Читать книгу Einführung in die Theorie der Schule - Hans-Peter Gerstner - Страница 14
Оглавление2 Dynamik und Statik im Bildungswesen
2.1 Der Begriff Schule
Schule und Muße
Das Wort Schule – sagen die Lexika – kommt aus der griechischen Sprache, in der das Wort „σχωλή “ soviel wie „Muße“ bedeutet. Muße, also die freie Zeit, die man sich leisten können muss, um sie an die schönen und geistigen Dinge verschwenden zu können, ohne sich Gedanken über den Nutzen machen zu müssen. Diese Muße ist nun heute kaum das Wort, das einem beim Nachdenken über schulische Einrichtungen als erstes in den Sinn kommt. Gegenwärtig sind es eher Gedanken über mangelnde Qualität und fehlende Effizienz des Schulwesens, über Schulversagen und Versagen der Schule, über fehlende Pflege des Humankapitals und gewalttätige Schüler und – zumindest in den Sonntagsreden – auch über die Bildungsaufgabe der Schule, die längst dem Leistungsdenken und dem Begabungsmythos hat weichen müssen. Während es sich seit der großen Bildungsexpansion der 70er Jahre außer für die Experten kaum verlohnte, über die Schule nachzudenken, weil alle ja im Guten wie im Schlechten wissen, dass die Schule nun mal so ist, wie sie ist, und alle aus erster Hand erfahren haben, wie Schule funktioniert, ohne dass sie je darüber nachzudenken brauchten, hat mit Beginn des 21. Jahrhunderts ein erneutes Nachdenken über Schule eingesetzt (vgl. HENTIG 1993).
Spektrum von Schule
Dabei geht die Erziehungswissenschaft weiterhin davon aus, dass eine allgemein anerkannte Theorie der Schule bis heute aussteht. Zwar gibt es eine große Zahl mehr oder minder systematischer Darstellungen der Aufgaben des Schulwesens in modernen Gesellschaftsformen, aber diese decken bestenfalls einen schmalen Bereich dessen ab, was Schule ausmacht. Wer wissen will, welcher Sinn der Schule zugeschrieben wird, welche Leistungen sie erbringt und wo sich ihr Unvermögen erweist, muss sich erst einmal über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Vielfalt schulischer Einrichtungen klar werden, denn das öffentliche und staatlich kontrollierte Pflichtschulsystem ist wiederum nur ein Ausschnitt aus den mit dem Wort Schule verbundenen Einrichtungen: Es gibt Tanzschulen ebenso wie Fahrschulen, Abendschulen genauso wie Sprachschulen und Hochschulen. Für fast jede Tätigkeit, die gelernt und geübt werden kann, gibt es ein schulisches Angebot. In manche dieser Schulen müssen alle gehen, sie sind obligatorisch, einige wiederum können freiwillig besucht werden, andere Schulen sind kostenlos, wieder andere müssen teuer bezahlt werden. All diese Schulformen lassen sich nach ihren Inhalten und den mit ihnen zusammenhängenden Kenntnissen, nach den Prüfungen und den Zeugnissen, nach der Ausbildung der Lehrer, oder nach der in ihnen zu verbringenden Zeit unterscheiden. Es ist schwierig, mit Rücksicht auf diese Palette verschiedener Formen von Schulen überhaupt noch eine Übereinstimmung zu finden. Kaum scheint es möglich, einen Begriff von Schule zu finden, der offen für Unterschiede ist und dennoch das allen gemeinsame Typische einfängt, der für verschiedene geschichtliche Zeiten ebenso gehaltvoll ist wie für die gegenwärtige Zeit. Beim Blick auf die gesammelten Informationen aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen fällt auf, dass je nach Fokus sehr verschiedene, oft widerstreitende Denkbilder der Schule entworfen werden. Schule kann so etwa als staatlich kontrollierte Veranstaltung (vgl. DEUTSCHER JURISTENTAG 1981), als Institution der Qualifizierung für das spätere Berufsleben (vgl. Fend 1980b), als Lebensort und Lebensweg des Kindes (vgl. HENTIG 2003), aber auch als Apparat zur Reproduktion von Gesellschaften (vgl. HUISKEN 2002), als Aufbewahranstalt für Kinder und Jugendliche (PLAKE 1977), als professionelle Organisation von Lernprozessen (vgl. DEWE u.a. 1992) oder gar als Ort der Erzeugung pathologischen Versagens (vgl. RUTSCHKY 1977) verstanden werden. Zwar kann es angesichts dieser unterschiedlichen Herangehensweisen an das Phänomen Schule selbstverständlicherweise keinen allgemeingültigen Begriff geben, aber zumindest lässt sich vielleicht ein kleinster gemeinsamer Nenner finden:
Minimaldefinition von Schule
Schulen können dann als Organisationen verstanden werden, deren Zweck das thematisch eingeschränkte, kollektiv oder individuell arrangierte, meist pädagogisch angeleitete und an einem speziellen Ort veranstaltete Lernen ist (vgl. TENORTH 1994). Diese bescheidene Bestimmung trifft sowohl auf Fahr- und Tanzschulen als auch auf Hochschulen und Sprachschulen, nicht zuletzt aber auch auf die staatlich kontrollierte Pflichtschule zu.
Diese Minimaldefinition ermöglicht zu sagen, wann von schulischen Einrichtungen zu sprechen ist. Sie klärt aber noch nicht die Detailfragen, wann das Schulwesen aus welchen Gründen entstanden ist, wie und warum es sich zu der Gestalt entwickelt hat, die heute als Regelschulwesen gilt, welche Leistungen es auf welche Art und Weise für die Gesellschaft erbringt, welche Charakteristika sich typischerweise erkennen lassen, welche Wirkungen und Ergebnisse der Schule sich zeigen, und warum das gegenwärtige deutsche Schulsystem weiterhin so stabil ist, wo doch in anderen Ländern sich alternative Schulsysteme entwickelt haben, die mehr Vorteile und mehr Erfolge versprechen. Auch wenn diese Minimaldefinition schulischer Einrichtungen weit mehr umfasst, als die Schule, die wir alle besucht haben, werden wir uns im Folgenden weitgehend auf die staatlich kontrollierte Pflichtschule beschränken. Denn diese Fragen können nun insbesondere auf das öffentliche Schulwesen angewendet werden, da dort all die Möglichkeiten und Schwierigkeiten pädagogisch verantworteten Lernens am deutlichsten zu Tage treten.