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1.2 Typisch Schule!?

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Diese und andere Szenen über Mediationsgespräche mit Schülern, Elterngespräche, Gespräche über den Schulwechsel der älteren Schüler und Schülerinnen, Schulausflüge und ein Gespräch mit Monsieur Lopez selbst hat der Regisseur Nicolas Philibert in seinem Film über Das Sein und das Haben wohlkomponiert ins Bild gesetzt. Die Szenen werden den meisten Menschen wohl unheimlich vertraut anmuten. Die Interaktionssequenzen können wir eindeutig sofort und wie selbstverständlich dem Ort „Schule“ zuordnen, ohne genau sagen zu können, warum wir wissen, dass dies typische Schulszenen sind. Der theoretische Blick auf die Schule, der mit dieser Einführung gegeben werden soll, versucht, das Eintauchen in das Schulleben, dieses ,Immer schon Bescheid wissen darüber, was Schule ist‘, in eine Distanz zu rücken. Es geht nicht darum, was oder wie Schule sein sollte, sondern um Klarheit darüber, was sich hinter dem idyllischen Bild von Schule verbirgt und unter welch schweren Bedingungen Lernprozesse in der Schule stattfinden. Sehen wir uns die Szenen daraufhin nochmals genauer an.

Leistung und Beurteilung

Die Schüler lernen nicht nur das Wort „maman“ zu schreiben, sondern sie lernen unter der Aufforderung von Monsieur Lopez auch, sich in ihrer Leistung zu vergleichen und die Leistung der anderen zu beurteilen. Sie lernen Beurteilungsformen kennen, die ihre Mitschüler nicht verletzen und werden dazu befähigt, ihre Leistungen selbst einzuschätzen – im Vergleich mit dem Musterkärtchen des Lehrers, aber auch mit den Schreibversuchen der anderen. Wir sehen aber im Film nicht, wie Monsieur Lopez die Selbst- und Fremdbeurteilungen weiterverwendet. Dienen diese dazu, Leistungsunterschiede festzuhalten und gegebenenfalls sogar zu zementieren oder lässt er den im Schreiben noch nicht so geübten Schülerinnen und Schülern vermehrt Förderung zukommen, damit auch sie bald das Wort „maman“ richtig schreiben können?

Die Geschichte der Wörter

Die Schüler erfahren, dass bisweilen auch schwierige Wörter, die man lernen muss, eine persönliche Geschichte haben. In der Auseinandersetzung mit dem Text kann Axel lernen, dass die Geschichte, die er liest, etwas mit ihm zu tun hat. Sein Selbstvertrauen wächst sichtlich, als er spürt, dass seine Erzählung bei Monsieur Lopez auf Widerhall und Interesse stößt und er dazu ermuntert wird, trotz der Störung durch die anderen weiter von seinen Albträumen zu berichten. Seine Mitschüler können daran, dass die persönliche Geschichte Axels dem Lehrer so wichtig ist, sehen, dass die Erzählung eines anderen Menschen bedeutsam ist und mit Respekt zu behandeln ist und nicht unterbrochen werden darf. Indem Monsieur Lopez nicht stur eine Lektion hält, sondern Axel den Freiraum gibt, seine eigene Geschichte zu erzählen, lässt er das vorhandene Weltwissen in die Schule hinein und eröffnet Axel die Möglichkeit, sich autonom mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen. Was geschieht aber mit dem Mitteilungsbedürfnis seiner Mitschüler, die ebenfalls ihr Wissen über Albträume und Gespenster loswerden wollen?

Abmachungen und Übereinkünfte

Monsieur Lopez behandelt den kleinen Jojo als eine Art Vertragspartner, mit dem abgemacht war, dass ein Bild fertig zu malen ist, bevor eine Pause eingelegt werden darf. Aber die Vertragsbedingungen sind einseitig diktiert, ohne dass Jojo darauf Einfluss nehmen könnte. Die von ihm abverlangte Autonomie kann er noch gar nicht erbringen, sondern selbstverantwortlich zu sein, muss erst in der Schule gelernt werden. Der Philosoph Immanuel Kant hat dies als eine Grundfrage der Pädagogik begriffen.

„Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Den Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ (KANT 1977, Bd. XII, S. 711)

Kant war Realist genug, um zu sehen, dass Zwang nötig ist, aber auch Idealist genug, um zu wissen, dass Freiheit nicht durch Zwang erreicht werden kann, sondern allenfalls bei dem Zwang. Aber die Grundfrage bleibt bestehen: Wie viel Freiheit und Übermut muss der Pädagoge den ihm anvertrauten Kindern nehmen, um Wissen geben zu können? Wo schlägt bei dem Zwang die Disziplinierung in bloßes Ritual um, wo wird lediglich ein pädagogisches Exempel statuiert, um eine fragwürdige Ordnung zu erhalten?

Arbeiten lernen

Während Jojo auf die Frage seines Lehrers nach dem Grund seines Schulbesuchs zunächst nur antwortet, dass er in die Schule geht, weil seine Mutter es so will, gelingt es Monsieur Lopez durch behutsames Nachfragen, ihm die Einsicht zu entlocken, dass das Malen von Kringeln an die Tafel dazu beiträgt, die Zahlen kennen zu lernen, die er späterhin fürs Rechnen braucht. Aus dieser Einsicht heraus kann Jojo dann auch zeigen, dass er das Prinzip der Zahlenreihenfolge verstanden hat und dass er eine Zahlenreihe auseinander nehmen und wieder zusammensetzen kann. Er kann so – wenn auch mit einiger Mühe – über das bisher Gelernte hinaus bis acht zählen. Denken lernen heißt, bearbeiten lernen. Der Erkenntnisgewinn, dass vor der Zahl sechs die fünf und nach ihr die sieben und dann die acht kommt, mutet vielleicht demjenigen trivial an, der das alles längst weiß, aber Monsieur Lopez ist zu Recht stolz auf seinen vierjährigen Schüler, der aus eigener Kraft diesen anstrengenden Erkenntnisschritt vollzogen hat. Wie kann Schule dazu beitragen, dass diese auf den ersten Blick winzigen, aber für den Erkenntnisprozess wichtigen Denkschritte in ihrer vollen Tragweite anerkannt und geschätzt werden?

Still sein lernen

Alizé mag gelernt haben, dass es durchaus richtig sein kann, ihre Empörung zu äußern, sie hat aber auch gelernt, dass diese Empörung in den schulischen Kontext passen muss. Sie lernt also einerseits, Rücksicht zu nehmen auf den Klassenverband, kann dadurch aber andererseits ihrer Empörung nur gedämpft Luft verschaffen, da sie die anderen Schüler in deren Lernprozess nicht stören will. Alizé lernt Lesen, Schreiben, Rechnen und ihre eigenen kleinen Kunstwerke zu verfertigen also nicht im luftleeren Raum; ihre Lernprozesse sind eingebunden in eine soziale Situation, in der Routinen und Rituale wesentliche Teile des schulischen Alltags bestimmen und unmissverständliche Gebote und Verbote vermitteln, dass es unangemessen sein könnte, ihrer Empörung lautstark Geltung zu verschaffen. Wie lässt sich theoretisch fassen, dass Alizé gelernt hat, sich den Regeln der Schule gemäß zu verhalten?

Die Grenzen außerschulischen Lernens

Während Julien in seiner Lebenspraxis durchaus gelernt hat, wie ein Stall auszumisten ist, wie man Traktor fährt oder mit Kühen umzugehen hat, weiß nicht nur er, sondern seine ganze Familie, nicht mehr oder noch nicht genau, wie bestimmte Rechenoperationen durchzuführen sind. Er hat sich also durchaus schon Erfahrungen angeeignet, die ihm helfen, seine Handlungsmöglichkeiten für das Leben auf dem Bauernhof zu erweitern. Dies müssen nicht unbedingt eigene Erfahrungen sein; er hat dieses Wissen durch die gesammelten Erfahrungen seiner Eltern und seines Onkels übermittelt bekommen. Er kann sich deren Erfahrungen zu Eigen machen und auf die eigene Lebenspraxis anwenden. Historisch ist aber die Kluft zwischen dem ebenso individuell Erfahrbaren wie familiär Weitergegebenen und dem Wissen, das in der Welt insgesamt verfügbar ist, so angewachsen, dass das Lernen in der situativen Praxis des eigenen Lebensvollzugs oft nicht mehr ausreicht, um das sozialkulturell vorhandene Wissen sich so vollständig wie möglich anzueignen. Lernen kann man nur für sich, müsste man aber das gesamte Wissen selbst erzeugen, würde die eigene Lebenszeit kaum ausreichen, um in einer sich ständig wandelnden Welt handlungsfähig zu werden. Müsste dann nicht die Schule den Raum für dieses den eigenen familiären Lebenskreis überschreitende Lernen bieten, ohne es an die Familien zurück zu überweisen?

Verständnis des Lehrerberufs

Die Schülerinnen und Schüler des Monsieur Lopez stellen mit ihrem Blick auf die Tätigkeit des Lehrens erstaunliche Expertise zur Schau. Sie können, obwohl sich alle Kinder im gleichen Klassenraum befinden, schon unterscheiden, dass die unterschiedlichen Altersgruppen von Herrn Lopez unterschiedliche Aufgaben verschiedenen Schwierigkeitsgrades gestellt bekommen. Sie wissen aber auch, dass es der Lehrer ist, der entscheidet, was im Unterricht gemacht wird, und nicht sie. Ihre realistische Einsicht in die weithin gängige Unterrichtspraxis lässt ihnen den Lehrberuf durchaus attraktiv erscheinen, sie lässt zugleich aber gegenüber durchaus sympathischen pädagogischen Vorstellungen skeptisch werden, die Schülerinnen und Schülern mehr Mitwirkungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten in der Schule einräumen möchten, wie es etwa Arno Combe und Werner Helsper als entscheidende Leistung der Lehrkräfte formulieren.

„Die entscheidende kommunikative Leistung von PädagogInnen scheint demnach gegenwärtig zu sein, ihre (vermeintliche) Überlegenheitsposition preiszugeben und mit ihren jeweiligen Adressaten in Verhandlungen über den Sinn und die Geltung kultureller Sachverhalte einzutreten.“ (COMBE und HELSPER 2002, S. 43)

Wenn das eine wünschenswerte Position ist, wie müsste dann Schule gestaltet werden, um allen an Schule Beteiligten diese Gestaltungsspielräume zu eröffnen?

Grenzen des Lernens

Monsieur Lopez hat sich bei der Einführung der Zahl sieben alle erdenkliche Mühe gegeben und jedes didaktische Mittel genutzt, das ihm zur Verfügung steht. Er ist folglich ziemlich fassungslos, dass Létitia weder seinen Erklärungen noch den Einflüsterungen ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler die richtige Lösung abzulauschen vermag. Obwohl sie, genauso wie ihre Mitschüler, selbst Siebener gemalt hat, kann sie aus Müdigkeit oder anderen Gründen und trotz „Einsagens“ der anderen Kinder die Zahlenreihenfolge nicht weiterführen. Aller noch so guten Didaktik zum Trotz bleibt der individuelle Lernprozess unverfügbar. Ein Erkenntniszuwachs lässt sich weder durch noch so ausgefeilte didaktische Rezepte noch durch Unterrichtstechniken herstellen. Den Denkschritt von der einzelnen Zahl zur Zahlenfolge muss Létitia allein gehen. Er ist durch nichts zu erzwingen und kann nur durch unterschiedliche Darstellungs- und Vorgehensweisen, die mal der einen, mal dem anderen hilfreich sind, erleichtert werden. Wie kann nun aber Schule so eingerichtet werden, dass allen oder zumindest möglichst vielen Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit gegeben werden kann, diese Denkschritte mitzuvollziehen?

Die eigene Sprache und die Schulsprache

Obwohl Johann das Prinzip verstanden hat, wie das grammatikalische Geschlecht zu bilden ist, hat er noch nicht gelernt, dass sich die Schul- und Unterrichtssprache von der in seiner Familie gesprochenen Sprache unterscheiden kann. In der zunehmend gereizten Reaktion von Monsieur Lopez auf den eigenwilligen Sprachgebrauch Johanns wird deutlich, dass er selbst sich die Unterrichtssprache so sehr zu eigen gemacht hat, als sei sie eine natürliche Sprache, ohne zu bemerken, dass auch die Schulsprache erst noch zu erlernen ist (vgl. BOURDIEU 2001). Die in der Schule gesprochene Sprache scheint mehr oder minder unbemerkt dazu beizutragen, dass diejenigen, die von ihrem sozialen Milieu her der Unterrichtssprache näher stehen, bevorzugt werden und nicht alle mit den sprachlichen Mitteln ausgestattet werden, die es ihnen erlaubten, mit den schulischen Anforderungen zu Rande zukommen. Ist es dann Aufgabe der Schule, der Vielfalt der Sprache und der Sprachen gerecht zu werden und in Rücksicht des unterschiedlichen Sprachgebrauchs zu unterrichten?

Der unendliche Zahlenraum und die Enge der Schule

Während Jojo lernen kann, dass es in der Welt der Mathematik möglich ist, immer weiter zu zählen und dass sich damit ein schier unendlicher Raum eröffnet, dessen Weite ebenso zu faszinieren vermag, wie er Bestürzung hervorrufen kann, zeigt sich auch, dass es in der Welt der Menschen oft nicht möglich ist, unendlich weiterzuzählen, weil sich jemand streitet oder die Nase stößt. Wichtig ist dann nicht mehr das Zählen; was dann wirklich zählt, ist, einen Streit zu schlichten oder jemanden zu trösten, dem die Nase weh tut. Das alles findet aber im Rahmen und unter den Rahmenbedingungen von Schule statt. Auch die weltweisen Schildkröten, die emblematisch am Beginn des Filmes stehen, haben nur einen begrenzten Auslauf. Selbst wenn ihnen auf ihrer Erkundungsreise der Raum des Klassenzimmers unendlich groß erscheinen mag, ihr Leben ist auf das Klassenzimmer beschränkt und am Ende des Tages kommen sie zurück in ihr Aquarium. Der Widerstreit von Lernen und Leben weist über das Klassenzimmer hinaus. Muss sich dann Schule der Welt nicht soweit öffnen, dass die Offenheit der Welt den Schülerinnen und Schülern vor Augen steht?

Nachdenken über Schule

Jeder, der über Schule nachdenken will, braucht solche wahrnehmbaren Erinnerungsspuren, wie sie der Film être et avoir in uns wecken kann, um sie wiederum in fragendes Nachdenken zu verwandeln. Zugleich muss er aber auch Distanz gewinnen, um sich weder von positiven noch negativen Erinnerungen an Schule überwältigen zu lassen. Wir können das in der universitären Distanz zum Betrieb der Schule handlungsentlastet tun, dürfen aber nicht vergessen, dass uns auch bei der Aufarbeitung der Theorien der Schule unsere Erinnerungen an und Erfahrungen mit Schule beeinflussen.

„Und schließlich“, schreibt Stephen King, wenn er über das Leben und das Schreiben reflektiert, „sind wir hier nicht in der Schule. Da Sie sich nun keine Gedanken mehr machen müssen, ob a) Ihr Rock zu kurz oder zu lang ist und die anderen Sie auslachen, ob b) Sie es in die Schulmannschaft im Schwimmen schaffen, ob c) Sie bei Ihrem Schulabschluß noch immer eine verpickelte Jungfrau sein werden (in dem Fall wahrscheinlich bis zu Ihrem Tod), ob d) der Physiklehrer Ihre Abschlußarbeit mit einer Kurve benoten wird oder e) Sie überhaupt jemand leiden kann, DENN DAS KONNTE JA NOCH NIE EINER, da diese ganze unwesentliche Scheiße nun endlich hinter Ihnen liegt, können Sie sich bestimmten wissenschaftlichen Fragen so konzentriert widmen, wie es auf dem Planet Schule nie möglich war.“ (KING2000, S. 133f.)

Da auf diesem „Planet Schule“ die Luft zum Nachdenken bisweilen sehr stickig ist, fühlen sich manche Theoretiker der Schule zu einem derart weiten Abstand genötigt, dass in den schwindelerregenden Höhen schultheoretischer Abstraktion die Luft zum Atmen wiederum zu dünn wird und die gedankenschweren Überlegungen über die Schule für die Schule selbst reichlich folgenlos bleiben. Der Impuls, die Schule besser zu machen, steht dabei aber immer an Anfang, auch wenn er im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Schule oft ins Hintertreffen gerät. Es ist die Aufgabe jeder Theorie der Schule, mit den Mitteln theoretischer Reflexion und Selbstreflexion Schule in ihren komplexen Zusammenhängen zu rekonstruieren und mit dem intellektuellen Anspruch der Aufklärung sich ein klares und bestimmtes Bewusstsein dieses Zusammenhangs zu verschaffen. Auch wenn uns vieles aus eigener Erfahrung heraus ganz selbstverständlich erscheint, sind es gerade diese Selbstverständlichkeiten, die immer wieder neu befragt werden müssen, um nicht kritiklos hingenommen oder noch nicht einmal bemerkt zu werden. Denn ebenso wie die Schülerinnen und Schüler des Monsieur Lopez das Wunder der Erkenntnis je für sich neu finden und – ganz gleich wie weit die Menschheit insgesamt gelangt ist – von vorne, beim ABC und beim kleinem Einmaleins, anfangen müssen, beschäftigen sich auch die Theoretiker der Schule immer wieder mit den Grundfragen von schulischer Bildung und Erziehung.

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