Читать книгу Ich mach mir die Welt - Harry Gatterer - Страница 8
ОглавлениеAls Kind saß ich häufig auf dem elterlichen Balkon. Ich beobachtete die Umgebung und fragte mich irgendwann: Was wäre, wenn das, was unser Haus umgibt, nicht mehr da wäre? Der Baum vor dem Haus, der Zaun. Das Nachbarhaus. Mit ein bisschen Übung gelang es mir, das Haus auszublenden, mit etwas mehr Anstrengung konnte ich mir den gesamten Ort mitsamt der Kirche, den Straßen und Wäldern als einfach nicht da vorstellen. Der Gebirgszug, auf den ich blickte – das Tiroler Kaisergebirge –, war allerdings schwer wegzubekommen. Aber auch das gelang mir irgendwann. Ich machte Fortschritte, bis ich sogar die Erde wegradieren konnte.
Meine Grenze waren die Sterne. Was wäre, wenn es auch die nicht mehr gäbe? Aber dann wäre ja nichts mehr da! Und was wäre dieses Nichts? Ich fand keine Lösung. Daraufhin habe ich mit diesem Spiel aufgehört. Was mir hingegen geblieben ist, ist dieses Gefühl von Leere. Was ist dieses Nichts? Das hat mich fasziniert. Kindlich naiv, jugendlich aktiv. Bis heute.
Dieses Nichts, das ich als Kind entdeckte, nenne ich Neugierde. Die unbändige Lust, den Dingen auf den Grund zu gehen. Die Versuchung, herauszufinden, was wäre, wenn. Ohne es zu wissen, habe ich dabei eine Technik der Zukunft erlernt: Denken in Möglichkeitsräumen. Man sagt auch Szenario-Technik dazu. Wenn ich das nur schon früher gewusst hätte! Stattdessen habe ich meine Neugier-Schübe immer auf die gleiche Weise ausprobiert. Da war zum Beispiel der Impuls zu erkunden, wie es wäre, wenn ich in Tirol Techno-Raves veranstalte! Als 18-Jähriger habe ich mit Freunden einen Verein gegründet, um genau das in meiner Freizeit zu machen – obwohl das damals völlig unvorstellbar war. Oder was wäre, wenn ich mit zwanzig ein Unternehmen gründe, obwohl ich dafür überhaupt keine Vorbilder hatte. Auch das habe ich gemacht. Oder was wäre, wenn man Virtual Reality nutzt, um Möbelplanungen zu machen; in einer Zeit, in der etablierte Möbelhändler mit dem Aufkommen von Ikea kämpften. Wieder etwas, das ich gemacht habe. Stets blieb ich neugierig und in Probierlaune.
Ganz offensichtlich war ich kein theoretischer Denker, eher ein Unternehmer. Gleichwohl habe ich früh verstanden, dass Theorie die Basis jeglicher Ideen sein sollte. Mit zwanzig habe ich mich nicht nur selbstständig gemacht, es war auch der Start in mein Leben mit den Büchern. Ich wollte auch auf Wissen bauen, das andere Menschen entwickelt und erforscht haben. Kein Tag vergeht seither, an dem ich nicht ein Buch in der Hand habe. Doch auch das Lesen war mir nicht genug. Buchinhalte sind das eine, der Mensch hinter den Zeilen noch mal etwas ganz anderes. Wie meine ich das? Wenn jemand ein Buch schreibt, reiht er Buchstaben aneinander. Als Leser interpretieren wir diese. Sie machen das übrigens auch gerade. Wenn man mit Autoren Gespräche führt, offenbaren sich Facetten, die nicht in Buchstaben passen. Hintergründe, biografische Begebenheiten, Emotionen. Betonungen, Motive und ungeklärte Assoziationen. Ich wollte die Menschen hinter den interessantesten Schriften kennenlernen. Dafür rief ich sie einfach an oder besuchte Veranstaltungen. Es ging mir um den persönlichen Kontakt. Dabei habe ich unterschiedlichste Erfahrungen gemacht. Es gibt Menschen, die schreiben Bücher, und wenn man sie trifft, kommt man drauf: Das Buch ist eigentlich schon das Interessanteste. Und es gibt Autoren, deren inspirierende Kraft und Vielfalt explodiert förmlich durch die Begegnung noch einmal neu.
Auf diese Weise hatte ich inspirierende Begegnungen mit vielen interessanten Menschen. Mit einigen haben sich langjährige Freundschaften ergeben. Diese Gewohnheit halte ich seither aufrecht. Wie auch die Neugierde, die mich überhaupt antreibt. Dadurch habe ich viel gelernt: Was kann man eigentlich wissen, was ist Leben, was ist Wirklichkeit, wie geht man an komplexe Sachverhalte ran, wie sind Zusammenhänge zu begreifen? Ich bin immer wieder dankbar für die Lernchancen, die mir mein Leben bietet.