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Viertes Kapitel

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Sarah erschrak ein wenig, als sie mich im Flur sah. Ich sah offenbar schlecht aus. Richtig schlecht. Viel schlechter als in den vergangenen Tagen. Ich fühlte mich auch so. Ich hängte meinen Mantel an die Garderobe und streifte mir die Schuhe von den Füßen. Ich stand da und sah sie an. Sie sah mich an. Sie sah so hilflos aus. Ich wohl auch. Sarah spürte irgendwie meinen Schmerz. Sie senkte den Blick und ging auf mich zu, nahm mich in den Arm. Ich rührte mich nicht. Ich stand einfach da, ließ die Arme hängen und mich von meiner Frau halten. Wir standen lange da. Gefühlt sehr lange. Wir standen da und sagten nichts. Wir hielten uns nur. Was hätten wir auch sagen sollen? Irgendwann machte ich mich los. „Haben wir Weißwein kalt?“ Sarah nickte. Wir gingen wortlos in die Küche. Ich ließ mich auf meinen Stuhl fallen, Sarah öffnete den Kühlschrank, zog eine Flasche Chardonnay heraus, stellte sie auf den Tisch, reichte mir den Korkenzieher und holte zwei Gläser aus dem Schrank. Dann setzte sie sich auch. Wir saßen uns gegenüber. Ich sah irgendwie blicklos auf den Korkenzieher in meiner Hand. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Und vor allem nicht, wie ich es sagen sollte. Ich hatte es ja selbst noch nicht verstanden. Geschweige denn akzeptiert. Wie auch? Mein Leben sollte zu Ende sein. Wie sollte ich das akzeptieren? „Mark?“ Sarah brach leise das Schweigen. Ich guckte sie kurz an. „Ja“. Ich verstand es als Aufforderung, den Wein zu öffnen. Ich wollte es so verstehen. Ich fummelte die Banderole ab und drehte den Öffner langsam in den Korken. Öffnete die Flasche, roch am Korken und goss die Gläser voll. Vermied es, Sarah anzuschauen. Nahm mein Glas in die Hand, trank aber nicht. Starrte hinein. Starrte in mein Glas, als würde ich darin irgendetwas suchen. Vielleicht die Antwort auf die Frage, wie ich es ihr sagen sollte? Aber ich fand keine. Sarah nahm einen Schluck. Es war ihr Lieblingswein. Ein 2011er Chardonnay Concilio aus dem Trentino. Strohgelbe Farbe; fruchtiges Bouquet, das von Banane über Apfel, bis hin zu Tabak oder Honig reicht; voller und harmonischer Geschmack. Heute schmeckte er seltsam bitter.

Irgendwann seufzte ich schwer, und ohne den Blick aus meinem Glas zu heben sagte ich kaum hörbar: „Ich habe Krebs.“ Dann schossen mir Tränen in die Augen. Sarah sah mich bestürzt an. Sie konnte nichts sagen. Sie guckte nur völlig entgeistert. So, als hätte ihr gerade jemand gesagt, dass ihr geliebter Mann Krebs hätte.

„Ich habe Krebs.“ Meine Stimme zitterte, als ich es wiederholte. Es hörte sich so krank an, als ich das sagte. Es war so fremd für mich. Ich sah Sarah an. Meine Augen schienen wohl so etwas wie, „was soll ich denn jetzt machen? Hilf mir doch!“, zu schreien. Es schnürte Sarah die Luft ab. Sie stellte ihr Glas ab, stand auf, ging um den Tisch herum und hockte sich an meine Seite. „Schatz, was sagst du da?“, fragte sie mit ungläubigem Entsetzen in der Stimme. „Bitte, Mark, sag, dass das nicht…“ Ich nickte und drehte den Kopf zur Seite. „Doch.“ Sarah nahm meine Hand. „Das… kann doch nicht…“. Ich nickte nochmal. „Doch“, seufzte ich, „leider doch.“ Sarah stand auf und ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen. Sie trank einen großen Schluck. Sie stand wieder auf, ging zum Kühlschrank, auf dem ihre Zigaretten und ihr Feuerzeug lagen. Sie zündete eine für sich und eine für mich an. Sie setzte sich wieder und hielt mir eine hin. Ich nahm sie, zog den Rauch tief ein. Wir saßen uns schweigend gegenüber. Nach einer Weile sagte ich, auf die Zigarette in meiner Hand weisend: „Genau das ist der Scheiß.“ Sarah begriff allmählich. Sie sah ihn an: „Die Lunge?“ Ich nickte nur wortlos. Langsam. Mit geschlossenen Augen. Sarah drückte hastig ihre Zigarette aus. Sie versuchte den Qualm über dem Tisch mit den Händen weg zu wedeln. Das war natürlich sinnlos. „Lass.“, sagte ich nur. „Lass das.“

Sarah wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie war wie vor den Kopf gestoßen. Sie wollte etwas sagen. Sie hatte das Gefühl, dass sie etwas sagen musste. Sie suchte sich die Worte mühsam zusammen. Mit einem Kloß im Hals versuchte sie es: „Und jetzt?“ Ich guckte sie achselzuckend an. „Was hat Dr. Matthiesen denn gesagt? Wie…, wie geht’s denn jetzt weiter?“ Ihre Stimme klang ängstlich, flehend, hilflos. Ich zuckte nochmal mit den Schultern. Ich holte tief Luft. „Ich weiß es nicht, Sarah. Ich weiß es wirklich nicht. Er wird jetzt irgendwas in die Wege leiten.“ Ich zog an meiner Kippe, inhalierte den Rauch tief und blies ihn durch die Nase wieder aus. „Ich weiß nicht was. Operation, Chemo, sowas. Er meldet sich. Morgen. Oder übermorgen.“ Ich muss verzweifelt geklungen haben. So kannte Sarah mich nicht. Das machte ihr Angst. „Er muss doch irgendwas Konkretes gesagt haben!“, drängte sie mich. Ich guckte mich hilflos in der Küche um. Aber mit den Tränen in den Augen konnte ich ohnehin kaum etwas erkennen. Was hatte mein Arzt eigentlich gesagt? Ich suchte stochernd in der Watte meiner Erinnerung. Ich Idiot hatte nicht richtig zugehört, hatte nur wahrgenommen, dass ich irgendein, sonstwiezelliges, ich glaube, ein kleinzelliges Lungen-Karzinom hätte. An viel mehr erinnerte ich mich in diesem Augenblick nicht. Vielleicht wollte ich mich auch nur nicht erinnern. Ich stammelte herum und sagte fast entschuldigend: „Ich hab mich geärgert, dass er das einfach so rausgehauen hat. Der hat einfach gesagt: Herr Bornstedt, Sie haben Krebs. Einfach so.“ Meine Stimme kippelte bedrohlich und mir traten noch mehr Tränen in die Augen. „Einfach so!“ Ich stellte mein Glas auf den Tisch und verbarg mein Gesicht in meinen Händen. Meine Augen konnten das Wasser nicht mehr halten und ich heulte los. Ich schluchzte, wie ich es noch nicht erlebt hatte. Selbst beim Tod meines Vaters nicht. Sarah hatte mich so noch nie erlebt. Auch sie musste jetzt heulen. Ich tat ihr so leid. Sie tat sich so leid. Unsere Kinder taten ihr so leid. Sie streichelte meinen Kopf, sie versuchte, mich zu beruhigen. Aber sie konnte mich nicht beruhigen. Ich konnte mich nicht beruhigen. Ich weinte hemmungslos. Ich wusste, dass sie eigentlich gar nicht ertragen konnte, mich so zu sehen. Ich konnte ihr aber nicht helfen. Sie konnte sich aber auch nicht entziehen, so gern sie das vielleicht auch getan hätte. Sich entzogen. Mich entzogen. Nicht, weil sie das nicht ertragen wollte, nein, sie konnte es nicht ertragen. Und zum ersten Mal verstand, nein, ahnte sie vielleicht, warum ich andere, warum ich in bestimmten Situationen nicht mal sie selbst an mich heranließ. Sie sah, wie allein ich war. Noch nie fühlte sie sich mir gleichzeitig so nah und so fern wie in diesem Moment, sagte sie mir später mal. Sie fühlte sich unendlich hilflos.

*

Ich wusste nicht, wie lange wir da noch saßen. Irgendwann, es muss schon ziemlich spät gewesen sein, klingelte das Telefon. Sarah schaute kurz auf das Display. Paula. Sie ließ es klingeln. Sie wollte jetzt nicht mit unserer Tochter sprechen. Sie konnte es auch gar nicht. Wir redeten auch nicht mehr viel an diesem Abend. Zumindest nicht über meine Krankheit. Nicht über meine Ängste, auch nicht über Sarahs Ängste. Nicht über das, was nun kommen würde. Wie auch? Wir waren sprachlos. Aber nicht aneinander. Das waren wir nie. Wir fanden immer Worte füreinander. Nein, wir waren miteinander sprachlos. Wir waren erschöpft und brauchten eine Pause. Irgendwann gingen wir ins Bett. Drei, vier Flaschen Concilio später vielleicht. Wir waren todmüde.

Ein Mal noch!

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