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Zweites Kapitel
ОглавлениеAls Dr. Matthiesen am nächsten Tag anrief und mich bat, erneut – am besten in Sarahs Begleitung – in die Praxis zu kommen, wusste ich, dass es schlimme Nachrichten gab. Warum sonst sollte ich nochmal persönlich vorbeikommen? Warum sonst konnte er mir das nicht am Telefon sagen? Warum sonst sollte Sarah mitkommen? Ich war wie erstarrt. Ich sagte Sarah nicht, dass Matthiesen mir riet, mich von ihr begleiten zu lassen. Ich wollte nicht, dass sie mich begleitete. Wenn es, wie zu befürchten war, schlimme Nachrichten gab, wollte ich sie zunächst allein hören. Ohne sie. Also fuhr ich allein. Dr. Matthiesen redete nicht lange drum herum. Er kam gleich auf den Punkt. Ich war wie erschlagen.
*
Scheiße. Scheiße. Scheiße. Ich hatte also Krebs. So eine verdammte Scheiße. Dieses Scheiße-Gefühl war das erste echte Gefühl seit Tagen. Vorher war alles, was ich fühlte so dumpf gewesen. So unwirklich. Selbst die Angst, die ich vor der Wahrheit hatte, hatte diese Dumpfheit. So, als hätte das nicht wirklich etwas mit mir zu tun. Als sei ich nur Zuschauer. Jetzt realisierte ich, dass ich kein Zuschauer war. Dass ich vielmehr der Hauptdarsteller war. Der Protagonist in einem Film, den ich nicht mochte und für den ich auch gar nicht vorgesprochen hatte. So eine gottverdammte Scheiße. Tränen schossen mir in die Augen. Ich musste irgendwo anhalten. Ich saß in meinem Auto und weinte. Ich weinte hemmungslos. Wie beschissen sich das anfühlte. So hatte ich zuletzt beim Tod meines Vaters geweint.
*
Sarah war sauer. Sauer, dass ich allein zum Gespräch mit Dr. Matthiesen fahren wollte. Dass ich sie nicht dabeihaben, sie nicht an meiner Seite wollte. In diesem Moment. Sie wusste, dass es nicht gegen sie ging, dass ich solche Sachen immer erst einmal allein anging. Ich musste so etwas immer zunächst allein durchdenken, durchfühlen und durchleiden. Sie war auch nicht richtig sauer, sie war eher traurig. Oder enttäuscht. Oder alles zusammen. Ja, alles zusammen. Auch als mein Vater im letzten Jahr starb, war das so. Sarah wäre natürlich bei mir gewesen, sie hätte mich gehalten und mir gezeigt, dass sie immer, wirklich immer für mich da sein würde. Aber ich wollte das nicht. Ich zeigte früher nicht gern, wie es mir ging. Machte eher aus meinem Herzen eine Mördergrube, als dass ich mir von anderen hinter die Stirn, in meine Seele, in mein Herz schauen ließ. Ich zog mich damals mit einer Flasche Bordeaux in mein Arbeitszimmer zurück und hörte die alten Louis Armstrong-Songs, die mein Vater so geliebt und die ich ihm am Sterbebett stundenlang vorgespielt hatte. Sarah saß allein in der Küche und litt mit und wahrscheinlich noch mehr an mir, und fühlte sich in eine Reihe mit den anderen gestellt. Mit denen, die ich nicht zu meinem „inner cirle“ zählte und von denen ich mir schon gar nicht in die Karten gucken ließ. Aber sie war meine Frau. Das tat ihr damals sehr weh. Warum ließ ich in solchen Momenten niemanden an mich heran? Nicht einmal sie?
*
Sarah wartete nach dem Gespräch mit Matthiesen auf mich. Nervös. Ungeduldig. Sie fragte sich, warum ich mich nicht meldete. Sie wusste, dass mein Termin bei meinem Arzt jetzt mehr als drei Stunden her war. Warum rief ich nicht an und sagte ihr, was ich von meinem Arzt gesagt bekommen hatte? Sie wusste ja, dass es keinen Sinn hatte, mich zu drängen. Ich würde dann nur wieder ganz dichtmachen. Irgendwann konnte sie ihre eigene aufgeregte Angst wohl nicht mehr ertragen und rief mich an. Aber sie erreichte nur meine Mailbox. Sie wurde natürlich immer unruhiger, tigerte durch das Haus und versuchte verzweifelt, die Zeit mit irgendwelchen sinnlosen Beschäftigungen totzuschlagen.
*
Irgendwann hatte ich mich etwas gefangen. Ich saß in meinem Auto und rauchte eine Zigarette. Ich zog den Rauch tief ein. Es tat weh, aber das spielte jetzt keine große Rolle mehr. Es tat ja schon lange weh. Ich nahm diesen Schmerz nur ganz unterschwellig wahr und starrte stumpf vor mich hin und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war völlig leer. Mir war nicht danach zumute, nach Hause zu fahren und über das zu reden, was Dr. Matthiesen mir da eröffnet hatte. Wie sollte ich das meiner Frau auch beibringen? Dass ich Krebs hatte. Dass ihr geliebtes Leben – so oder so – vorbei sein würde. Dass nichts mehr so sein würde, wie bisher. Dass ich sterbenskrank war, dass ich vielleicht sogar zum Tode sterbenskrank war. Wie sollte ich ihr das erklären? Dafür hatte ich damals keine Worte. Nicht für Sarah. Ich hatte ja nicht mal einen klaren Gedanken für mich selbst.
Ich startete meinen Wagen und fuhr wieder weiter. Einfach weiter. Geradeaus. Raus aus der Stadt. Sobald ich die Stadt verlassen und auf der Landstraße war, gab ich Gas. Viel Gas. Der V12-Motor brüllte los. Ich fuhr schneller, als ich es normalerweise tat. Und ich fuhr immer etwas zu schnell. Aber jetzt drückte ich das Pedal voll durch. Die Bäume jagten an mir vorbei. Ich schloss für einen Moment, nur für einen winzigen Moment die Augen und ließ das Lenkrad los. Wie wäre es, wenn ich jetzt einfach weiterführe? Einfach so. Bis mich irgendetwas abrupt zum Stehen bringen würde. Ein Baum, ein Brückenpfeiler, ein entgegenkommendes Auto vielleicht. Ich erschrak. Ich riss die Augen auf, übernahm hastig wieder die Kontrolle über mein Auto und bremste. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Am nächsten Feldweg hielt ich an und stieg aus. Ich ging ein paar Schritte, steckte mir eine Zigarette an und atmete tief durch. Ich musste Sarah Bescheid sagen. Jetzt. Es war nicht fair, sie so hinzuhalten. Ich schaltete mein Handy wieder ein und sah, dass Ben versucht hatte, mich zu erreichen. Und eine SMS geschrieben hatte. Ich rief Sarah an.
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Sarah war aufgeregt und erleichtert zugleich, als sie meine Stimme hörte. „Mark, wo bist du? Geht es dir gut? Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Sag, geht es dir gut?“ Sie schrie es fast ins Telefon. Sarah wusste natürlich, dass es mir wahrscheinlich nicht gut gehen würde. Warum sonst hatte ich mich nicht gemeldet? „Ich komme jetzt nach Hause.“, sagte ich und sie hörte an meiner Stimme ganz sicher, dass es schlimmer war, als sie befürchtet hatte. „Ja, komm nach Hause. Ich warte auf dich. Ich liebe dich. Fahr vorsichtig. Bitte.“
Sarah ging in die Küche und setzte Kaffee auf. In ihr spielten die Gefühle verrückt. Da war Erleichterung darüber, dass ich mich endlich gemeldet hatte, aber da war auch Angst vor dem, was ich ihr zu sagen haben würde, eine irrwitzige Hoffnung, dass es vielleicht doch nicht so schlimm sein würde, und eine tiefe Hilflosigkeit, weil sie nicht wusste, wie sie mir wohl helfen könnte, wenn sich doch alle Befürchtungen bewahrheiten sollten.
Sie setzte sich an den Küchentisch und wartete. Sie starrte aus dem Fenster auf die Straße. Eigentlich liebte sie diesen Platz. Vor allem in den Wintermonaten saßen wir oft in der Küche und erzählten uns gegenseitig von den Erlebnissen des Tages, flirteten oder blödelten herum. Erst bei Kaffee, dann bei einem guten Glas Wein. Es war ein ganz vertrauter Ort. Aber jetzt löste dieser Platz Unruhe in Sarah aus. Sie konnte förmlich durch das Schnaufen, Schlürfen und Fauchen der Kaffeemaschine hindurch das Ticken der Küchenuhr hören. Die Zeit zog sich wie Kaugummi. Sie goss sich einen großen Becher Kaffee ein und steckte sich eine Zigarette an. Seit kurzem rauchte sie wieder. Leider. Sie hatte damit aufgehört, als sie mit Paula schwanger war. Aber vor ein paar Monaten fing sie auf irgendeiner Party aus einer Weinlaune heraus blöderweise wieder damit an. Nach über zwanzig Jahren. Wie bescheuert. Einfach so. Erst eine, dann zwei, dann immer mehr. Bis sie wieder ihr altes Pensum brauchte. Wahrscheinlich sogar eher mehr. Ich rauchte eigentlich schon immer. Ich hatte zwar auch schon ein paar Mal versucht, damit aufzuhören, war aber immer daran gescheitert. Irgendwie war ich zu schwach. Aber ich rauchte nur in meinem Arbeitszimmer oder im Garten. In der Küche rauchten wir erst wieder, seitdem die Kinder ausgezogen waren.
*
Seitdem auch Ben das elterliche Nest verlassen hatte, waren wir uns noch nähergekommen. Noch näher. Wir waren uns immer schon in besonderer Weise nahe. Wir konnten irgendwie gar nicht ohne einander. Wollten wir auch gar nicht. Ich fand immer, dass wir – für ein so lange verheiratetes Paar – einen ungewöhnlich zärtlichen Umgang miteinander pflegten. Auf andere machten wir, so dachten wir, oft den Eindruck eines ganz frisch verliebten Paares. Manch einer, der uns nicht kannte und nur beobachtete, im Café, beim Spazierengehen oder sonst irgendwo, mochte vielleicht auch denken, wir hätten eine Affäre miteinander. Es knisterte immer noch. Jeden Tag. Andere Beziehungen machten auf uns oft so einen abgenutzten, vom Alltag verschlissenen, fahlen Eindruck. Da gab es in unserem Bekanntenkreis genügend Beispiele. Da wurde dann nicht selten mit einem gelegentlichen außerehelichen Flirt oder einem heimlichen Treffen versucht, einen flüchtigen Glanzpunkt in das sonst so farblose Dasein eines ICH innerhalb eines zäh dahinfließenden WIR zu setzen. Ein WIR, in dem das ICH unterging. Mit der Zeit untergehen musste. In dem sich die eigene Persönlichkeit in die ‚Müllers‘, die ‚Meiers‘ oder die ‚Schmidts‘ auflöste. Wir waren für unsere Freunde, für unsere Bekannten nie die ‚Bornstedts‘. Wir waren immer Sarah und Mark. Allerdings haben wir auch immer etwas dafür getan. Haben uns als Paar nicht vom Alltag einlullen, nicht von unseren Rollen als Mutter und Vater funktionalisieren, nicht von unseren Jobs unterpflügen lassen. Haben immer ganz bewusst dafür gesorgt, dass wir uns als Paar nicht aus den Augen verloren, daran gearbeitet, dass wir im anderen immer das DU für das eigene ICH erkennen konnten. Sarah und Mark. Ich hielt das jedenfalls für die Basis unseres Glücks.
Und seit die Kinder aus dem Haus waren, hatten wir noch mehr Zeit für uns. Unser Tagesablauf richtete sich nur noch nach uns selbst. Nach unseren Bedürfnissen. Und danach, welche Freiräume uns unsere Jobs ließen.
*
Das wummernde Gedonner, das mein Auto von sich gab, riss Sarah aus ihren Gedanken. Mit dem englischen Sportwagen hatte ich mir vor zwei Jahren einen Kindheitstraum erfüllt. Ich stand schon immer auf die Autos der britischen Nobelmarke und war stolz wie Oskar, als ich ihn endlich beim Händler abholen konnte. Wie hatte ich diese ganzen Familienkutschen, die ganzen Tourans und Sharans, die Zafiras dieser Welt, die ganzen Volvo und Passat Kombis und wie sie alle hießen, satt. Als Paula und Ben auszogen, führte mich mein erster Weg zum Jaguar-Händler. Nie wieder ein Van. Ich freute mich wie ein kleines Kind. Sarah hörte mich immer schon von Weitem. Das war nicht zu überhören. Ihr war das manchmal fast peinlich. Aber sie freute sich auch mit mir. Ich fuhr die schmale Auffahrt von der Straße zum Haus hinauf. Ihr Herz raste. Sie wusste nicht, ob sie mir entgegenlaufen oder lieber in der Küche auf mich warten sollte. Sie hörte die Wagentür klappen, hörte meinen Schlüssel im Schloss der Haustür, hörte, wie sie sich öffnete und wieder schloss, hörte, wie ich mein Schlüsselbund in die Schale auf dem Sideboard am Eingang warf, und dann hielt sie es nicht mehr aus. Sie ging mir entgegen.