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Siebentes Kapitel

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Wir schwiegen, als wir vom Gespräch mit Professor Süntel nach Hause fuhren. Wir wussten beide nicht, was wir sagen sollten. Wir hatten keine Worte für das, was in uns vorging. Wir hatten unsere Worte im Sprechzimmer des Professors verloren. Sarah versuchte, sich irgendwie auf den Feierabendverkehr zu konzentrieren und ich starrte ausdruckslos aus dem Seitenfenster. Die Bestrahlungen sollten schon nächste Woche beginnen. Daran würde sich dann die orale Chemotherapie anschließen. Der Professor riet uns dazu, uns für eine orale Chemo zu entscheiden, da die Nebenwirkungen wesentlich geringer waren, als bei der Infusion über einen Port. Zwar sei die orale Form nicht ganz so wirksam, aber die Lebensqualität dafür umso höher. Und darum ginge es jetzt. Um einen möglichst langen Erhalt der Lebensqualität. Nur darum. Ich kam mir vor wie ein zum Tode Verurteilter, dessen Hals aber zur Vorbeugung gegen die zu erwartenden Abschürfungen durch den rauen Strang wochenlang vorher mit Vaseline eingecremt werden sollte.

Als wir zuhause ankamen, gingen wir wortlos ins Haus. Ich ging ins Wohnzimmer, zog zwei Flaschen Chianti aus dem Weinregal und verschwand in meinem Arbeitszimmer. Ich wollte allein sein. Sarah stand hilflos im Flur. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Normalerweise sagte ihr Gefühl ihr recht verlässlich, was zu tun war. Aber es schwieg. Sie ging in die Küche, zündete sich eine Zigarette an, schaute einen Moment aus dem Fenster, blies den Rauch an die Scheibe und sah, wie sich der warme, nikotinversetzte Atem auf dem kalten Glas niederschlug, sich zu einer milchigen Wolke verdichtete, allmählich wieder verschwand und einen dünnen schmierigen Film darauf hinterließ. Sie drückte ihre Kippe aus und zischte ein leises ‚Scheiße‘ heraus. Es war ein vorwurfsvolles ‚Scheiße‘. Sie wusste aber nicht, wem sie es vorwerfen sollte.

Sie ging zum Wasserkocher und machte sich einen Pfefferminztee. Dann setzte sie sich an den Küchentisch. Ihr Blick verlor sich in ihrer Tasse. Ihre Gedanken verloren sich im Nichts. Noch nie hatte sie sich so verloren gefühlt. Es war alles so unwirklich. So irreal, oder besser: surreal. Was war das, was ihnen da gerade passierte? War das überhaupt real? War das wirklich? Oder ein schlechter Scherz? Oder ein böser Traum? Sie trank einen Schluck von ihrem Tee. Er war heiß, sehr heiß und fühlte sich sehr real an. Ein Gedanke füllte auf einmal die Leere. Oder war vielleicht das, was sie bisher als ihr Leben kannte und liebte nur ein Traum gewesen, aus dem sie jetzt erwachen musste? War das Leben wie eine Bilanz, die immer ausgeglichen sein musste? Nach dem Motto: So, jetzt hast du fast fünfzig Jahre Glück gehabt, jetzt müssen wir mal ein bisschen dein Unglück in Schwung bringen, damit sich das am Ende ausgeht! Und wer, zum Teufel, ist der Buchhalter in dieser beschissenen Rechnung? Sarah hatte schon immer einen leichten Hang zum Sarkasmus. Religion und irgendein Gott, der hinter all dem stecken könnte, war für sie keine belastbare Größe. Aber sie bekam auch Angst. Sie war jetzt fast fünfzig und hatte bisher in der Tat ein glückliches Leben. Sie hatte eine behütete Kindheit, ihre Eltern waren liebevoll, förderten sie und sie hatte alles, was sie brauchte und sich wünschte. Das einzige, was sie vielleicht manchmal vermisste, waren Geschwister. Sie hatte sich immer eine Schwester gewünscht. Vielleicht hing sie deshalb so an der Freundschaft zu ihrer Tochter? Sah sie in Paula etwa die Schwester, die sie nie hatte? Seit Paula erwachsen war, war es in der Tat ein wenig so. Sarah behandelte sie manchmal tatsächlich eher wie eine Freundin, eine Schwester, als wie eine Tochter. Ich hatte ihr das auch schon ein paar Mal gesagt. Ich fand das nicht richtig. Ich dachte, sie überfordere unsere Tochter damit. Schließlich war sie noch nicht so erwachsen, wie sie immer meinte. Sie überhörte das immer.

Sie hatte einen tollen Beruf, sie hatte einen wunderbaren Mann, wie sie selbst zumindest immer behauptete, sie hatte tolle, und vor allem gesunde Kinder, sie hatte ein wunderschönes Haus, sie hatte keine finanziellen Sorgen, konnte reisen und sich frei entfalten. Ja, sie war sogar ausgesprochen attraktiv, wie ich zumindest immer behauptete. Ich vertrat immer die Ansicht, dass Glück schön machen würde. Ja, sie war glücklich. Ihr kam auf einmal der Gedanke, dass es wahrscheinlich eine Menge Leute gab, die sie wegen ihres Glückes, nein, um ihr Glück beneideten. Kippte das Pendel jetzt? Wollte das Schicksal ihr jetzt beweisen, dass sie des Glückes, das sie ihr Leben lang hatte, vielleicht nicht würdig war? Hatte sie ihr Glück als zu selbstverständlich hingenommen, ihren Kredit aufgebraucht? Sie schaute auf den kleinen Rest Tee auf dem Boden ihrer Tasse. Sie überlegte lange, bis sie sich eine Antwort gab. Nein! Sie nahm das Glück nie als Selbstverständlichkeit. Für sie war Glück nie einfach nur die Abwesenheit von Unglück. Sie hatte einen glücklichen Start, sie durfte kennenlernen, was Glück ist, hatte aber auch gelernt, für ihr Glück zu arbeiten, es zu organisieren und sogar zu optimieren. Sie war sich ihres Glückes durchaus bewusst, sah es als eine enorme Lebenskraft, die sie dazu nutzte, ihr Leben positiv zu gestalten. Ihres und das Leben derer, die um sie herum waren. Innerlich schlug sie sich die kruden Gedanken aus dem Kopf. Es gab keine Bilanz. Und auch keinen Buchhalter. Es gab nur dieses Leben. Glück und Unglück.

Sie löste ihren Blick von ihrer Teetasse und hörte ins Haus. Es war still im Haus. Unerträglich still. Obwohl aus meinem Arbeitszimmer inzwischen das Adagio in G-Moll von Tomaso Albinoni zu ihr herüber weinte. Sarah hasste Albinoni. Nicht, weil sie das Adagio nicht schön fand, nein, es war sogar ein besonders schönes Stück klassischer Musik, aber sie hasste es, weil ich es immer dann hörte, wenn ich allein mit mir irgendeinen Kampf ausfocht. Wenn ich mich in mich selbst verkroch und niemanden, nicht einmal sie, an meinen Gedanken, an meinen Sorgen, an meinem ganzen gottverdammten Leid, an meinem Ich teilhaben ließ. Sarah hasste Albinoni, weil sie sich von ihm ausgesperrt fühlte. Ja, sie machte ihn, Tomaso Albinoni, für diese unerträgliche Stille im Haus verantwortlich. Sie warf mir nach einem lächerlichen Streit um irgendetwas sogar einmal vor, dass ich sie mit diesem Albinoni betrügen würde. Denn statt sich mit ihr auseinanderzusetzen, statt mich ihr und mich selbst endlich einmal zu stellen, verdammt noch mal, verzog ich mich mit ihm und seinem blöden Adagio wieder mal zurück in das Reich meiner Geheimnisse. Wir hatten zwei Tage nicht miteinander gesprochen. Aber es war auch der letzte Streit, den wir hatten. Heute war sie nicht sauer, heute fühlte sie sich ausgegrenzt. Ausgegrenzt und grenzenlos traurig. Es stand ja nicht nur mein Leben auf dem Spiel.

*

Ich saß an meinem Schreibtisch, hatte die Hände um mein Weinglas gelegt, die Augen geschlossen und wartete auf die Streicher, die nach den ersten Orgelklängen das Hauptthema übernehmen würden. Ich liebte diese Stelle, wenn die Violinen einem mit einem einzigen Streich tief ins Herz schnitten. Ich liebte das ganze Adagio. Kaum ein anderes Stück begleitete mich so oft in die entlegensten Winkel meiner Seele und verborgenen Empfindungen. Es war mein unangefochtenes Lieblingsstück. Zumindest, wenn ich meinen verborgenen Empfindungen begegnen wollte. Ich liebte diese Schwere, diese tragende Melancholie des Werks. Ich wusste natürlich, dass man es eigentlich nur Albinoni zuschrieb, denn so, wie es bekannt war, stammte es vom italienischen Komponisten und Musikwissenschaftler Remo Giazotto aus dem Jahr 1958 und basiert lediglich auf irgendwelchen Fragmenten, die auf Tomaso Albinoni zurückgehen sollen. Sollen! Aber das war mir jetzt sowas von egal. Vor allem jetzt. Jetzt war mir alles egal. Es war mir auch scheißegal, ob mein beschissener Tumor klein- oder großzellig, eng-, weit-, schmal-, breit- oder wie auch immer war. Es war ein scheißzelliger Tumor, der mich töten würde. Mich töten würde. Mich. Mein Herz brannte lichterloh und dieser Gedanke schnürte mir die Luft ab. Und meine verborgensten Gefühle, meine ganzen Ängste lagen so erbarmungslos offen vor mir nein, ich schwamm, ich ruderte so hilflos inmitten dieser überbordenden Empfindungen herum, dass ich darin zu ertrinken drohte. Ich konnte gar nicht so tief einatmen, wie ich Sauerstoff brauchte. Ich rutschte von meinem Stuhl auf den Fußboden. Ich war völlig fassungslos. Ich sterbe. Ich sterbe. Ich, Mark Bornstedt, sterbe. Tränen liefen mir die Wangen runter. Ich sterbe. Mitten im Leben. Ich weinte wie ein Schlosshund und Albinoni wies meinen Tränen den Weg hinaus aus meinem Innersten. Irgendwann hatte ich keine Tränen mehr. so viel Chianti ich auch in mich hineingoss. Ich war leer und schlug hart auf dem Grund des vertrockneten Meeres meiner Empfindungen auf. Und wie ein panisch nach Luft schnappender Fisch an Land, lag ich zuckend auf dem Teppich meines Arbeitszimmers. Weinkrämpfe schüttelten mich. Ich tat mir so unendlich leid.

Der Chianti und die Violinen von Albinoni begleiteten mich irgendwann in einen gnädigen Zustand zwischen Wachen und Schlafen. Ich lag auf der Seite, die Beine angezogen, die Hände zwischen den Knien, die Augen mal offen, mal geschlossen. Ich lag nur da. Und guckte ins Nichts. Außen nichts. Innen nichts. Die Möbel. Das Zimmer. Die Welt. Mein Selbst. Alles verschwand um mich herum.

Ein Mal noch!

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