Читать книгу Ein Mal noch! - Harry Flatt-Heckert - Страница 7

Fünftes Kapitel

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Ich wurde wach. Sarah lag noch neben mir. Mein Kopf tat höllisch weh, ich musste zur Toilette und draußen regnete es. Wie aus Eimern. Mein Kopf war leer. Außer Schmerzen war da nichts drin. Auch keine trüben Gedanken. Nichts. Der Restalkohol stellte sich wie eine schützende Wand vor mein Bewusstsein. Ich streckte mich und wünschte, ich könnte noch mal wieder einschlafen. Aber der Druck in meiner Blase und das Hämmern in meinem Denkraum ließen mich nicht. Ich ging aufs Klo, holte mir ein Aspirin, ging zurück ins Bett und schlief sofort wieder ein.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich noch mal geschlafen hatte, als Sarah mich mit einer Tasse Kaffee zärtlich weckte. Es fiel mir unglaublich schwer, wach zu werden. Ich sackte immer wieder weg und fand einfach nicht in meinen Körper zurück. „Mark!“ hörte ich Sarah leise sagen. „Mark, Schatz! Werd‘ mal wach.“ Ich hörte das zwar, hatte aber Schwierigkeiten, mich zurück ins Leben zu kämpfen. Ich hatte auch gar keine Lust. Es war so schön warm in meinem Bett, die Kopfschmerzen waren weg und ich wollte einfach liegen bleiben. Den Rest des Tages am liebsten verschlafen. Ich fiel von einem Kurztraum in den nächsten. „Mark!“ Sarah saß immer noch an meinem Bett und streichelte meinen Kopf. „Matthiesen hat angerufen.“ Ich war schlagartig wach. „Hm?“ Auf einmal war alles wieder da. Alles, was der Concilio und die Schwere der Nacht so barmherzig unter sich begraben hatten. Alles. Ich setzte mich mühsam auf. Draußen regnete es immer noch. Und es war windig. Sehr windig. Scheint der Herbst doch noch gekommen zu sein, dachte ich. „Und?“, fragte ich gequält. „Du sollst ihn zurückrufen. Er hat da irgendwas organisiert.“ Ich nahm einen Schluck Kaffee. „Und was?“, wollte ich wissen. Ich streckte mich. Erst jetzt merkte ich, was ich für Rückenschmerzen hatte. Es tat fies weh. Sarah zuckte mit den Achseln. „Weiß nicht, will er mit dir besprechen.“ Ich nickte. „Das Büro hat auch schon angerufen. Du sollst dich mal melden.“ Ich nickte nochmal. Sarah hatte sich wahrscheinlich nicht getraut, meinen Kollegen zu sagen, dass ich krank sei, sehr krank sogar, und sicher für eine Weile ausfallen würde. Das hätte ich auch nicht akzeptiert. Ich meldete mich eigentlich nie krank.

Ich streckte mich noch ein letztes Mal, stand auf und warf mir meinen Bademantel über. Ich fror. Es war heute irgendwie kalt und ungemütlich. Außerdem hatte ich einen ordentlichen Kater. Ich ging in die Küche, goss mir noch einen Kaffee ein und rief im Büro an. „Nein, keine Darminfektion wie alle, nein…, was Ernstes wohl…, wie es aussieht Krebs..., ja, ich habe Krebs…, die Lunge…, ja…, nein, ich weiß noch nicht, wie das weitergeht…, ja, mache ich, richte ich aus..., danke…, ich melde mich dann.“ Ich hörte mich für meine Ohren völlig normal an, fast mechanisch. Ich beendete das Gespräch, legte das Telefon beiseite und schaute wortlos aus dem Fenster. Sarah war schockiert. Sie stand im Türrahmen und hatte das kurze Gespräch mit angehört. Sie hatte erwartet, dass ich irgendetwas sagen würde, ja, vielleicht, dass ich mir so einen blöden Darmvirus eingefangen hätte oder so etwas. Das würde niemanden aufschrecken. Aber das sagte ich nicht. Ich sagte es so, wie es war. Dass ich das so sagte, das hat sie geschockt. Sie sagte nichts. Ich auch nicht.

Ich setzte mich an den Küchentisch, zündete mir eine Zigarette an und schaute auf die Titelseite der Tageszeitung, die noch unberührt auf dem Tisch lag. Aber ich las sie nicht, ich starrte sie nur an. Sarah überlegte kurz, ob sie mir sagen sollte, dass ich doch jetzt besser, bitte, nicht rauchen solle. Sie verkniff es sich. Das wusste ich selbst. Sie wusste auch, dass ich das selbst wusste. Sie wusste überhaupt nicht, was sie sagen sollte. Als ich meine Zigarette ausgedrückt hatte und weiter schweigend vor mich hinstarrte, sagte sie schließlich: „Matthiesen!?“ Ich schaute sie an. Wortlos. Irgendwie schaute ich auch durch sie hindurch. Ich nickte stumm. Ich griff mir das Telefon, wählte seine Nummer. Ich wurde von der Sprechstundenhilfe freundlich und überaus fröhlich begrüßt, als wollte ich mich zu einer Grippe-Impfung anmelden. Aber offensichtlich wusste sie, worum es ging und ich wurde gleich durchgestellt. Matthiesen erkundigte sich kurz danach, wie es mir und meiner Frau nach der gestrigen Nachricht ginge und eröffnete mir, dass er in der Medizinischen Hochschule für Freitag einen Termin bei einem gewissen Professor Süntel gemacht hätte. Die Kapazität auf diesem Gebiet. Da sei ich in allerbesten Händen. Ich wollte aber in niemandes Hände. Ich bedankte mich knapp und legte auf. Ich sah Sarah an. „Morgen Nachmittag soll ich in die MHH kommen.“ Es war erstaunlich, wie schnell das jetzt alles ging. Sonst musste man wochenlang auf einen Termin bei einem Arzt warten.

Ich trank noch einen Kaffee, warf einen Blick in die Zeitung, ging ins Wohnzimmer und schaute ein wenig fern. Ich bemühte mich, nicht nachzudenken. Bloß nicht nachdenken. Wir wollten auch nicht anfangen, wie wild im Internet zu recherchieren. Dazu wussten wir auch noch zu wenig. Auch Sarah wollte sich irgendwie ablenken. Sie hatte sich erst lustlos über einen Text für die Agentur hergemacht, für die sie arbeitete. Sie brauchte eine Pause vom Grübeln, vom Angsthaben. Aber sie konnte keinen vernünftigen Gedanken fassen und ging dann irgendwann einkaufen. Das Nötigste. Sie war froh, niemanden zu treffen, den sie kannte. Sie wollte nicht reden. Mit niemandem. Außer mit Paula und Ben vielleicht. Ja, besonders mit Paula hätte sie dann doch ganz gern gesprochen. Sarah und Paula waren sich sehr nahe, beinahe wie Freundinnen. Aber wir hatten uns darauf geeinigt, zunächst mit niemandem, auch nicht mit unseren Kindern, darüber zu reden. Was sollten wir sie verrückt machen, wo wir doch selbst noch nichts Genaues wussten?

Den Abend verbrachten wir wieder in der Küche. Sarah hatte eine Kleinigkeit zu essen gemacht. Sogar ich aß etwas. Nicht viel, aber immerhin. Sarah freute sich. Aber sie erschrak auch. Darüber, dass sie sich über so eine Nichtigkeit freute.

Nach dem Essen guckten wir uns ein paar Fotos von unserem letzten Urlaub auf Föhr an. Wir liebten Föhr. Wir versuchten jedes Jahr zumindest ein paar Tage in der friesischen Karibik – so wurde die Insel touristisch genannt, weil sie so geschützt zwischen Festland und den vorgelagerten Inseln Amrum und Sylt lag – zu verbringen. Wir wohnten möglichst immer in derselben Wohnung. Eine kleine Dachgeschosswohnung in einer alten Kate in Utersum. Am liebsten waren wir im Herbst oder im Winter da. Kaum Touristen, lange Spaziergänge am Strand, der Wind, die aufgewühlte See oder das bis zu den schützenden anderen Inseln reichende Watt, wenn das Meer sich zur Ebbe zurückgezogen hatte. Gutes Essen, am liebsten in unserem Lieblingsrestaurant „Sehliebe“, das direkt in den Dünen lag, guter Wein, gute Gespräche, viel Zeit, viel Sex. Zumindest, wenn die Kinder nicht dabei waren. Und in den letzten Jahren waren wir meist nur zu zweit dort. Die pure Erholung. Wir beschlossen, dass wir, wenn alles gut ginge oder wir zumindest das Schlimmste einmal hinter uns gebracht hätten, einen längeren Urlaub auf unserer Insel zu verbringen. Vielleicht könnte ich ja auch meine Reha dort machen und Sarah könnte mich dann besuchen? Es war das erste Mal, dass wir an irgendetwas dachten, denken konnten, was danach kommen oder sein könnte. Dieses Gefühl nahmen wir mit in die Nacht. Ein kleines, vorsichtiges, aber gutes Gefühl.

Am nächsten Morgen fuhr ich schon um neun Uhr in die Stadt zum MRT. Das ging völlig reibungslos. Allerdings bereitete mir das regelmäßige metallische Klopfen in der Röhre irgendwann zusätzliche Kopfschmerzen und ich war echt froh, als ich die halbstündige Prozedur hinter mir hatte. Die Ergebnisse, so teilte mir eine blutjunge Frau - wahrscheinlich eine Auszubildende - am Tresen mit, würden direkt an die MHH übermittelt.

*

Pünktlich um sechzehn Uhr saßen wir im Wartezimmer von Professor Süntel. Sarah war gefahren. Ich wollte erst nicht, dass sie mich begleitete, sagte ihr, dass das nicht nötig sei. Aber Sarah bestand darauf, mich zu begleiten. Sie bestimmte auch, dass sie fuhr. Auf der einen Seite hielt ich das für überflüssig. Vielleicht hatte ich auch nur Angst, dass ich ihr, wenn sie mich begleiten würde, nichts würde vormachen können, nichts herunterspielen oder für mich behalten würde können. Auf der anderen Seite war ich aber auch froh darüber, das nicht allein durchstehen zu müssen. Sarah war äußerst nervös und angespannt, auch wenn sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Das konnte ich sehen. Und genau davor wollte ich sie eigentlich immer bewahren. Aber nun war es so. Sie hatte wahnsinnige Angst. Wir hatten uns im Vorzimmer angemeldet und sollten noch einen Moment Platz nehmen. Es waren noch drei, vier andere Patienten da, die wohl auch darauf warteten, dass der Professor sich mit ihnen befasste und ihnen Wohl oder Weh verkündete. Sie blätterten nervös in irgendwelchen Illustrierten herum, schauten nur kurz hoch, als wir leise grüßend den Vorhof zur Hölle betraten. Man konnte die Angst, die alle in diesem Raum hatten, förmlich riechen. Wir suchten uns zwei nebeneinanderstehende freie Stühle und setzten uns. Ich griff mir eine abgegriffene Autozeitung aus dem Zeitschriftenständer und Sarah stöberte in ihrem Smartphone herum. Die Zeit schlich. Die ganze Zeit schon. Sie schleppte sich seit gestern Vormittag unglaublich zähflüssig durch den Tag. Wie Bitumen. Ich schaute alle paar Augenblicke auf die Uhr. Ich atmete schwer durch. Sarah klopfte mir sanft auf den Oberschenkel. Wie lange dauerte das denn noch?! Das Wartezimmer hatte sich mittlerweile geleert. Wir waren allein. Mit uns. Mit unserer Nervosität. Mit unserer Angst. Ich stand auf, ging zum Fenster, setzte mich wieder hin, schaute auf die Uhr, stand wieder auf, zapfte einen Plastikbecker Wasser aus dem Spender, seufzte, setzte mich wieder, griff mir eine andere Autozeitung, legte sie wieder weg und schaute wieder auf die Uhr. Sarah beobachtete mich. Endlich kam eine Sprechstundenhilfe und holte uns ab.

Professor Süntel war eine ausnehmend freundliche Erscheinung. Etwa so alt wie ich, etwas größer, sehr schlank, feingliederig, kurze dunkle Haare und eine rahmenlose Brille vor den braunen Augen. Als wir sein Sprechzimmer betraten, stand er auf und ging uns entgegen. „Guten Tag, Herr Bornstedt.“ Er streckte mir die Hand entgegen. „Guten Tag,“ erwiderte ich. Ich war positiv überrascht. Ich hatte etwas anderes erwartet. Mehr Distinguität vielleicht, mehr vornehme Zurückhaltung, mehr Etikette, mehr Distanz. Der Arzt wandte sich an Sarah: „Frau Bornstedt?“. Sarah nickte, lächelte vorsichtig und schüttelte seine Hand. „Bitte, nehmen Sie Platz.“ Professor Süntel machte eine einladende Bewegung in Richtung einer kleinen, ledernen Sitzgruppe. Sie setzten sich. „Herr Bornstedt…, ich will ehrlich sein.“ Er schaute auf die Papiere, die er vor sich auf dem Tisch hatte. Dann sah er mir in die Augen: „Ich habe mir die Ergebnisse der Voruntersuchungen angeschaut. Das sieht – er schüttelte ganz leicht den Kopf –, das sieht leider nicht ganz so gut aus, wie wir gehofft haben. Auch das MRT macht leider nicht viel Hoffnung.“ Sarah und ich schauten uns erschrocken an. Was hat der da gesagt? „Wie bitte?“ Meine Stimme war auf einmal ganz belegt. Ich musste mich räuspern. „Wie bitte?“, wiederholte ich. Mir stand wahrscheinlich das blanke Entsetzten im Gesicht. Sarah erging es nicht anders. Sie griff nach meiner Hand. „Wie meinen Sie das?“, fragte sie ängstlich. „Was heißt das?“ Professor Süntel sah ihr über den Rand seiner Brille hinweg in die Augen. „Das heißt…“, er machte eine Pause, „das heißt, dass wir nicht operieren können. Leider.“ Sarah schossen die Tränen in die Augen. Sie sah mich an. Aber ich war gar nicht mehr da. Ich war verschwunden. In mir selbst verschwunden. In Deckung gegangen. Ich saß nur noch körperlich da. Schweigend. Ich machte auf einmal einen völlig unbeteiligten Eindruck. Der Professor sah, dass ich in eine Art Schockzustand gefallen war, der mich wohl vor einem inneren Zusammenbruch bewahrte. Sarah wusste das natürlich nicht und versuchte, mich ins Gespräch zurückzuholen. Aber ich starrte nur abwesend vor mich hin und der Arzt signalisierte ihr, dass es so, wie es war, für den Moment in Ordnung sei. Für mich.

Er erklärte ihr auch, warum dieser Tumor aufgrund seiner Zellstruktur, wegen seiner Größe und vor allem wegen der bedenklich nahen Lage an der Aorta inoperabel war. „Aber wir können bestrahlen und sollten auch eine – speziell auf die Kleinzelligkeit dieses Tumors abgestimmte – Chemotherapie in Betracht ziehen.“ Sarah hörte zu. „Das könnte das Wachstum der bösartigen Zellen vielleicht etwas hemmen und uns etwas Zeit geben.“, ergänzte er. Sarah sah ihn entsetzt an. „Zeit?... wofür Zeit?“ Sie sah irritiert von mir zum Arzt und war völlig perplex. „Wovon reden wir?“ Der Professor sah sie mit ernstem Blick an. „Wir reden davon, dass Ihr Mann sehr, sehr krank ist, und wir nicht sehr viel tun können.

„Wird mein Mann sterben?“ Sarah hörte sich selbst diese Frage stellen und erschrak. Der Professor musterte sie intensiv. Dann wanderte sein Blick zu mir. Ich nahm jetzt irgendwie wieder am Geschehen teil. „Daran müssen wir jetzt noch nicht denken.“, antwortete er ausweichend. „Wichtiger ist, dass wir jetzt erst einmal tun, was wir tun können.“ Sarah war sprachlos, aber eine Frage bohrte doch in ihr. „Wie lange…? Süntel sagte, dass man das so pauschal jetzt nicht beantworten könne. Das hinge von ganz vielen, ganz unterschiedlichen Faktoren ab.

Ein Mal noch!

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