Читать книгу Das Lexikon der uncoolen Dinge - Harry Luck - Страница 5
Eierlikör
ОглавлениеEierlikör ist neben Apfelschorle und Filterkaffee das am meisten unterschätzte Getränk – und genießt völlig zu Unrecht einen katastrophalen Ruf. Viele erwachsene Männer würden eher zugeben, zu Hause Heintje-CDs zu hören oder Strapse zu tragen, als öffentlich eine Flasche Eierlikör zu kaufen. Doch bevor wir zum gelben Göttertrunk kommen, müssen wir über Gerhard Tschierschnitz aus Haselborn reden – und Maria aus Bahia.
Wer kennt ihn nicht, den Evergreen unter den Werbeslogans: „Ei, Ei, Ei Verpoorten, ob hier und allerorten.“ Entstanden ist das eingängige Firmenmotto im Jahr 1961, als die etwas schwerfällige Parole „Erquickt den Gaumen, labt und kräftigt, stimmt froh und heiter, daheim und allerorten: Verpoorten“ völlig zu Recht abgelöst wurde.
Ausgerechnet während eines Aufenthalts in Brasilien, dem Ursprungsland des Eierlikörs, komponierte der Grandseigneur des französischen Chansons, Paul Misraki, einen Samba-Rhythmus „Ay, ay, ay, Maria, Maria aus Bahia“, den der deutsche Schlagersänger Gerhard Tschierschnitz zu einem Hit machte. Als Sohn eines Werkzeugmachers wurde Tschierschnitz 1920 in Berlin geboren, begann bei Telefunken eine Mechanikerlehre und fiel schon mit vierzehn als Sänger auf einer Betriebsfeier auf. 1945 kaufte er den Ausweis eines gestorbenen Ungarn namens René Carol und befreite sich damit selbst aus der Kriegsgefangenschaft. Mit diesem neuen Künstlernamen trat er in Bars und Nachtklubs auf. 1950 war „Maria aus Bahia“ seine erste Soloschallplatte und der Beginn einer großen Schlagerkarriere, die erst mit dem Aufstieg der Beatles endete. Carol war damals zweiundvierzig und sagte später: „Als älterer Herr konnte ich mich nicht wie so ein Beatle kleiden und diese Musik machen.“ Er zog sich zurück aus dem Musikgeschäft und trat noch jahrelang in Altersheimen oder auf Betriebsfeiern auf.
René Carol ist heute fast vergessen, sein Lied ist als Verpoorten-Song aber nach wie vor ein Ohrwurm, und die Bonner Firma muss immer noch zähneknirschend Gema-Gebühren dafür zahlen, wenn ihre Erkennungsmelodie im Werbefernsehen erklingt. Im Jahr 2000 wurde sogar für den Weltmarkt eine internationale Fassung getextet, die lautet: „I, I love Verpoorten, come hear me, when I’m calling.“
Die Geschichte des Eierlikörs ist jedoch weitaus älter als die des Verpoorten-Songs. In der brasilianischen Heimat von „Maria aus Bahia“ – Bahia ist das heutige Salvador – begeisterten und berauschten sich europäische Eroberer im 17. Jahrhundert an einem Erfrischungsgetränk, das die Ureinwohner im Amazonas „Abacate“ nannten. Hergestellt wurde der Trunk aus Rohrzucker, Rum und dem butterweichen Fruchtfleisch von Avocados, woher die Bezeichnung „Advocat“ kommt, die noch heute auf vielen billigen Discounter-Eierlikören steht. Der aus Antwerpen stammende Schnapsbrenner Eugen Verpoorten hatte 1876 die bahnbrechende Idee, die in Europa nicht vorhandenen Avocados durch Eidotter zu ersetzen: Der Eierlikör war erfunden und eine Dotterdynastie geboren, und die angeblich bis heute unveränderte Rezeptur ist so streng gehütet wie die von Coca-Cola.
Neunzig Prozent der Deutschen kennen Verpoorten-Eierlikör, und vermutlich hat eine ganze Generation damit ihre ersten alkoholischen Erfahrungen am Nierentisch gemacht. Trotz seines Kaffeekränzchen-Images ist Eierlikör ein Kultgetränk. Die Firma Verpoorten, die eigentlich nur ein Produkt herstellt und mit fünfundachtzig Prozent Marktanteil für den gelben Genuss steht wie Tempo für Papiertaschentücher, hat bisher jeder Krise und jeder Trendwelle auf dem Spirituosenmarkt getrotzt und in der Firmengeschichte noch nie Verluste verbuchen müssen; der Umsatz liegt seit Jahren stabil bei fünfzig Millionen Euro. Täglich werden zwischen März und Oktober – nur in der Zeit ist die Eierqualität gut genug – 1,2 Millionen Eier geköpft, elf Eidotter werden für die Produktion einer 0,7-Liter-Flasche benötigt – was Eierlikör leider zu einer Cholesterinbombe macht, aber gewiss nichts damit zu tun hat, dass der einstige Firmenchef Viktor Verpoorten fünf Bypässe hatte.
Eierlikör ist ein Anti-Krisen-Getränk, denn es wird vorwiegend zu Hause konsumiert, auch in Zeiten, in denen man sich den Kneipenbesuch nicht mehr leistet. Er ist kein Stoff für Wirkungstrinker, sondern ein Genussmittel, eine Praline ohne Schokohülle, die langsam auf der Zunge zergeht. Als Oldie-Gesöff verspottet, ist Eierlikör heute ein Getränk für alle Generationen: Senioren verfeinern damit ihr Walnuss-Eis, die Best-Ager backen Eierlikör-Kuchen, und die Jugend mixt Cocktails und Drinks: Mischen is possible! Verpoorten selbst sieht sich im Supermarktregal als Wettbewerber mit Ramazotti, Campari und Baileys. Eierlikör ist Feierlikör.
Während einst Heinz Erhardt nach dem Vorbild Verpoortens in dem Film Immer diese Radfahrer einen Eierlikörfabrikanten verkörperte und Peter Kraus und Georg Thomalla zu Werbe-Ikonen für das gelbe Imperium wurden, ist spätestens seit Guildo „hat euch lieb“ Horn Eierlikör als dickflüssiges Pendant zu Nussecken in der revitalisierten Schlagerszene zum In-Getränk kultiviert.
René Carol hat dieses Comeback von Ei, Ei, Eierlikör leider nicht mehr erlebt. Er starb 1978 im Sauerland. Wenige Jahre zuvor begründete er in einem Interview, warum er nicht dem Alkohol verfallen sei: „Ich möchte nicht wie ein aufgedunsenes Fass auf der Bühne stehen.“ Allein sein größter Hit „Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein“ wurde über zwei Millionen Mal verkauft, er verdiente über achthunderttausend Mark damit. Was aus dem Geld geworden ist? „Es steckt in meinem Häuschen und in Schnaps“, sagte er. Hätte er mal besser in Eierlikör investiert.Kurzarmhemd
Heute ist alles erlaubt. Von Flipflops über Leggings bis zum volltätowierten Oberkörper. Doch das letzte Tabu im zivilisierten Abendland ist das Kurzarmhemd. Wenn es für den Spießer eine Uniform gäbe, sie hätte ein Hemd mit kurzen Ärmeln. „Kurze Ärmel sind für Spießer“, warnt daher auch der renommierte Etikette-Spezialist Uwe Fenner und behauptet, ein Gentleman wisse gar nicht, dass Kurzarmhemden existieren. Die Etikette-Trainer Imme Vogelsang stellt sogar fest: „Kurzarm-Träger – das ist so wie Warmduscher.“ (Zum Thema Warmduschen später mehr!) Doch eine schlüssige Erklärung bleiben die selbst ernannten Mode-Experten schuldig, wenn sie das Kurzarmhemd allenfalls bei Staubsaugervertretern, Schutzpolizisten oder Piloten südamerikanischer Airlines erlauben, allen anderen aber ein schickes Marken-Oberhemd ans Herz legen. Und warum bitte soll ein Polohemd erlaubt und ein Kurzarmhemd verboten sein – zumal Letzteres einen unschlagbaren Vorteil gegenüber den meisten anderen Kleidungsstücken hat? Kugelschreiber, Zigaretten, Sonnenbrille, Handy – all das passt bequem in die Brusttasche des – kurzärmeligen – Oberhemds. Männer brauchen keine Handtasche, weil sie ein Oberhemd tragen.
Die Etikette-Trainerin Nandine Meyden urteilt hart: Kurzärmelige Hemden sähen „immer nach Internat und kleinen Jungen aus. Das passt nicht zu erwachsenen Männern“. Sie empfiehlt als Alternative, die langen Ärmel einfach hochzukrempeln, so wie Jürgen Klinsmann bei der WM 2006. – Jogi Löw hat es ihm nachgemacht. – Das sähe „wenigstens cool“ aus. Welch ein Unsinn! Polohemd und Krempelarm zeigen dieselbe nackte Haut des Unterarms wie ein schönes Kurzarmhemd – es muss ja nicht gleich kariert sein –, die erotisierende Wirkung dürfte also die gleiche bleiben. Darum, liebe Modepäpste: Warum soll bei Busfahrern erlaubt sein, was beim Ottonormalspießer uncool ist? Gebt das Hemd frei – mit kultigem Kurzarm.
Die Münchner Imageberaterin Sabine Schwind von Egelstein sagt: „Das Kurzarmhemd wird dann salonfähig, wenn jemand das Kurzarm-Sakko erfunden hat.“ Ich sage: eine geniale Idee!Regenschirm
In meiner Geburtsstadt im Bergischen Land gibt es das geflügelte Wort: „Wer in Remscheid auf sich hält, kommt mit dem Regenschirm zur Welt.“ Diese bergische Volksweisheit wird wissenschaftlich untermauert durch eine Erhebung des meteorologischen Fachmagazins Men’s Health. Demnach fallen in meiner Heimat jährlich rund tausend Liter Regen pro Quadratmeter, das bergische Regendreieck Wuppertal, Remscheid, Solingen, wo man eher verrostet als einen Sonnenbrand bekommt, liegt damit an der bundesweiten Spitze. Als ich meine Heimat aus Sehnsucht nach der weiten, sonnigen Welt verließ und nach München zog, wohnte ich in der Stadt auf dem vierten Rang der Regenliste (973 Liter). Und als ich mit meiner ersten Fernreise zum ersten Mal den europäischen Kontinent verließ, landete ich zum Ende der Regenzeit in Thailand, wo bis zu dreitausend Liter Niederschlag im Jahr gezählt werden. Kurzum: Die ersten Jahrzehnte meines Lebens war es für mich unvorstellbar, dass es Menschen gibt, die es spießig finden, immer einen Regenschirm dabei zu haben. Und Wetter-Apps gab es noch nicht.
Dabei ist ein tragbares Schutzdach neben der Stehlampe und dem Vakuum-Sauger für Bartstoppel am Rasierapparat eine der genialsten Erfindungen der Menschheit, die bereits im Jahr 802 ihre erste urkundliche Erwähnung findet, als Abt Alcuin von Tours dem Salzburger Bischof Arno ein „Schutzdach“ sandte, „damit es von deinem verehrungswürdigen Haupte den Regen abhalte“.
Ein verehrungswürdiger Haupt ist auch der gelernte Bergassessor Hans Haupt, der aufgrund einer Verletzung aus dem Ersten Weltkrieg nicht in der Lage war, Regenschirm und Spazierstock gleichzeitig zu tragen. Er griff auf nicht ganz ausgereifte Erfindungen aus dem 17. Jahrhundert zurück und entwickelte 1928 den ersten teleskopierbaren Regenschirm, der im zusammengefalteten Zustand in jede Tasche passte. Bei der Patentierung im Jahr 1930 gab er ihm einen Markennamen mit fünf Konsonanten und einem Vokal: Der „Knirps“ war geboren.
Längst gibt es Schirme mit integrierter Taschenlampe, Bleistift, Pillendose, Kompass oder Trinkglas. Ängstliche Zeitgenossen, die häufiger die Berliner U-Bahn als Transportmittel benutzen, haben im Griff ihres scheinbar harmlosen Schirms einen Dolch verborgen. Und von James Bond und Nick Knatterton kennt man die Sonderanfertigungen, die sich auf Knopfdruck in ein Maschinengewehr oder einen Fallschirm verwandeln.
Aber es wäre nicht angemessen, den Schirm nur als Waffe und Regenschutz zu betrachten. Das englische Wort „umbrella“, das vom lateinischen „umbra“ – Schatten – kommt, deutet darauf hin, dass er ursprünglich mal als Schattenspender gedacht war. Der Schirm ist auch ein Kulturgut, wie die häufige Verwendung als Requisite beim Deutschen Fernsehballett, im Musical (Singin‘ in the Rain) oder der modernen Musik beweist: Es ist wohl eine der erotischsten Liebeserklärungen der Pop-Geschichte, wenn sich Rihanna in nicht ganz wetterfester Kleidung mit Netzstrümpfen und Lackleibchen lasziv um einen schwarzen Stockschirm rekelt und singt: „Now that’s raining more than ever / Know that we’ll still have each other / You can stand under my umbrella.“
Wer heute beschirmt seine Liebe beweisen will und aus individuellen Gründen nicht im Rihanna-Outfit auf die Straße geht, hat andere Möglichkeiten. Die Firma Knirps hat ein Modell namens „Feeling“ auf den Markt gebracht, auf dessen Schirmdach viele kleine Kristalle „in Liebes-Rot und Glücks-Grau“ ein Herz mit einem Schwert darstellen. Auf die Idee, dass Grau die Farbe des Glücks sein soll, kann wohl nur ein Schirmhersteller kommen.
Was sich einfallsreiche Schirmdesigner ausgedacht haben, kann übrigens im einzigen Schirmmuseum der Welt, dem „Muso dell’Ombrello“ in Gignese am Lago Maggiore angeschaut werden.
Dass Menschen, die bei jeder Witterung einen Schirm bei sich tragen, ausgewiesene Pessimisten sein sollen, ist eine Unterstellung, die leicht zu widerlegen ist. Der Schirmträger ist eher ein Realist, der durchaus die Sonnenstrahlen genießen kann, dabei aber nicht vergisst, dass auf Sonnenschein immer Regen folgt – und umgekehrt. Die Stadt mit den meisten Regentagen in Europa liegt nicht in Schottland, sondern mitten in Deutschland: Es ist mit zweihundertsechsundsechzig Tagen Halle an der Saale. Auch Köln liegt mit zweihundertdreiundsechzig Tage noch vor dem schottischen Glasgow und dem irischen Cork. Von Freiburg über Kiel bis Regensburg – dort sowieso – liegt also die Regen-Wahrscheinlichkeit an jedem Tag des Jahres bei deutlich über fünfzig Prozent. Wer also ohne Schirm auf die Straße geht, verkennt schlichtweg die Realität und begibt sich sehenden Auges in die Gefahr, auf offener Straße durchnässt zu werden. Und im Vergleich zum Sonnenbrillenträger, der hinter den getönten Augengläsern seine Gefühle und sein wahres Ich verbirgt, ist der Schirmträger ein Gentleman, der bei drohendem Nass von oben jederzeit der Dame seines Herzens Schirm und Geleit andienen kann – Knirps sei Dank.
Übrigens: Dass der geniale „Mister Knirps“ ausgerechnet aus Solingen und damit aus meiner bergischen Heimat stammt, kann kein Zufall sein.