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Chatten und Römer
ОглавлениеIm ersten nachchristlichen Jahrhundert wurde das nördliche Hessen durch weitere Wanderungsbewegungen Teil des rhein-wesergermanischen Kulturkreises. Jetzt tauchten in dem Gebiet zwischen Eder, Schwalm und Fulda auch erstmals die Chatten auf, von denen Hessen seinen Namen erhalten haben könnte. Für den römischen Geschichtsschreiber P. Cornelius Tacitus waren sie als edle Wilde das positive Gegenbild zu der von ihm als dekadent empfundenen römischen Gesellschaft. Entsprechend vorsichtig muss man seinen Bericht beurteilen.
»Die Menschen des Stammes haben kräftigere Körper, straffe Glieder, drohenden Blick und größere geistige Kraft. Für Germanen zeigen sie viel Berechnung und Geschick: Sie setzen ausgesuchte Leute an die Spitze und hören auf diese Vorgesetzten, sie kennen geordnete Verbände, bemerken günstige Umstände, schieben Angriffe auch einmal auf, regeln den Tagesablauf, verschanzen sich für die Nacht, sie sehen das Glück als unbeständig und nur die Tapferkeit als sicher an, und was höchst selten ist und eigentlich nur römischer Kriegszucht eingeräumt wird, sie legen mehr Gewicht auf die Führung als auf das Heer.[…] In allen Kämpfen liegt bei ihnen die Eröffnung, sie bilden immer die vorderste Reihe, unheimlich anzusehen; denn auch im Frieden nehmen sie kein sanfteres Aussehen an. Keiner hat ein Haus oder einen Acker oder etwas, wofür er sorgt; wie sie gerade zu einem jeden kommen, werden sie verpflegt, Verschwender fremder Habe, Verächter eigenen Besitzes, bis das kraftlose Alter sie zu solch hartem Kriegertum untauglich macht.«9
Zumindest im letzten Punkt hatte Tacitus, der Germanien nicht aus eigener Anschauung kannte, Unrecht. Wir wissen zwar nur wenig über die sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse der Chatten, aber immerhin so viel: »Der überwiegende Teil der Chatten lebte in Weilern und Gehöften«, wie etwa die großflächigen Ausgrabungen bei Geismar in der Nähe von Fritzlar zeigten. Aber »regelrechte Dörfer mit mehreren hundert Einwohnern gehörten zu den Ausnahmen«10. Große Stadtanlagen wie noch bei den Kelten waren ihnen allerdings unbekannt.
Die Chatten hatte Tacitus nicht nur deshalb so genau beschrieben, weil er sie als positives Beispiel herausstellen wollte, er sah in ihnen auch ernsthafte Gegner der römischen Militärmacht. Mit der Eroberung Galliens durch Caesar im Jahr 51 v. Chr. wurde der Rhein die nordöstliche Grenze des römischen Reichs. Der Einfall von Germanenstämmen in das römische Gallien im Jahr 16 v. Chr. veranlasste Kaiser Augustus, gegen die rechtsrheinischen Germanen vorzugehen. Er ließ mehrere große Militärbasen am Rhein errichten, darunter auch Mogontiacum (Mainz). Von dort überschritt 9 v. Chr. der kaiserliche Stiefsohn Drusus mit seinen Soldaten den Rhein und erreichte trotz heftiger Gegenwehr der Germanen, auch der Chatten, noch im selben Jahr die Elbe. Allerdings starb er bald an den Folgen eines Unfalls. Sein Bruder Tiberius setzte den Feldzug fort, ohne aber zu anhaltenden Erfolgen zu gelangen. Trotzdem ließ sich Tiberius in Rom als Triumphator feiern. Er glaubte, die Germanen in Verträge einbinden zu können, aber das sollte sich als folgenschwerer Irrtum erweisen. Denn 9 n. Chr. vernichtete ein germanisches Heer, dem sich auch Chatten angeschlossen hatten, die 17., 18. und 19. römische Legion unter Quintilius Varus, höchstwahrscheinlich bei Kalkriese. Damit war auch der römische Traum einer rechtsrheinischen Provinz zunächst geplatzt. In Waldgirmes, heute ein Stadtteil von Lahnau, hatten die Römer schon vor der Zeitenwende damit begonnen, mitten in germanischem Gebiet eine Stadt zu errichten, die auch zivile Verwaltungsaufgaben wahrnehmen sollte. Bei Ausgrabungen in Waldgirmes wurden in einem Brunnen Teile einer monumentalen Reiterstatue gefunden, die höchstwahrscheinlich Kaiser Augustus zeigte. »Keramikscherben, Fibeln und auch einige Gebäudegrundrisse«, so Gabriele Rasbach, »sprechen für eine Bevölkerung aus gallo-römischen und einheimischen Siedlern. Doch der Versuch, römische Strukturen einzuführen, scheiterte. Die Niederlage der römischen Truppen in der Varus-Schlacht führte in Waldgirmes offenbar zu einem ›Bildersturm‹, bei dem mindestens zwei der auf dem Forumsplatz aufgestellten Reiterstatuen zerstört wurden. Die Deponierung eines der lebensgroßen bronzenen Pferdeköpfe in einem Brunnen zusammen mit mehreren Mühlsteinen scheint hingegen kultisch motiviert«11.
Nach der Niederlage des Varus blieben einzelne rechtsrheinische Militärstützpunkte als Brückenköpfe erhalten, darunter Kastel, Friedberg und Rödgen bei Bad Nauheim. Sie waren zum Teil mit einheimischen Milizionären besetzt und bildeten ab 14 n. Chr. die Basis für die »Rache«-Feldzüge des Germanicus. Der Neffe des Tiberius, der unterdessen die Nachfolge von Kaiser Augustus angetreten hatte, soll dabei den chattischen Hauptort Mattium zerstört haben. Die Suche nach den archäologischen Überresten von Mattium ist aber bis heute erfolglos geblieben. Bereits zwei Jahre später ließ Tiberius die verlustreichen Kämpfe abbrechen. Nur kurz danach starb Gemanicus, der gleich mit drei Ehrenbögen gefeiert wurde. Einer davon wurde in (Mainz-)Kastel errichtet. Sein Fundament hat sich bis heute erhalten.
Nach mehreren Kriegen gegen die Germanen waren die Römer nur wenig weitergekommen. Zwar verfügten sie über einen respektablen Brückenkopf und damit auch über die heißen Quellen der Mattiaker, eines germanischen Stammes direkt gegenüber von Mainz, aber die Gefahr von germanischen Einfällen war nicht gebannt und eine neue rechtsrheinische Provinz schien in weite Ferne gerückt. Welche Gefahren an der Rheingrenze lauerten, mussten die Römer im Jahr 69 n. Chr. erfahren, als der niederrheinische Statthalter Vitellius gegen Kaiser Nero rebellierte. Mehrere germanische Stämme erhoben sich, darunter die Chatten, und belagerten Mainz. Zwar konnte der neue Kaiser Vespasian sein Legionslager retten, aber es wurde immer deutlicher, dass die Rheingrenze ohne starke Truppen nicht zu halten war. Um weiteren Angriffen zuvor zu kommen, entschloss sich Kaiser Domitian im Jahr 83 n. Chr. zum Angriff auf die Chatten, bei dem er die Wetterau in seinen Besitz bringen konnte.
Die Chatten waren keine bis an die Zähne bewaffneten Krieger, wie es Tacitus nahelegte, sondern eher schlecht ausgerüstete Bauern, die in offener Feldschlacht gegen die Römer keine Chance hatten. Sie versuchten es deshalb mit einer Art Guerillataktik. Sie griffen plötzlich aus dem Hinterhalt an, um genauso plötzlich wieder zu verschwinden. Den römischen Soldaten und ihren Hilfstruppen mangelte es dagegen an einer wirksamen Strategie. Hinzu kam, dass zu jener Zeit starke Truppenverbände in die südosteuropäische Provinz Moesia (heute Bulgarien) verlegt wurden, um die dort eingefallenen Daker abzuwehren. »An ein Weiterführen des Krieges gegen die Chatten war nicht mehr zu denken«, schreibt der frühere Leiter des Saalburgmuseums, Dietwulf Baatz: »Es trat ein historischer Wendepunkt ein: War bisher die Rheingrenze von größter militärischer Bedeutung für das Reich gewesen, so wurde von nun an die Donaugrenze zum neuen Schwerpunkt. Am Rhein musste sich der Kaiser mit einem enttäuschend geringen Gebietszuwachs begnügen.«12