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Erstes Kapitel

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Ich war wie vom Donner gerührt. So geht das nicht. Nein. So einfach kann er sich das nicht machen. Und mir auch nicht so einfach antun, dachte ich wütend. Ich hatte das anders erwartet. Ich hatte das nicht nur anders erwartet, ich hatte natürlich etwas vollkommen Anderes erwartet. Ich war wie erstarrt. Ich hörte zwar, was mein Arzt mir da sagte, erschrak auch, aber ich ärgerte mich in diesem Moment eigentlich mehr über das wie als über das was. Ganz ehrlich. So macht man das nicht. Der kann mir doch nicht einfach sagen, dass ich Krebs habe. Einfach so! Als wäre das das Normalste von der Welt. Als ginge es um Winterreifen aufziehen oder Kontoauszüge abheften.

Gut, ich hatte keine Wunder erwartet, ich wusste ja, dass Ärzte auch nur Menschen sind. Oft auch nicht mal besonders sensible Menschen. Vielleicht war es für sie ja auch normal, solche Botschaften an den Mann oder die Frau zu bringen. War ja ihr tägliches Brot. Aber man selbst hört es doch nur einmal und das auch nur höchst ungern. Dass man todkrank ist. Und keiner einem sagen kann, wie es ausgehen wird. Dass das Leben auf einmal in Gefahr oder sogar am Ende sein könnte, dass man vielleicht sogar sterben würde. Da hat man doch Angst. Da erwartet man doch ein wenig mehr Einfühlungsvermögen, oder? Ich war empört. Ich war wütend. Nein, wenn ich ehrlich war, dann war ich völlig verstört. Dr. Matthiesen erklärte mir noch kurz, was jetzt als nächstes zu tun sei, MRT zur genaueren Diagnose, OP-Planung, Chemotherapie, Anschlussheilbehandlung und so was alles. Er würde das alles in die Wege leiten und sich melden. Ich hörte das damals alles, verstand aber gar nicht, was mein Arzt da faselte, was er mir da sagen wollte. Ich wollte es auch gar nicht verstehen. Ich fand es in diesem Moment auch nicht wichtig. Ich war sauer. Stinksauer. Über die Art und Weise, wie mein Arzt das alles sagte. Vielleicht schützte mich in diesem Moment der Ärger über die wenig sensible Art auch nur vor dem Schock, vor der Panik, die der Inhalt seiner Nachricht in mir sonst wahrscheinlich ausgelöst hätte.

Dr. Matthiesen sagte noch so etwas wie, ich solle mal nicht den Kopf hängen lassen, noch hätten wir alle Möglichkeiten, jetzt müssten wir erst mal sehen. Er verabschiedete mich mit aufmunterndem Schulterklopfen. Matthiesen war ziemlich groß und es tat mir eher weh, als dass es mich aufmunterte. Ich erledigte noch unwillig bei den Sprechstundenhilfen den Papierkram, ließ mir über die Praxis einen Termin zum MRT in einer Radiologischen Fachpraxis in der Innenstadt geben und ging grußlos. Ich wollte nur noch raus. Ich stand auf der Straße. Ich stand da und fühlte mich, als sei ich aus der Zeit, wie aus der Welt gefallen. Irgendwie hatte ich schlagartig den Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Zur Wirklichkeit und auch zu mir selbst. Was war das gerade? Was hat der Doc mir da gerade erzählt? Meinte der mich? Wirklich mich? Mark Bornstedt? Meine Wirklichkeit fühlte sich auf einmal nicht mehr an wie die Wirklichkeit, die ich kannte, nicht mehr wie die, die um mich herum war. Ich fühlte mich wie in einer Parallelwelt. Wie in einer Welt aus Plastik, in der ich nur eine kleine Figur war. Jemandes Spielzeug. Eine Welt, die außerhalb von mir stattfand und nichts mit mir zu tun haben schien. Nichts mit mir zu tun haben wollte.

Die Welt müsste doch wenigstens einen Moment anhalten, mich mit weit aufgerissenen Augen anstarren und an meinem Schicksal erschaudern. Einen einzigen Moment wenigstens. Aber sie drehte sich einfach weiter, sie drehte sich nicht mal einen winzigen Augenblick nach mir um. Die Welt nahm gar nicht wahr, was mit mir war und es war, als stünde ich unter einer Glocke, die mich von der Außenwelt abschirmte. Alles klang so weit weg. Der Autolärm, die Menschen, die rechts und links an mir vorbeihetzen. Ich war völlig isoliert. Lungenkrebs. Ich habe Lungenkrebs. Dieses Wort stand wie in Stein gemeißelt auf einmal in meinem Kopf. Lungenkrebs. Und dieser Stein schien unaufhörlich zu wachsen und ließ überhaupt keinen Platz mehr für irgendeinen anderen Gedanken, füllte meinen Denkraum immer mehr aus.

*

Ich suchte mein Auto, konnte es aber nicht gleich finden, wusste nicht mehr so ganz genau, wo ich es abgestellt hatte, musste mich extrem zusammenreißen, um mich konzentrieren zu können. Fand es aber doch schließlich. Ich muss eine rauchen, dachte ich und fummelte die Schachtel mit den Glimmstengeln aus meiner Manteltasche. Wahrscheinlich sollte ich nicht rauchen. Ich hätte nie rauchen sollen. Aber dafür war es jetzt zu spät. Jetzt war es dafür zu spät. Ich lehnte mich an mein Auto, zündete die Zigarette an und inhalierte den ersten Zug tief. Der Rauch füllte meine Lunge. Es tat gut. Aber es tat auch weh. Ich spürte diesen fiesen, stechenden Schmerz in meiner Brust und musste husten. Ich warf die gerade angerauchte Kippe weg und stieg ins Auto. Ich schlug gegen das Lenkrad. Mehrmals. So eine Scheiße. Ich atmete tief durch und gegen meinen Schmerz an. Dann fuhr ich los, wusste aber gar nicht genau, wohin ich jetzt fahren sollte. Nach Hause wollte ich jetzt nicht. Konnte ich jetzt nicht. Auch wenn Sarah wahrscheinlich schon händeringend auf mich oder wenigstens meinen Anruf wartete. Ich schaltete mein Handy aus. Ich wollte nicht reden. Mit niemandem. Nicht jetzt.

Ich fuhr einfach durch die Stadt. Am Aegi vorbei, am Neuen Rathaus und am Maschsee entlang. Der Maschsee war für mich der schönste Ort in Hannover. Der Weg um den See war Sarahs und meine Joggingstrecke. Mindestens zweimal in der Woche waren wir noch bis vor Kurzem um den See gerannt. Bis ich das vor ein paar Wochen nicht mehr konnte, weil mir einfach die Luft wegblieb. Sarah hatte ich erzählt, ich hätte Probleme mit dem linken Knie. Ich wusste nicht, ob sie mir das glaubte. Sie nahm es scheinbar so hin. Dabei wusste ich eigentlich ganz genau, dass sie nie irgendetwas einfach so hinnahm. Manchmal gingen wir da aber auch nur spazieren oder tranken im Pier51 einen Kaffee oder einen Aperol Spritz. Wir liebten unser zweisames Beisammensein an unserem See. Heute interessierte er mich nicht und ich ließ ihn einfach links liegen und fuhr weiter stadtauswärts.

*

Diesen Schmerz in der Lunge hatte ich nun schon lange. Bestimmt schon ein halbes Jahr. Anfangs war er nur sporadisch da, in der letzten Zeit aber war er mein ständiger Begleiter. Deshalb war ich ja nur zum Arzt gegangen. Meine Frau Sarah hatte mich dazu gedrängt. Ich selbst wäre wahrscheinlich gar nicht auf die Idee gekommen, einen Arzt aufzusuchen. Ich hasste Ärzte. Immer schon. Ärzte machten mir Angst. Angst vor schlimmen Diagnosen, Angst vor Schmerzen und vor schlimmen Aussichten, Angst vor der Wahrheit. Vor allem vor der Wahrheit. Die Wahrheit hat mir schon immer Angst gemacht. Das war mir im Laufe der Zeit zur zweiten Haut geworden. Wahrheit ist doof. Zumindest, wenn es um mich ging. Eigentlich habe ich auch immer ganz gut gespürt, was mit mir los war, wusste, was zu tun war, wenn mir irgendetwas fehlte. Dann behandelte ich mich immer selbst mit meinen homöopathischen Kügelchen und kriegte das alles auch immer ganz gut in den Griff. Keinen Alkohol, wenn es im Oberbauch zwickte, weniger Rauchen, wenn die Lunge rasselte, kein Schweinefleisch, wenn ich fürchtete, dass meine Cholesterinwerte nicht in Ordnung waren, viel Sex, wenn ich Angst vor einem Herzinfarkt hatte. Ich hatte irgendwo mal gelesen, dass Sex prophylaktisch gegen Herzkrankheiten wirke. Und seitdem hatte ich zur großen Freude von Sarah oft Angst vor einem Herzinfarkt.

*

Aber diesmal war das anders. Ganz anders. Ich hatte Schmerzen, chronische Schmerzen. Immer. Wenn ich tief Luft holte, wenn ich mich anstrengte, husten musste oder wenn ich im Bett auf der linken Seite lag. Dann war dieser Schmerz da. Außerdem hatte ich in letzter Zeit ständig Rückenschmerzen. Obwohl ich regelmäßig Sport trieb. Aber der Sport half überhaupt nicht. Im Gegenteil. Danach wurde es eigentlich immer schlimmer. Offenbar kein muskuläres Problem. Sarah hatte ich – mal wieder - nichts davon gesagt. Aber sie hörte es ja, wenn ich nachts hustete, oder stöhnte. Ich bin ja selbst davon wachgeworden. Sie merkte auch, dass ich seit einiger Zeit im Schlaf schwitzte. Jede Nacht. Irgendwann sagte sie mir, dass sie sich Sorgen machen würde. Ich habe das dann runtergespielt. Wie immer. Ich wollte nicht, dass sie sich sorgte. Ich hatte Angst vor ihren Sorgen. Und vor meinen eigenen natürlich. Vor allem vor meinen eigenen. Heute würde ich sagen, ich war ein echter Verdrängungskünstler. Das hatte ich drauf. Verdrängen. Runterspielen. Ignorieren. Das lief ja auch bisher ganz gut.

Aber diesmal war das eben anders. Diesmal ging es mir unübersehbar schlecht. Das konnte nicht mal ich selbst ignorieren. Ich hatte ziemlich viel abgenommen. Aber nicht freiwillig. Ich musste mit zunehmendem Alter immer sehr auf mein Gewicht achten. Ich neigte dazu, nein, meine Hüften neigten dazu, sich jede Mahlzeit zu merken. Jede. Und meine Hüften hatten offensichtlich ein sehr gutes Gedächtnis. Ein Langzeitgedächtnis offenbar. Wahrscheinlich waren meine Hüften das intelligenteste Organ an mir. Also musste ich in den letzten Jahren immer gegen dieses Gedächtnis ankämpfen. Machte ich auch. Da war ich erstaunlich diszipliniert. Für meine Verhältnisse. FdH und Sport hielten mein Gewicht einigermaßen im Gleichgewicht. Mal drei Kilo rauf, mal drei Kilo runter. Im Sommer ein bisschen weniger, im Winter ein wenig mehr. Alles gut. Aber in der letzten Zeit verlor ich erstaunlich viel Gewicht. Ohne, dass ich irgendetwas dafür tat. Einfach so. Und obwohl ich in meiner Mucki-Bude regelmäßig trainierte, machte ich ehrlicherweise mehr Rück- als Fortschritte. Ich fühlte mich einfach unglaublich schlapp. Und mit der Zeit immer schlapper. Das machte mir schon zu schaffen. Ja, diesmal war ich wirklich selbst beunruhigt und ich ahnte, dass es diesmal nicht mit meinen Selbstheilungsversuchen getan wäre.

Ich sah auch im Gesicht nicht gut aus, wie ich in letzter Zeit immer häufiger feststellte. Ich war oft so aschfahl im Gesicht. Obwohl ich für mein Alter, ich war jetzt zweiundfünfzig, doch eigentlich ganz gut beieinander war. Ich fand, dass ich gut aussah. Eigentlich. Kurz geschnittene, leicht verwuselte, grau melierte Haare, scharf konturierte Koteletten, Dreitagebart, graublaue Augen, markantes Kinn. Und meistens leicht gebräunt. Ich war gut gekleidet, trug gern dunkle Rollkragenpullover, mal zur Jeans, mal zu eleganten Anzughosen. Teure Schuhe. Ich legte immer großen Wert auf mein Äußeres und dass ich Sport machte, konnte man auch sehen. Selbst in meinem schlabbrigen Jogginganzug machte ich immer eine gute Figur. Fand ich.

Auch sonst ging es mir bisher ausgesprochen gut. Ich war seit vierundzwanzig Jahren verheiratet. Ich hatte Sarah ganz zufällig auf einer WM-Party in Lorettas Biergarten kennengelernt. 1990, als Deutschland in Italien zum dritten Mal Fußball-Weltmeister wurde. Wir feierten miteinander, wir lachten miteinander, wir tranken miteinander und dann schliefen wir miteinander. Acht Wochen später haben wir geheiratet. Unsere Familien und Freunde hielten uns damals für völlig bekloppt. Waren wir auch. Völlig verrückt. Aufeinander. Wie führten eine wirklich schöne Ehe. Ohne große Eskapaden oder Zwischenfälle. Ungewöhnlich, aber wahr. Sarah und ich waren glücklich, richtig glücklich. Wir hatten zwei wunderbare Kinder, Paula und Ben, die mittlerweile erwachsen waren und weitgehend ihr eigenes Leben führten. Paula arbeitete als Volontärin in der Sportredaktion einer großen Tageszeitung in Hamburg und war gerade mit ihrem Freund Thore zusammengezogen, einem Eventmanager, den Sie auf irgendeiner Vernissage kennen lernte. Thore war ein netter Kerl. Sarah und ich mochten ihn. Echt. Er passte zu ihr und irgendwie auch zu uns. Ben studierte in Prag Literaturwissenschaften im dritten Semester. Er hatte sein Studium zunächst in München begonnen, aber zu Beginn des zweiten Semesters hatte er die Möglichkeit, an die Karls-Universität zu wechseln. Wir hatten erst Bedenken, ob Ben dort zurechtkommen würde, stimmten letztlich aber zu und unterstützten ihn, so gut wir konnten. Es war eine gute Entscheidung.

Wir hatten allen Grund, stolz auf unsere Kinder zu sein. Und wir waren es auch. Es gab nur selten Probleme, wenn man mal vom allgemeinen pubertierenden Gezicke absah. Aber das war ja schon lange her. Und seit Paula und Ben nur noch ab und zu am Wochenende oder in den Semesterferien nach Hause kamen, hatten wir permanent sturmfrei und wir nutzten das reichlich. Besser konnte es eigentlich nicht sein. Ein Leben wie aus dem Bilderbuch.

Auch beruflich lief alles bestens. Ich hatte einen Job als Projektmanager in einer großen Firma, die weltweit Labortechnik vertrieb. Gutes Gehalt, privateigener Firmenwagen, Provision, viele Auslandsreisen, auf denen Sarah mich so oft wie möglich begleitete. Die Wirtschaftskrise war weitgehend spurlos an dem Unternehmen vorbeigegangen. Sarah hatte einen gutbezahlten Job in der Kreativabteilung einer Werbeagentur als Texterin. Sie war sehr erfolgreich, konnte viel von zuhause aus arbeiten und fand absolute Erfüllung darin. Sie war für ihre achtundvierzig Jahre auffallend attraktiv. Sportlich, schlank, groß, lange blonde Haare, grüne Augen, die wie Smaragde strahlten konnten. Sie hatte eine ganz besondere Wirkung auf ihre Mitmenschen. Besonders Männer konnte sie spielend um den Finger wickeln. Sie wusste durchaus, wie sie ihre Reize einsetzen musste, um das zu erreichen, was sie wollte. Sei es im Privaten, sei es im Beruflichen. Wobei sie immer ganz klar darin war, wer an ihre Seite gehörte und wer nicht, und jedem ungefragt signalisierte, dass sie keinesfalls auf irgendwelche Abenteuer aus war.

Vor allem war sie ausgesprochen intelligent und empathisch. Sie wusste schon immer was los war, bevor irgendjemand merkte, dass überhaupt irgendetwas los war. Sie spürte natürlich auch, dass mit mir etwas nicht stimmte. Dass es mir nicht gut ging, so sehr ich mich auch bemühte, das zu verstecken. Ich wollte nicht, dass sie sich sorgte. Und ich wollte mich nicht sorgen. Ich hatte immer schon Angst vor meinen Sorgen. Und dank meiner Verdrängungskünste hatte ich ein perfektes Leben. Bis jetzt.

*

Wir saßen irgendwann – es muss so Mitte September gewesen sein - im Garten unseres alten Hauses, das wir vor fünfzehn Jahren gekauft und – wie ich fand - liebevoll selbst saniert und renoviert hatten. Es war ein uriges Fachwerkhaus aus dem 19. Jahrhundert mit einem wunderschönen alten Obstgarten. Wir saßen in unserer Lieblingsecke unter einem alten Apfelbaum und tranken Kaffee. Wir saßen oft da, im Sommer meist bis spät in die Nacht, allein, mit Freunden, erzählten, tranken Wein und genossen unser Leben. Und nun saßen wir wieder da. Aber diesmal genossen wir es nicht.

Sarah nahm meine Hände in ihre und sah mir in die Augen. Lange. Länger, als ich es aushalten konnte. Ich wusste, dass es ein ernstes Gespräch werden würde. Immer wenn sie meine Hände hielt, wurde es ernst. „Was ist los mit dir, Schatz?“ Sie fragte das ganz ruhig und schaute mich dabei mit festem Blick an. Ich hielt diesem Blick nicht stand und verdrehte die Augen. Das machte ich immer, wenn ich über etwas nicht sprechen wollte. Und über mich sprach ich schon gar nicht gern. Lieber über andere. „Nichts.“, sagte ich. „Was soll sein? Alles gut.“, versuchte ich das drohende Gespräch im Keim zu ersticken. Natürlich wusste ich, dass ich damit nicht durchkommen würde. Wenn Sarah einmal angefangen hatte, ließ sie so schnell nicht locker. Ich wollte aufstehen, sagte, ich wolle mir einen Kaffee holen und ob sie auch etwas brauchte. Aber sie hielt meine Hände einfach fest und setzte nach. Ihre Stimme klang jetzt auf einmal nicht mehr so ruhig. Sie wurde bestimmter, nein, gereizter. „Nichts ist gut. Ich merke doch, wie schlecht es dir in letzter Zeit geht. Jede Nacht hustest du, ich merke, dass du Schmerzen hast und ich sehe auch, wie du aussiehst. Ich bin doch nicht blöd. Und es ärgert mich, wenn du mich für blöd verkaufen willst.“ Sarah kam in Fahrt. „Du kannst das nicht ignorieren. Ich mache mir Sorgen.“ Ich versuchte einfach, wegzuschauen und versuchte, meine Hände aus ihrem Griff zu befreien. Aber Sarah ließ nicht locker. „Wenn es etwas Schlimmes ist, dann ist es vielleicht noch nicht so schlimm und wir können etwas tun. Irgendwas. Dann wissen wir wenigstens, was los ist und wogegen wir kämpfen können. Und wenn es nichts Schlimmes ist, dann wissen wir auch Bescheid und müssen uns nicht mehr sorgen. Bitte.“ Ich versuchte immer noch verzweifelt, ihrem Blick auszuweichen. Versuchte, mich herauszuwinden, aber Sarah hielt meine Hände einfach fest und fixierte mich. „Mark, bitte! So geht das nicht. Das ist wichtig.“ Das sagte sie fast flehend. Ich wusste, ich fürchtete, dass ich mich ihr nicht entziehen konnte. Das konnte ich noch nie. Wenn Sarah sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann setzte sie das auch durch. Jetzt hatte sie sich vorgenommen, mich zu knacken, mich aufzubrechen, damit ich sie endlich an mich heranließe. Sich und die Wahrheit. Und wenn ich ehrlich bin, dann liebte ich sie genau dafür ganz besonders. Dafür, dass sie mich einfach nie entkommen ließ. Ohne sie hätte ich mich wahrscheinlich in mich selbst vergraben. Wenn das irgendwie gegangen wäre. Ich gab an diesem Abend im Garten meinen Widerstand auf. Aber ich traute mich nicht, sie anzuschauen. Ich hatte Angst. Aber ich wusste auch, dass ich diesmal nicht umhinkäme. Ich sah ihr in die Augen. „Okay. Ich lass das untersuchen.“ Wahrscheinlich klang meine Stimme nicht sonderlich stark oder überzeugend. Tief drinnen ahnte ich schon, dass es diesmal nichts war, was ich einfach wegreden oder selbst behandeln konnte. Kügelchen reichten diesmal nicht. „Ich rufe gleich morgen früh Dr. Matthiesen an.“ Sarah sah mich an. „Wirklich?“ Ich hielt ihrem Blick stand. „Versprochen!“ Sarah nahm mich in den Arm. Sie war froh, dass ich endlich eingewilligt hatte, Klarheit zu bekommen. Mich der Wahrheit zu stellen. Sie war froh, dass ich endlich aufhören wollte, mich selbst zu belügen. Und sie. Sie merkte auch, welche Angst ich in diesem Moment hatte. Ich hatte tatsächlich furchtbare Angst. Und sie auch. Wir hielten uns noch lange fest. Als es allmählich unangenehm kühl wurde, gingen wir ins Haus. Wir tranken in der Küche noch ein Glas Chardonnay und gingen dann auch bald ins Bett. Ich wusste nicht, wie ich mich fühlte. Sollte ich froh darüber sein, dass ich mich jetzt endlich untersuchen lassen würde, oder sollte ich mich fürchten, weil ich mich jetzt endlich untersuchen lassen würde.

*

Am nächsten Morgen rief ich im Büro an, nahm mir wegen kurzfristiger familiärer Angelegenheiten, die keinen Aufschub erlaubten, frei – niemals hätte ich mich krank gemeldet - und machte einen Termin bei meinem Hausarzt. Ich sollte gleich kommen. Er würde mich schon irgendwie zwischen zwei andere Patienten schieben. Dr. Matthiesen kannte uns schon lange. Und er wusste, dass es etwas Ernstes sein musste, wenn ich für mich selbst um einen Termin bei ihm nachsuchte. Ich sollte nüchtern kommen, was mir nicht wirklich schwerfiel, weil ich in letzter Zeit ohnehin keinen rechten Appetit hatte, trank daher nur einen schwarzen Kaffee und verabschiedete mich von Sarah. Eigentlich wollte sie mich begleiten. Aber ich wiegelte ab. Sie hätte sicherlich selbst genug zu tun und es wäre ja nur eine Untersuchung. Sarah war nicht wohl dabei. Aber sie war auch froh, dass ich nun überhaupt bereit war, zum Arzt zu gehen. Sie wollte mich wohl nicht noch weiter drängen. Ich stieg ins Auto und fuhr los. Sie sah mir noch einen Moment aus dem Küchenfenster nach. Sie war unruhig. Hatte Angst. Um mich.

*

Ich musste nicht lange warten. Offensichtlich erwartete Dr. Matthiesen mich schon. Nach einem kurzen, aber intensiven Gespräch über mich und meine Beschwerden, ließ ich mich gründlich untersuchen. Großes Blutbild, Röntgen, EKG. Das volle Programm. So eingehend hatte ich mich noch nie durchchecken lassen. „Und?“, fragte ich meinen Arzt möglichst beiläufig. Ich hatte natürlich erwartet, nein, ich hatte inständig gehofft, dass er sagen würde, es sei soweit alles in Ordnung, ich solle aber dringend weniger rauchen oder am besten ganz aufhören, ich solle mich weniger Stress aussetzen, mal wieder richtig Urlaub machen und sowas. Was Ärzte so sagen. Aber das sagte er nicht. Er sagte stattdessen, dass er heute gar nichts sagen könne und sich das alles erst in Ruhe anschauen müsse und sich dann bei mir melden würde. Damit entließ er mich.

Ich war etwas verwirrt. Ich hasste es, warten zu müssen. Ich fühlte sich immer so klein, so ausgeliefert und abhängig, wenn ich auf etwas warten musste. Aber es blieb mir nun nichts anderes übrig. Also atmete ich tief durch, setzte mich in mein Auto. Eigentlich wollte ich nach Hause fahren. Aber irgendwie wollte ich auch nicht und hatte auf einmal mehr Lust, Sarah anzurufen und sie zu fragen, ob sie sich nicht ins Auto setzten wollte, sich mit mir in der Stadt treffen, bummeln und vielleicht irgendwo Sushi essen wollte. Ich war zwar kein ausgesprochener Sushi-Fan, aber ich wusste, wie sehr sie es liebte. Und was konnte ich mit diesem angefangenen Tag besseres tun, als ihn mit Sarah zu verbringen? Ich rief sie an und Sarah freute sich sehr über meinen überraschenden Vorschlag. In letzter Zeit kam das viel zu selten vor. Irgendwie hatte ich alle Spontaneität, die sie, so glaubte ich zumindest, so an mir liebte, in den vergangenen Wochen und Monaten verloren. Umso glücklicher war sie jetzt.

Eine Stunde später trafen wir uns in einem Parkhaus in der Stadt. Wir schlenderten durch die Ernst-August-Galerie, einer neuen Einkaufspassage, die wir noch nie besucht hatten. Wir stöberten durch die Geschäfte und stellten schnell enttäuscht fest, dass diese neue Einkaufspassage allen anderen Galerien, die es in Hannover schon gab, fast aufs i-Tüpfelchen glich. Die gleichen Läden, die gleichen Fressbuden, die gleichen Coffee-Shops. Wir beschlossen, in die Altstadt am Leine-Ufer zu gehen. Da gab es wenigstens noch ein paar unabhängige Boutiquen, richtige Cafés und urige Kneipen. Außerdem war in der Seilwinderstraße ein ausgezeichnetes kleines Sushi-Restaurant. Nachdem wir ein bisschen shoppen waren – ich brauchte dringend ein paar neue Hosen und Sarah wünschte sich schon lange eine neue Übergangsjacke -, gingen wir essen. Ich war froh, heilfroh, dass ich mich endlich setzen konnte. Wir waren zwar noch nicht viel gelaufen, aber irgendwie war ich schon ziemlich erledigt. Sarah bestellte sich eine Variation von Maki- und Nigiri-Sushi, dazu einen trockenen Weißwein. Ich mochte nichts essen und trank Kaffee und stilles Wasser. Ich hatte schon wieder diese Übelkeit, die mich seit einigen Tagen zu verfolgen schien. Ich schob es auf eine Magen- und Darminfektion, die schon seit Wochen – wie jedes Jahr im Herbst – grassierte. Aber irgendwas in mir machte sich Sorgen.

Nachdem ich die Rechnung beglichen hatte, gingen wir Hand in Hand zurück zu unseren Autos, verabschiedeten uns im Parkhaus und fuhren nach Hause. Ich war extrem bedient und glücklich, dass ich allein in meinem Auto sitzen durfte. Allein und ohne reden zu müssen. Es war gerade fünfzehn Uhr, als wir zuhause ankamen. Zu spät, um jetzt noch einen verspäteten Mittagsschlaf zu machen, zu früh, um sich in unsere Küche zu setzen und eine Flasche Wein aufzumachen. Wir entschieden uns dafür, Kaffee zu machen, es uns auf dem Sofa gemütlich zu machen und uns unseren Lieblingsfilm „Au chocolat“ mit Juliette Binoche und Johnny Depp anzuschauen. Wir liebten diesen Film. Eigentlich liebte nur Sarah diesen Film. Ich ertrug ihn nur und genoss es, dass Sarah ihn liebte. Hinterher hatten wir immer grandiosen Sex. Ich war allerdings hundemüde und schlief schon nach der ersten Viertelstunde ein. Sarah bemerkte es sofort. Sie betrachtete mich. Ich atmete zwar ganz ruhig und dennoch wusste sie, so ganz tief in ihr wusste sie es, dass sie Angst haben sollte. Sie wickelte sich ihren Schal, den sie um den Hals trug, etwas enger. Sarah trug eigentlich immer Schals. Sie fand es gemütlich und so ein Schal setzte immer einen wunderbaren farblichen Akzent. Aber heute brauchte sie ihn, weil sie fror. Obwohl sie sich unter ihrer Wolldecke eingekuschelt hatte. Vielleicht war es auch die Angst, die sie frieren ließ.

*

Es war schon dunkel, als ich wieder wach wurde. Der Fernseher war aus und ich war allein auf dem Sofa. Sarah klapperte in der Küche herum. Es roch nach Essen. Irgendwie roch es nach etwas Asiatischem. Ich nahm Curry wahr. Und Koriander. Ich stand auf und ging in die Küche, wo Sarah am Herd stand. Ich schlich mich leise an und umarmte sie von hinten. „Oh, da bist du ja wieder.“, freute sie sich. Es gibt gleich Essen. „Ich rieche es, ich sehe es und ich habe einen Mordshunger.“, versicherte ich fröhlich. In Wahrheit hatte ich überhaupt keinen Appetit. Ich konnte den Geruch von Essen ehrlicherweise kaum ertragen. „Möchtest du ein Glas Wein?“, fragte ich sie. Sarah nickte, ich zog eine Flasche Weißwein auf, füllte zwei Gläser und wir stießen miteinander an. „Auf dich!“, sagte ich. Sarah antwortete mit einem stillen Nicken.

Ein Mal noch!

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