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Professionelle Antworten: Lebensweltorientierung, Hilfe und Kontrolle, methodische Ansätze

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Mit dem Inkrafttreten des SGB VIII in den Jahren 1990/91 wurde auch das Paradigma der Lebensweltorientierung als fachliches Prinzip der Kinder- und Jugendhilfe verankert. Dieses hat sich seitdem weiterentwickelt und ist bis heute aktuell. Es wurde maßgeblich von dem Erziehungswissenschaftler Hans Thiersch (1986/2006, 2014a, 2015) erarbeitet, fand in den 8. Jugendbericht der Bundesregierung (vgl. BT-Drs. 11/6576 1990) Eingang und nachfolgend Verbreitung in der Fachpraxis. Die Lebensweltorientierung ist im Grunde eine fachliche und wissenschaftlich begründete humane Antwort auf eine seit Jahrhunderten bestehende repressive und sanktionierende Hilfepraxis gegenüber sozioökonomisch benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Diese wurde in der BRD Ende der 1960er Jahre mit der so genannten Heimkampagne öffentlich und seitdem stark kritisiert. Am Beispiel der Herausnahme und Unterbringung von Kindern und Jugendlichen außerhalb ihres Elternhauses in kirchlichen und staatlichen Heimen wurde dies belegt (vgl. Ahlheim u. a. 1972/1978). Die erschreckenden Berichte ehemaliger Heimkinder von willkürlichen Sanktionen, Erfahrungen der Unterdrückung, Verwehrung von Bildungschancen und Gewalterlebnissen bis hin zu sexueller Gewalt beschäftigen seitdem das Hilfesystem und inzwischen auch die Politik (vgl. RTH 2010a, 2010b; vgl. Runder Tisch Sexueller Kindesmissbrauch 2011). Bis heute werden immer wieder neue Fakten des Unrechts an Heimkindern wie bspw. Medikamentenversuche öffentlich. Es wurde deutlich, dass öffentliche Erziehung auch zu einer Manifestierung einer benachteiligten sozialen Lage beitrug bzw. Klassenunterschiede verfestigte (vgl. Kappeler 2018). Ein wesentliches Ergebnis der Beschäftigung und Aufarbeitung im Kontext der Heimkampagne war, dass die unreflektierte Übernahme von eigenen Normen und Wertvorstellungen auf Menschen in nicht vergleichbaren Lebenslagen zu fatalen Folgen führt. Nutzen dann die Fachkräfte ihre strukturell gegebene Machtbefugnis und entscheiden einseitig über das Leben anderer Menschen, kann dies zu großem Unrecht führen. So wurden bspw. in den 1960er Jahren Mädchen vorschnell als sexuell verwahrlost eingeschätzt und durch die Landesjugendämter in Heimen untergebracht, wenn sie im öffentlichen Raum mit Minirock in Erscheinung traten (vgl. Gehltomholt/Hering 2006). Die betroffenen Mädchen selbst hatten auf diese Entscheidung keinen Einfluss und waren den oben genannten Praxen der Heimerziehung ausgeliefert – mit gravierenden Folgen für ihr gesamtes weiteres Leben.

Das fachliche Prinzip der Lebensweltorientierung ( Kap. 4) setzt hingegen grundsätzlich anders an. Es geht von einem Respekt gegenüber der Eigensinnigkeit von Lebenswelten aus und wendet sich gegen die werte- und normenorientierte Tradition der Sozialen Arbeit. Es bezieht sich auf den Alltag und die Lebensrealität von Familien. Es werden die sozialen Bedingungen und subjektiven Bewältigungsmöglichkeiten rekonstruiert, unter denen Probleme auftreten. Hierbei gilt es zunächst, die Lebenssituationen von Familien in dem umgebenden sozialen Kontext und deren Bewältigungshandeln am Einzelfall nachzuvollziehen. Darauf basierend werden dann passende Hilfesettings entwickelt, die unter Beteiligung der betroffenen Familien umgesetzt und bei Bedarf flexibel angepasst werden können. Denn: Jede Familie ist individuell und benötigt etwas anderes an Unterstützung und Hilfe! Zu den Hilfesettings gehören lebensweltunterstützende, -ergänzende und -ersetzende Angebote, die in ambulanten, teilstationären oder stationären Formen realisiert werden. Für das sozialpädagogische Handeln gilt es, die ›Hilfe zur Selbsthilfe‹ zu unterstützen. Dies bedeutet, die Familien dazu zu befähigen, für die eigenen Belange tätig zu werden. Ggf. muss dies zunächst gelernt und geübt werden – dieses alltagsbezogene Lernen zu ermöglichen ist eine originäre sozialpädagogische Aufgabe9.

Die zentralen Handlungsmaximen einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit sind: Prävention, Alltagsnähe, Integration, Partizipation und Dezentralisierung, Regionalisierung bzw. Vernetzung. Diese wurden in den vergangenen Jahren durch verschiedene methodische Orientierungen konkretisiert und umgesetzt. Dabei zielt die Lebensweltorientierung auch zentral auf die Entwicklung und Gestaltung von Strukturen und Organisationen, denn das fachliche Handeln ist eingebettet in die Bedingungen der jeweiligen Institutionen. Auch diese müssen sich entsprechend verändern und bspw. ihre Angebote sozialraumbezogen verorten, um für Familien unkompliziert erreichbar zu sein (vgl. Grunwald/Thiersch 2015; Thiersch 2015, S. 308–326).

Ein zentrales Thema im Kontext der Sozialpädagogischen Familienhilfe ist auch die Gestaltung des strukturellen Widerspruchs von Hilfe und Kontrolle 10. Dieser wird im Grunde seit dem Beginn der Sozialen Arbeit thematisiert und beschäftigt bis heute die Profession. Unter dem Paradigma der Lebensweltorientierung zeigt er sich darin, dass sozialpädagogische Fachkräfte zum einen mit einem verstehenden Zugang den Kontakt zu den Familien aufbauen und detaillierte Kenntnisse über deren Lebensverhältnisse erlangen. Zum anderen sind sie mit gesellschaftlichen und normativen Erwartungen konfrontiert, die sich bspw. auch in den administrativen Vorgaben einer Kontrolle der Familien zeigen. Hier kommt hinzu, dass deren Durchsetzung durch die asymmetrischen Machtverhältnisse im Kontext der Sozialen Arbeit Formen der Repression von Familien entfalten können.

Die Nähe der Familienhilfe zur Privatheit der Familie, bspw. Eintreten in die Privaträume, regelmäßige Anwesenheit der Fachkräfte, ermöglicht einen »Eingriff in familiale Lebenswelten« (Richter 2013, S. 35). Dies wird unter den Stichworten »gläserne Familie«, »Kolonialisierung von Lebenswelten« kritisch diskutiert (ebd., S. 36; vgl. auch Habermas 1981). Die Erfahrungen zeigen, dass das Pendel zwischen Hilfe und Kontrolle jeweils abhängig von gesellschaftlichen und fachlichen Diskursen mal in die eine und mal in die andere Richtung ausschlägt. Hatte die Soziale Arbeit in den 1990er Jahren ihren Kontrollauftrag fast völlig negiert, ist dieser mittlerweile wieder so stark im Fokus, dass der Auftrag zur Hilfe Gefahr läuft, in den Hintergrund zu geraten. Exemplarisch kann hierfür das Handeln im Kinderschutz angeführt werden (vgl. Thole u. a. 2018; Marks/Sehmer/Thole 2018). Entscheidend für eine gute Fachpraxis ist jedoch, die Balance zwischen Hilfe und Kontrolle beständig herzustellen, denn beides gehört zum Hilfeprozess und ist nicht voneinander zu trennen (vgl. Urban 2004). Idealerweise bewegt sich das Pendel zwischen Hilfe und Kontrolle im Hilfeprozess jeweils in der Mitte. Dieses auszubalancieren bleibt eine professionelle Aufgabe.

Neben der konzeptionellen und methodischen Rahmung unter dem Paradigma der Lebensweltorientierung haben vor allem systemische Ansätze, Adaptionen familien-therapeutischer Praxis und Konzepte der Sozialraumorientierung eine fachliche Bedeutung erlangt (vgl. Wolf 2015, S. 143; Müller/Bräutigam 2011). Ein einheitliches methodisches Handlungsmodell für die Sozialpädagogische Familienhilfe existiert nicht (vgl. für einen Überblick Petko 2004, S. 36). In der Praxis der Sozialpädagogischen Familienhilfe zeigen sich vielfältige methodische und konzeptionelle Handlungsformen. Die Hilfelandschaft ist sehr heterogen und von ausdifferenzierten und professionalisierten Zugängen geprägt, die sogar von Träger zu Träger variieren (vgl. Richter 2013, S. 35).

In der Erprobungsphase mit Pilotprojekten, die aus der Kritik an der Heimerziehung und dem Reformdiskurs in den 1980er Jahren entstanden, wurde als ein Ziel der Sozialpädagogischen Familienhilfe benannt, dass gerade hochbelastete Familien mit umfassenden sozialen und ökonomischen Problemen erreicht werden sollen. Bis dahin wurden durch Erziehungsberatungsstellen eher so genannte Mittelschichtfamilien angesprochen. Dieses Anliegen der Erreichbarkeit der Familien besteht bis heute und bleibt weiterhin Anspruch der methodischen Arbeit.

Sozialpädagogische Familienhilfe

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