zweiten Kapitel gesehen haben, war die Schule, wie wir sie kennen, bis vor zweihundert Jahren nahezu unbekannt und allenfalls auf die gesellschaftliche Elite beschränkt. Machen wir uns zudem klar, dass Erziehung und Schule bis zum 18. Jahrhundert kaum als eigene Lebensbereiche angesehen wurden, so ist es mehr als verständlich, warum das 18. Jahrhundert zu dem Pädagogischen Jahrhundert überhaupt wurde. Dass die Schule zu einem entscheidenden Element moderner Gesellschaften wurde, liegt dabei an den sozialen, ökonomischen und kulturellen Veränderungen, die eine lange Inkubationszeit hatten und in der amerikanischen und französischen Revolution des 18. Jahrhunderts kulminierten. Allerdings gab es geistige Vorläufer, die sich der zunehmenden Bedeutung einer allgemeinen Schule bewusst geworden waren. Johann Amos Comenius (1592–1670) war einer dieser ersten Theoretiker, die schulische Erziehung als ein sinnvolles und notwendiges Unterfangen in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit rückten. Er war beseelt davon, seine ihm labyrinthisch gewordene und aus den Fugen geratene Welt wieder in eine gottgewollte Ordnung zu bringen – eine Welt, in der er als Bischof der böhmischen Herrenhuter Brüderunität im 30-jährigen Krieg durch halb Europa flüchtete und in der seine Frau und seine Kinder an der Pest starben. Das vorzügliche Mittel, die Welt von Grund auf neu zu ordnen, ist ihm die schulische Erziehung. Diese soll dazu dienen, dass allen Menschen (omnes) alles (omnia) gelehrt werde. Ob reich, ob arm, Mann oder Frau, allen Menschen sollte in einem erneuerten Schulwesen alles so wohl geordnet, wie es aus der Hand des Schöpfers kam, zugänglich gemacht werden. Die von ihm vorgeschlagene vierstufige Schulorganisation von der Mutterschule über die Muttersprachschule zur Lateinschule und schließlich zur Universität, deren Dauer er jeweils auf sechs Jahre veranschlagte, sollte allen Menschen alles Nützliche beibringen, das sie für ihr Leben brauchen. Diese vier Stufen wurden von ihm in seinem Buch „Pampaedia – Allerziehung“ zu einem Programm für ein Einheitsschulwesen verbunden (vgl. COMENIUS 1991). Der Fluchtpunkt seines Denkens war dabei jedoch nicht der Mensch mit seinen Bedürfnissen, sondern Gott, dessen Ordnung der Welt durch Menschenhand verstört war, aber durch vernünftige Gestaltung der Welt restituiert werden kann. Deswegen ist das – die Prinzipien omnes und omnia umfassende – omnino im Ganzen oder allumfassend, der krönende Schlussstein seiner Pädagogik, denn nur in Rücksicht auf das Ganze kann Allen Alles gründlich gelehrt werden (vgl. SCHALLER 1990; 2000).

Omnes, Omnia, Omnino

Der ebenso großartige, wie vermessene Beginn neuzeitlicher Pädagogik kommt wohl kaum deutlicher zum Ausdruck als im Titelkupfer der von Comenius verfassten Grossen Didaktik, die auf Deutsch zuerst 1657 erschien.

„DIE VOLLSTÄNDIGE KUNST, ALLE MENSCHEN ALLES ZU LEHREN

oder

Sichere und vorzügliche Art und Weise, in allen Gemeinden, Städten und Dörfern eines jeden christlichen Landes Schulen zu errichten, in denen die gesamte Jugend beiderlei Geschlechts ohne jede Ausnahme

RASCH, ANGENEHM UND GRÜNDLICH

In den Wissenschaften gebildet, zu guten Sitten geführt, mit Frömmigkeit erfüllt und auf diese Weise in den Jugendjahren zu allem, was für dieses und das künftige Leben nötig ist, angeleitet werden kann;

ERSTES UND LETZTES ZIEL UNSERER DIDAKTIK SOLL ES SEIN,

die Unterrichtsweise aufzuspüren und zu erkunden, bei welcher die Lehrer weniger zu lehren brauchen, die Schüler dennoch mehr lernen; in den Schulen weniger Lärm, Überdruß, und unnütze Mühe herrsche, dafür mehr Freiheit, Vergnügen und wahrhafter Fortschritt; in der Christenheit weniger Finsternis, Verwirrung und Streit, dafür mehr Licht, Ordnung, Friede und Ruhe.“ (COMENIUS 1954, S. 9)

Der für seine Zeit revolutionäre Anspruch, allen alles gründlich zu lehren, bedeutete auch eine Umwälzung in der Methode des Lehrens. Während der Unterrichtsgang vor Comenius von einzelnen Elementen ausging, die logisch aufeinander folgten und am Ende den Zusammenhang preisgeben sollten, bedeutete Unterricht für Comenius nun, dass Alles im Zusammenhang schon von dem kleinsten Kind im Vorschulalter gemäß seiner individuellen Fassungskraft gelernt werden soll und sich nur der Schwierigkeitsgrad mit zunehmenden Alter erhöht (vgl. BLANKERTZ 1982, S. 35). Die erste Sache des Lernens ist daher für Comenius die sinnliche Welt, „denn weil mit dem Intellekt nichts erkannt wird, was nicht vorher mit den Sinnen aufgefaßt worden wäre, bekommt der Verstand den Stoff zu allen seinen Gedanken nur von den Sinnen“ (COMENIUS 1954, S. 83). Die Sinnenwelt bliebe aber unbegreifliche, diffuse Vielfalt, wie sie es für einen Säugling ist, wenn sie nicht so geordnet wäre, dass sich der Intellekt an ihr bilden könnte. Nur als ein Ensemble von Ursache und Wirkung, Einheit und Vielfalt, Gattungen und Arten, Teilen und Ganzem läßt sie sich begreifen.

Alles auf einmal entwicklungsgemäß lernen

All dies kommt der sinnlichen Welt zeitgleich zu, begriffen werden kann es jedoch nur nach und nach. Für Comenius kommt es daher in seiner Didaktik darauf an, die Komplexität der Sinnenwelt in einer zeitlichen Reihenfolge so auseinanderzulegen, dass der Intellekt in seiner Entwicklung die Vielfalt der Sinnenwelt immer klarer sehen kann, ohne davon verwirrt zu werden. Durch diese methodische Vorgehensweise wurde auch erst der Gedanke möglich, große Gruppen von Kindern gemeinsam im Klassenunterricht beschulen zu können, da die Schüler gemeinsam mit dem Lehrer gleichzeitig eine Gedankenbewegung vollziehen und gemeinsam in der Sacherkenntnis vorankommen. Das ist der Grundgedanke des heute in Verruf geratenen Frontalunterrichts, der als pädagogisch ausgezeichnetes Mittel seinen Anfang nahm, aber im Sinne von Comenius nur dann gelingen kann, wenn die lernenden Individuen in ihrer eigenen subjektiven Entwicklung begriffen und sich selbst zwanglos zum Zweck werden. Die große Vision des Comenius, dass alles menschliche Wissen methodisch so geordnet dargestellt werden kann, dass sich jeder dieses ohne große Mühe aneignen kann, blieb Programm, da das zentrierende Ganze des Omnino, auf das sich alle und alles hinordnen ließ, schon für die Zeitgenossen von Comenius an verbindlicher Kraft verlor. Wahrgenommen wurde er daher nicht als ein Mensch, der versuchte, aus der wunderlichen Mischung von diesseitigem Realismus, theologischer Sinnsuche und Heilserwartung die Vision einer versöhnten Welt didaktisch herbeizuzwingen, sondern als rühmenswerter Sprachlehrer, großer Didaktiker und Verfasser von Kinderlehrbüchern wie dem 1658 in Nürnberg erschienenen „Orbis sensualium pictus“, der gemalten Welt.

Methode als Königsweg der Schule?

Im Überschwang seiner pädagogischen und didaktischen Neuerungen glaubte Comenius optimistisch, den Königsweg gefunden zu haben, wonach die richtige Darstellungsweise der Lerninhalte den Lernerfolg von selbst hervorbringt, um alles durch die Dinge zu lehren.

„Wie ein sachverständiger Schreiber auf eine leere Tafel schreiben oder ein Maler darauf malen kann, was er will, so kann der, welcher die Kunst des Lehrens beherrscht, mit Leichtigkeit dem menschlichen Geist alles einprägen. Gelingt das nicht, so ist es nur zu gewiß, daß nicht die Tafel schuld ist, die allenfalls etwas rauh sein mag, sondern allein die Unfähigkeit des Schreibers oder Malers.“ (COMENIUS 1954, S. 39)

Mit dieser ungeheuren Prätention überschreitet Comenius aber auch die Grenzen jeglicher Pädagogik, denn es ist durch die Methode keineswegs verbürgt, dass der Lernende die geistigen Schritte des Lehrers nachvollzieht, die „leere Tafel“ hat ein Eigenleben, das jeden Lernprozess auch methodisch zu etwas Unerzwingbaren macht (vgl. GRUSCHKA 2002). Sobald aber die von Comenius gedachte Verbindung zwischen Rationalisierung der Pädagogik und Versöhnungsgedanken zerrissen ist, wird die Pädagogik zu einem bloßen mechanischen Uhrwerk. Das abgespulte Lehren kann dann durchaus effizient sein, wenn große Schülermengen beschult werden müssen, so wie es Bell und Lancaster in England in der Nachfolge von Comenius für den Massenunterricht bei der Alphabetisierung der niederen Volksgruppen durchführten (vgl. ALTLT 1965f.). Ohne den Comenianischen Versöhnungsgedanken aber wird diese Form des Unterrichts zu einer erbarmungslosen pädagogischen Maschine, in der alle Räder ineinander greifen müssen, um den reibungslosen Fortgang des Unterrichts zu sichern, ohne dass das einzelne Individuum dabei zu Selbstbewusstsein zu kommen braucht (vgl. DRESSEN 1982).

Einführung in die Theorie der Schule

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