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3.2 Jean-Jacques Rousseau oder die Erfindung des Kindes

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Ein Paukenschlag der pädagogischen Epoche

Während für Comenius der Zweck der Erziehung – und damit auch der Schule – in der Wiederherstellung der Ordnung Gottes lag, vor dem alle gleich sind, beginnt etwa hundert Jahre später mit dem Erziehungsroman Émile von Jean Jacques Rousseau (1712–1778) eine neue Epoche, in der alle vor dem Gesetz gleich sein sollen. Rousseau war der erste pädagogische Autor, der nach dem eigenen Ziel der Erziehung fragte und Erziehung nicht als Mittel für vor- und außerpädagogische Ziele verstand. Er vollzieht den radikalen Perspektivenwechsel von der Beeinflussung der Kinder und Jugendlichen durch die Erwachsenenwelt, die diese nach ihrem Bild formen will, hin zu einer Konzeption der Erziehung, die das Recht des Kindes und Jugendlichen auf eine ihnen gemäße Entwicklung betonte und auf Selbständigkeit, Urteilsfähigkeit und Autonomie der Zöglinge pocht. Die Frage, die sich Rousseau zur Beantwortung vorlegt, lautet daher: Wie ist eine Erziehung, die zum Besseren führen soll, unter den gesellschaftlichen Verhältnissen der korrumpierten Monarchie des Ancien Régime überhaupt denkbar? Mit einem Paukenschlag gegen die herkömmlichen Erziehungspraktiken lässt Rousseau, der seine Bücher stolz mit „Jean Jacques Rousseau, Citoyen de Genève“ unterzeichnet, seinen Émile beginnen:

„Tout est bien sortant des mains de l’Auteur des choses, tout dégénère entre les mains de l’homme. Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers der Dinge hervorgeht; alles entartet unter den Händen des Menschen.“ (Rousseau 1958, S. 11)

Émile: ein radikales Gedankenexperiment

Rousseaus Émile kann als ein radikales Gedankenexperiment in Sachen Erziehung verstanden werden. Seine Prämisse lautet: wenn alles unter den Händen des Menschen verdirbt, hat der Mensch auch die Möglichkeit, das Leben zum Besseren zu wenden, wenn er bestimmte pädagogische Prinzipien beherzigt.

Da die aufgeklärte bürgerliche Pädagogik des 18. Jahrhunderts meistenteils im Status einer Berufs- und Standeserziehung verblieb, sich auf diese Weise mit der politischen Fremdbestimmung arrangierte und nicht der republikanischen Erziehung eines politischen Bürgers diente, suchte Rousseau die bürgerliche Erziehung zur allgemeinen Menschenerziehung zu adeln.

„In der natürlichen Ordnung sind die Menschen alle einander gleich. Ihr gemeinsamer Beruf ist: Mensch zu sein. Wer auch immer für diesen Beruf erzogen ist, der wird auch jeden andern, der damit in Beziehung steht, gut ausfüllen.“ (ebd., S. 17)

Deswegen kann für Rousseau das Kind auch nicht als ein kleiner, unvollkommener Erwachsener gelten, sondern es wird für ihn zu einem Wesen, das vor der Erwachsenenwelt geschützt werden muss und mit einem eigenen Recht auf die Zeit der Kindheit ausgestattet ist.

„Was soll man also von jener barbarischen Erziehung halten, die die Gegenwart einer ungewissen Zukunft opfert, die also das Kind mit allerlei Fesseln belastet und von vornherein unglücklich macht, um es auf irgend ein weit in der Ferne liegendes Glück vorzubereiten, das es vielleicht nie erreicht?“ (ebd., S. 61)

Studium der Kinder

Da in der bisherigen Erziehung nur im Blick war, welches Wissen einem Erwachsenen nutzt und nicht, „was Kinder davon zu lernen imstande sind“, ist es eine der obersten Aufgaben der Erzieher, die Kinder zu beobachten und zu studieren, um zu lernen, wie zu erziehen sei. „Fanget also damit an, eure Schüler besser zu studieren, denn das ist ganz sicher: ihr kennt sie nicht“ (ebd., S. 8).

„Zeit verlieren“ – negative Erziehung

Seine Beobachtungen führen Rousseau dazu, für eine negative Erziehung zu plädieren, die darauf gerichtet ist, „zu verhindern, daß etwas geschieht“ (ebd., S. 16). Verhindern, dass etwas geschieht, bedeutet vor allem, von der Absicht Abstand zu nehmen, durch Erziehung könnte man den gewünschten Menschen in der gewünschten Zeit fabrizieren. Die oberste und wichtigste Regel ist daher für Rousseau nicht, Zeit zu gewinnen, sondern Zeit zu verlieren.

„Betrachtet jede Verzögerung als einen Vorteil, denn man gewinnt viel, wenn man sich dem Ziel nähert, ohne vom rechten Wege abzukommen. Laß die Kindheit im Kinde reifen! Und welche Belehrung es auch immer nötig hat, hütet euch, sie heute zu geben, wenn ihr sie ohne Gefahr bis morgen verschieben könnt.“ (ebd., S. 81)

Die Kunst des Erziehers sei es dabei, zu verhindern, dass die drei „Lehrmeister“ des Menschen, die Natur, die Dinge und die Menschen in Widerspruch zueinander geraten. Solange die Vernunft Émiles noch nicht ausgeprägt ist, lässt der Erzieher die stumme Autorität der Dinge sprechen und spricht selbst nur, um Émile an die Sachen heranzuführen.

„Erteilt eurem Zögling keinerlei verbale Lehren, er muß solche nur von der Erfahrung empfangen.“ (ebd., S. 86)

Die Inszenierung negativer Erziehung

Die negative Erziehung Rousseaus ist allerdings eher eine indirekte, denn der Erzieher greift sehr wohl in den Erziehungsprozess ein und verlässt sich nicht darauf, die Natur und Dinge machen zu lassen, was sie „wollen“. Die Mittel der negativen Erziehung sind so gestaltet, dass Kompetenzen nicht begrifflich gelehrt werden sollen, sondern die Kinder die Folgen ihres Handelns am eigenen Leib spüren. Die didaktischen Mittel des Erziehers Jean Jacques finden sich unter vielen anderen mehr in einem Beispiel verdichtet, das Rousseau gibt, um zu zeigen, wie der Erzieher Jean Jacques seinem Zögling Émile den Begriff des Eigentums nahebringt. Émile hat mit seinem Erzieher im Garten mit großem Eifer Bohnen angepflanzt und freut sich am Wachstum seiner Pflanzen. Eines Tages kommen die beiden mit der Gießkanne zum Beet und müssen feststellen, dass alle Bohnen herausgerissen sind und das Beet verwüstet daliegt. Émile weint bittere Tränen darüber und „erfüllt die Luft mit Seufzen und Wehklagen“. Es stellt sich heraus, dass der Gärtner Robert auf insgeheime Anweisung des Erziehers die neuen Pflanzungen herausgerissen hat. Deswegen zur Rede gestellt reklamiert der Gärtner ein älteres Anrecht auf das Beet, da er es vorher urbar gemacht hatte. Émile wurde durch diese pädagogische Inszenierung eines Lernprozesses getäuscht, ohne jedoch dessen Infamie begreifen zu können.

„An dieser Probe über die Art und Weise, den Kindern die ersten Begriffe zu vermitteln, sieht man, wie sich der Begriff des Eigentums natürlicherweise auf das Recht der ersten Inbesitznahme durch Arbeit zurückführt. Das ist klar, deutlich, einfach und dem Fassungsvermögen des Kindes angepaßt.“ (ebd. S. 88)

Selon son âge

Der Gedanke, dass das Lernen dem Fassungsvermögen und Alter der Kinder angepasst sein muss, ist der Kerngedanke des Erziehungskonzepts von Rousseau. Er unterteilt dazu die Kindheit und das Jugendalter in vier Phasen: die Kindheit (von der Geburt bis zum dritten Lebensjahr), das Knabenalter (bis zum zwölften Lebensjahr), die Vorpubertät (bis 15) und das Jünglingsalter (bis zum zwanzigsten Lebensjahr). Alle Phasen enthalten die körperliche, emotionale, soziale und kognitive Entwicklung des Kindes. Rousseau vertritt in allen Phasen der Erziehung ein gleichsam homöostatisches Prinzip. Ein Wesen, dessen Kräfte nicht ausreichen, um seine Bedürfnisse zu erfüllen, ist schwach. In der ersten Phase des Kleinkindalters ist das Kind deswegen auf die Unterstützung der Erwachsenen angewiesen und kann ohne deren Hilfe nicht überleben. Da es aber stark und selbständig werden soll, darf die Hilfe der Erwachsenen sich lediglich auf die Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse beschränken. Wenn ihm zuviel abgenommen wird, vergrößert sich seine Schwäche, da es seine eigenen Kräfte nicht zu entfalten braucht, obwohl es sie seinen Möglichkeiten nach schon nutzen kann.

Grenzen der Welt und grenzenlose Phantasie

In der zweiten Phase, an der „Grenzscheide“ zum Knabenalter, ist es daher vor allem die Phantasie, die vom Erzieher eingeschränkt werden muss, damit der Kräftehaushalt gewahrt bleibt.

„Die wirkliche Welt hat ihre Grenzen, die Welt der Einbildung ist grenzenlos. Da wir die eine nicht erweitern können, laßt uns die andere einschränken; denn der Abstand der beiden voneinander ruft die Leiden hervor, die uns wirklich unglücklich machen.“ (ebd., S. 64)

In der dritten Phase, Émile ist jetzt etwa zwölf Jahre alt, übersteigen die körperlichen Kräfte des Kindes seine Bedürfnisse und Vorstellungen, „es entwickeln sich die Kräfte des Kindes viel schneller als seine Bedürfnisse“ (ebd., S. 171). Damit beginnt für Émile die Zeit des Unterrichts und der Studien, da er im relativen Überschuss seiner Kräfte und Fähigkeiten vieles leichter erwirbt als im späteren Alter.

„Das starke Kind trage Vorsorge für den schwachen Mann; aber es soll seinen Vorrat nicht aufstapeln in Koffern, die man ihm stehlen kann, noch in Speichern, die ihm nicht gehören, sondern sich das Erworbene wahrhaft zu eigen machen in seinen Armen und im Kopf, also in sich selbst.“ (ebd., S. 172)

Soziale Geburt

In die vierte Phase, die Reifezeit, fällt die zweite Geburt Émiles, da die Menschen „sozusagen zweimal geboren werden, einmal, um zu existieren, das zweite Mal, um zu leben“ (ebd., S. 229). Émile gerät in einen pubertären Wirbel der Gefühle, in dem ihm Jean Jacques als Freund beisteht und ihm hilft, von einem „natürlichen“ zu einem sozialen Wesen zu werden. Um dem Verlust des Gleichgewichts, der nun dabei nicht mehr von außen durch die verkommene Welt droht, sondern durch die pubertäre Gefühlslage von innen andrängt, entgegenzuwirken, wechselt der Erzieher das methodische Register und leitet die „natürliche“ Erziehung über in eine soziale.

Der „natürliche“ Mensch in der Gesellschaft

Da Émile ja nicht zu einem „homme sauvage“, einem wilden Menschen erzogen, sondern zu einem sozialen Wesen kultiviert werden soll, bleibt die „natürliche“ Erziehung Émiles in allen Phasen durch und durch pädagogisch inszeniert und kunstvoll arrangiert, so dass er trotz aller Beteuerungen von Autonomie und Selbständigkeit eher wie eine Marionette im pädagogischen Theater seines Erziehers Jean Jacques wirkt.

Ausstrahlung Rousseaus

Die Idee, über die natürliche Entwicklung, das Wachsenlassen des Kindes jenseits des sozialen und politischen Zusammenhangs einen politischen und solidarischen Bürger zu erziehen, zeitigt bis in unsere Gegenwart hinein Folgen. Rousseaus eigene Überprüfung der Folgen der Erziehung Émiles „Émile et Sophie, ou les Solitaires“ ist Fragment geblieben. Er setzt ihn darin den härtesten Bewährungsproben aus – vom Verlust der geliebten Frau bis hin zu Sklaverei in Algerien –, denen er sich dank seiner natürlichen Erziehung gewachsen zeigt und gelernt hat sich allen widrigen Situationen anzupassen. Eine Ideologie der Menschenbildung, die allerdings diese widrigen Situationen ausblendet und den politischen Kontext Rousseaus nicht bedenkt, tendiert dazu, ein allzu romantisches Bild des Émile zu zeichnen. Die Ideen Rousseaus über die Kindererziehung legten gleichwohl den Grundstein für eine veränderte Auffassung der Kinder und ihrer Entwicklung, die bis heute ausstrahlt. Seine unmittelbaren Zeitgenossen sogen seine Ideen begierig auf und versuchten, diese in praktisches pädagogisches Handeln umzumünzen. Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) bezieht sich in seinen Lehranstalten in Stans, in Burgdorf und in Yverdon ebenso auf die neue Erziehungslehre Rousseaus wie die Philanthropen im feudalen Deutschland. Diese aufgeklärten Pädagogen wie Johann Bernhard Basedow (1724–1790), Friedrich Eberhard von Rochow (1734–1805), Christian Gotthilf Salzmann (1744–1811) und Joachim Heinrich Campe (1746–1818) nannten sich Menschenfreunde und propagierten am Ende des 18. Jahrhunderts eine Abkehr von der bloßen Buchschule, indem sie versuchten, das Gedankenexperiment Rousseaus in die Tat umzusetzen, ohne allerdings weder die gesellschaftskritische Radikalität des Experiments sehen zu können, noch die von Rousseau beschriebenen Schwierigkeiten einer republikanischen Erziehung wahrhaben zu wollen. Auch wenn sein Konzept der negativen Erziehung außerinstitutionell argumentiert, kann es ex negativo zumindest deutlich machen, dass schulische Reformbemühungen für eine allgemeine Bildung nur dann „funktionieren“, wenn sowohl der Mensch als auch der politische Bürger in allen schulischen Bemühungen um die Émiles dieser Welt beachtet und nicht auseinandergerissen werden. Es brauchte allerdings wohl erst Immanuel Kant, um die Ideen Rousseaus zu denken (STAROBINSKI 1988, S. 173).

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