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Die Autorität der roten Ampel

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„Gehst du über Rot, bist du bald tot.“ Das steht zwar so nicht wörtlich in der Straßenverkehrsordnung, ist aber eine Lebensweisheit, die durch jede Unfallstatistik untermauert wird. Im Straßenverkehr sterben mehr Menschen als durch Kriege, Völkermord oder Terrorismus. Im Vergleich zu fast viertausend Verkehrstoten jährlich in Deutschland und über einer Million (und rund vierzig Millionen Verletzten) weltweit sind die Opferzahlen aller Vogelgrippen und Rinderseuchen zusammengenommen kaum noch messbar. Natürlich ist nicht jeder Verkehrstote über eine rote Ampel gegangen, sondern viele werden unverschuldet Opfer von rasenden Nicht-Apfelschorle-Trinkern. Doch wer gegen die Wartepflicht an einer roten Ampel verstößt, riskiert nicht nur seine körperliche Unversehrtheit, sondern auch ein Bußgeld von mindestens fünf Euro und ist auch jenen Kindern, die den Regelverstoß zufällig beobachten könnten, ein schlechtes Vorbild. Es gibt auch noch den besonders schlauen Anarchisten, der im Rotlicht-Milieu fünf Meter neben der Ampel die Straße überquert und sich einbildet, das Verbot und damit die Strafe buchstäblich umgangen zu haben, weil die StVO ein solches „Vorgehen“ nicht berücksichtigt hat.

Aber darum geht es hier gar nicht in erster Linie. Denn eine Ampel strahlt neben ihrem roten Licht eine staatliche Autorität aus, die auch dann gültig ist, wenn weder Polizist noch Pimpf in der Nähe sind. Wer nachts um halb drei an einer einsamen Seitenstraße das Haltesignal missachtet, begeht nur scheinbar ein Kavaliersdelikt. Unser gesamtes staatliches Gemeinwesen beruht auf Regeln und Gesetzen, die wir uns selbst auferlegt haben. (Schon vergessen? Demokratie ist die Herrschaft des Volkes. Die Politiker, die über den Bußgeldkatalog entscheiden, haben wir selbst gewählt.) Und wer den Paragraf 49, Absatz 3, der StVO missachtet, der hält es vielleicht in anderen Situationen auch mit anderen Vorschriften nicht mehr so genau. Dass ein Rotsünder auch ein potenzieller Bankräuber ist, kann hier weder behauptet noch bewiesen werden. Doch ohne Zweifel wäre eine Welt ohne Gesetzesbrecher und Regelverletzer zwar vielleicht spießig, dafür aber friedlich.

Verkehrsregeln haben ihren Sinn, und wer bei Rot stehen bleibt, akzeptiert den Sinn dieser Regeln, von denen er schließlich auch selbst profitiert: Denn wer in eine Einbahnstraße fährt, kann zu 99,9 Prozent sicher sein, dass ihm kein Fahrzeug entgegenkommt.

Die Wechsellichtzeichenanlage in einer einsamen Sackgasse bei Dunkelheit ist nicht nur ein Verkehrszeichen, sondern auch ein Symbol für ein funktionierendes Gemeinwesen. „Lieber rot als tot“, sagte man in früheren Zeiten. Heute bedroht uns nicht mehr der Kommunismus, sondern die zügellose Anarchie. Daher sollte es heute heißen: „Lieber ein spießiger und lebendiger Staatsbürger als ganz cool vom Auto überfahren werden.“ Und wer von allen Argumenten der Lebenserhaltung unbeeindruckt bleibt und das Rotlicht nur dann beachtet, wenn eine Strafe droht, der sollte sich fragen lassen, ob er im Kaufhaus auch klauen würde, wenn die Detektive streiken, oder seinem Partner nur treu ist aus Angst davor, beim Seitensprung erwischt zu werden.

Das Lexikon der uncoolen Dinge

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