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KONTEXTE SIND DIE LANDKARTEN DES UNBEKANNTEN
ОглавлениеErinnern wir uns noch mal an die Geschichte in dem Institut in Berlin. Bewerten wir die Situation zu schnell, drehen wir uns um und sind enttäuscht. Dann sehen wir die Zusammenhänge nicht. Was bedeutet das? Bleiben wir noch einen Augenblick in Berlin: Gesundheit hat einen riesigen Stellenwert in unserer Gesellschaft. Viele Menschen leiden an chronischen Krankheiten: ein Drittel zum Beispiel an chronischen Schlafstörungen, ein weiteres Drittel hat Schlafprobleme – beides mit steigender Tendenz. Außerdem wird die Gesellschaft älter. Und wir leben in sehr verdichteten Wohneinheiten bei gleichzeitig steigender Einsamkeit. Alles Faktoren der Gegenwart. Wenn wir diese Zusammenhänge erkennen und mit der Idee von heilender Architektur verbinden, sehen wir Potenziale. Es sind die Kontexte, die uns helfen eine Situation einzuschätzen. Welche Kontexte beziehen sich auf das, was wir beobachten? Welche Arten von größeren Zusammenhängen können wir heute schon sehen? Können wir daraus Rückschlüsse ziehen auf das, was wir gerade beobachten?
Ein kleiner Tipp: Achten Sie sowohl auf Details wie auf das große Ganze – den Kontext. Die meisten Informationen dazwischen sind Allgemeinwissen, und daher wenig potenziell. Viel zu schnell wird unsere Aufmerksamkeit von Allgemeinplätzen verbraucht. Wenn ein Talentescout einem jungen Burschen beim Fußballspielen zusieht, achtet er nicht darauf, ob dieser das Tor trifft. Er schaut darauf, wie er sich bewegt, welche natürlichen Laufwege er nimmt. Er achtet auf Blickkontakte und Gesten. Kleinigkeiten, die für den normalen Zuschauer kaum auszumachen sind. Aber für den Scout machen diese Dinge den Unterschied. Zugleich sieht er das größere Bild, das er in seine Entscheidung mit einbezieht: Welche Talente werden gesucht, welche Clubs suchen welchen Stil? Wohin hat sich der Sport in den letzten Jahren entwickelt? Welches Talent kann den Unterschied machen? Details und Kontexte! Darauf kommt es an. Das Denken in Kontexten ist für viele Menschen schwer, es wird unseren Kindern sogar abtrainiert. Eine junge Mutter hat mir unlängst von ihrer Tochter erzählt. Diese sei ein sehr lebhaftes Kind und besucht die Volksschule. Ein Gespräch mit der Lehrerin des Kindes schilderte mir die Mutter so:
»Ihre Tochter ist sehr lebendig und wissbegierig.«
»Ja, das weiß ich. Auch zu Hause fragt sie mir ständig Löcher in den Bauch.«
»Tatsächlich denkt sie sehr vernetzt. Sie bringt in jeder Unterrichtsstunde Erfahrungen aus anderen Fächern mit.«
Eine kurze Pause.
»Aber gut. Wir werden sie trotzdem irgendwie durchbringen!«
Die Mutter war sehr aufgeregt. Sie konnte diesen Befund kaum fassen. War es nicht genau das, was wir in der modernen Arbeitswelt von den Menschen verlangen? Eigenständiges vernetztes Denken! In dieser Volksschule jedenfalls war es ein Problemfall. Ich vermute, das ist kein Einzelfall. Spielerisch zwischen Kontexten wechseln zu können, ist Basiswissen für das 21. Jahrhundert. Lassen Sie niemals zu, dass man Ihnen oder Ihren Kindern das abtrainiert.
Noch wesentlicher ist das beim Erspüren von Potenzialen. Darauf werden wir kaum sensibilisiert. Es lohnt sich, dieses vernetzte Wahrnehmen zu trainieren. Das können Sie jederzeit tun. Auch jetzt.