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Die neuen Menschen

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Die Wohnung, in die Dr. Glanable eintrat, wies einen geräumigen Flur auf, der jetzt mit Polizisten gefüllt war. Es waren zumeist junge Männer, ungepflegt und struppig, die, als würden sie einen Anhalt suchen, die Maschinenpistolen unter die Achseln klemmten. Crossen, der Polizeioffizier, der den Einsatz geleitet hatte, winkte Glanable den Flur hinunter. Im Vorbeigehen konnte Glanable spüren, wie diese in Lederjacken gekleideten jungen Polizisten ihre Angst ausgeschwitzt hatten.

Vom Flur führten mehrere Türen ab, die zum Teil angelehnt, zum Teil geschlossen waren. Die Türe ganz hinten war weit geöffnet. Schon beim Nähertreten konnte Glanable sehen, daß die Türe, in der Crossen stand, zum Schlafzimmer führte. Crossen war über die Türschwelle getreten. Glanable folgte ihm, indem er sich an einem jungen Polizisten vorbeidrängte. Mit einem Blick hatte er das Schlafzimmer übersehen, den großen Schrank mit dem Spiegel in der Mitte, das Fenster mit den wehenden Gardinen und unter dem Fenster ein Bett, an dessen Fußende man einen tragbaren Fernseher sehen konnte, mehr eine breite Liegewiese, von der jetzt ein Polizeireporter, der sich Kameras und Batterien um den Hals gehängt hatte, und zwei Polizisten zurücktraten.

Auf dem Bett lagen zwei nackte, in sommerliche Laken gewickelte Gestalten, die wie in Panik unordentlich über das Bett verstreut waren. Es war ein Mann, er lag mit dem Gesicht nach unten, und ein Mädchen, sich halb von ihm abwendend, wie zur Flucht entschlossen. Glanable kannte das Mädchen. Es war eins der Mädchen, die Maren aus dem Glaskolben entführt hatte. Man konnte Marens Rücken sehen. Er war von einer Garbe, die aus einer Maschinenpistole gekommen sein mußte, geöffnet. Der linke Arm Marens baumelte über die Kante des Bettes, der andere war zum Kopfkissen erhoben, als habe . er zum Fenster hinaufkriechen wollen, bevor ihn die Kugeln trafen.

Glanable konnte die Augen des Mädchens sehen. Sie waren weit geöffnet, und sie schien auf einen Vorgang, den sie absolut nicht verstehen konnte, zu starren. Ihr Gesicht war wächsern. Über ihr Kinn hatte sich ein dunkelrotes Rinnsal, das bereits erstarrt war, gezogen. Das Blut der beiden war überall auf dem Bett und auf dem braunen Teppichboden zu sehen. Es schien, als hätte man es eimerweie vergossen. Glanable suchte vergebens nach Anzeichen, die darauf hinwiesen, daß die beiden bewaffnet gewesen wären.

Glanable war um das Bett herumgegangen. Neben dem toten Maren kniete er nieder. Er betrachtete dessen Gesicht von der Seite. Marens Mund war geöffnet, als habe er im letzten Augenblick noch etwas geschrien. In dem einen großen Auge, das gläsern über den Teppich starrte, war ein Ausdruck des Entsetzens und der Panik zu lesen. Ohne daß er es verhindern konnte, hatte sich Glanables Nacken mit einer leichten Röte überzogen. Crossen hatte die Betroffenheit Glanables gesehen und äußerte einige bedauernde Worte, in denen er die Notwehr, in der seine Beamten gehandelt hätten, hervorkehrte. Glanable, als er hinausging, seine toten Geschöpfe im Rücken, nickte.

Es war eine Regierungsidee gewesen, daß man versuchen solle, künstliche Geschöpfe in der Retorte herzustellen. Dabei war es nicht, wie bei früheren medizinischen Versuchen, darum gegangen, das befruchtete Ei außerhalb des Mutterleibes auszubrüten oder bloß die Vereinigung dort zu vollziehen, sondern man war davon ausgegangen, daß es mit einem neuen Wirkstoff, einem schnellen Katalysator, gelingen mußte, den Wachstumsprozeß des menschlichen Körpers, die neun Monate und die vielen Jahre, mittels der Fermentsteuerung auf wenige Monate abzukürzen.

Man hatte in Washington ein streng geheimes Laboratorium eingerichtet.

Der Kern dieses Labores war ein geschlossener Versuchsraum, in dem mehrere zylindrische Kolben untergebracht waren. Jeder dieser Kolben hatte eine Höhe und einen Durchmesser von etwa drei Metern. Nach oben hin wurden die Kolben schmaler, wo sie in eine birnenförmige Verengung ausliefen. In jeden der Kolben führte ein Gewirr von Kabeln, Spulen, Drähten sowie von Schläuchen, durch die die Nährflüssigkeit, die man in Behältern an der Decke untergebracht hatte, tropfte.

Man war in genetischen Manipulationen schon so erfahren, daß man das Wachstum der künstlichen Menschen von Anfang bis Ende über Matrizen, die ihre Impulse in eine künstliche Hefe gaben, steuern konnte. Die Steuerung übernahm ein Computer, der die Hälfte des Labors bedeckte. Der Sinn des Experimentes, und darum war strikte Geheimhaltung beschlossen worden, lag darin, schnell und in beliebiger Menge neues Menschenmaterial herzustellen. Es mußte, da das Experiment an alle ethischen Grundsätze, an die die Menschheit bis dahin glaubte, rührte, der Versuch in aller Stille durchgeführt werden. Auch sah man ein, daß man dem Gegner im Falle eines Krieges diesen unermeßlichen Vorteil, das Menschenmaterial betreffend, nicht in die Hände spielen durfte.

Glanable und seine Mitarbeiter waren mit den ersten Wachstumsraten sehr zufrieden. Schon nach wenigen Stunden konnte man das Entstehen der künstlichen Geschöpfe in der Hefe auf dem Boden der Behälter sehen. Rasch, fast wie im Zeitraffer, durchliefen sie alle Stationen, worin Menschen sich entwickeln. Über die gläsernen Wände war das Pochen der künstlichen Herztöne zu hören. Regelmäßig wurden die Zylinder gewiegt und geschaukelt, wurden Luft, Druck und Temperatur verändert, damit das entstehende Leben eine normale Entwicklung nähme.

Nach zwei Wochen war der Zeitpunkt der Geburt für die neuen Menschen gekommen. Man hatte sie abgenabelt und begann sie mittels einer Apparatur, die es ihnen ermöglichte, sich über einfache Reflexe, die sie bereits erlernt hatten, selbst Nahrung zuzuführen, zu ernähren. Obwohl sie fast täglich größer wurden und sichtbar wuchsen, verlief ihr Leben nicht viel anders als das hilfloser Babies, die in gewisser Weise nicht mehr sind als reine Verdauungsmechanismen.

Der kritische Punkt des Experimentes war das Gehirn der künstlichen Menschen. Es war, im Prozeß der körperlichen Reife, mitgewachsen, ohne daß es sich mit den in achtzehn Jahren sich ansammelnden Impulsen eines normalen Lebens hatte anreichern können. So waren, nach zwei Monaten und einigen Tagen, als die körperliche Entwicklungsphase abschloß, die Mädchen und die jungen Männer, von denen einige zu beachtlichen körperlichen Proportionen gezüchtet waren, in ihrer geistigen Entwicklung weiße, unbeschriebene Blätter, auf denen man einen beliebigen Text eintragen konnte.

Es würde, hätte man die geistige Entwicklung der neuen Menschen in dem angemessenen Tempo, das normale Menschen durchlaufen, nachholen wollen, Jahre gedauert haben, bis die neuen Menschen ihren körperlichen Entwicklungsstand auch geistig aufgeholt hätten. Zudem hätte dies bedeutet, daß man den zeitlichen Vorsprung, den man ja in Hinblick auf die Wachstumsraten der neuen Menschen gerade hatte herausholen wollen, wieder verloren hätte.

Darum hatte man ein Verfahren ersonnen, wie mittels einer komplizierten Traummaschine das Bewußtsein hervorragender Menschen auf die künstlichen Menschen übergreifen sollte. Das Problem bestand darin, daß die Maschine wohl einzelne Informationen und Bündel von Informationen übertragen konnte, daß sie es aber nicht vermochte, Querverbindungen und Assoziationen, die die Gehirne selbst leisten mußten, zu erzeugen.

Man hatte die Traummaschine mit zwei verschiedenen Programmen gefüttert, eins für die drei jungen Männer, eins für die Mädchen, so daß sie also, wenn das Experiment gelingen sollte, geistig völlig gleichartig wären, was ja, wenn man an die militärischen Zwecke dachte, ein durchaus erwünschter Aspekt der Angelegenheit wäre. Die Einspeisung der Gedanken wurde an einem Schaltpult, das mit dem Computer gekoppelt war, vorgenommen. Man konnte den Vorgang, wie die seidenweichen Matrizen in den Gehirnen der neuen Menschen umgeblättert wurden, auf einem Kontrollmonitor sehen. Man konnte den neuen Menschen gleichsam in ihre, auf dem Schirm freilich zu Zwecken der Unterscheidung eingefärbten Gehirne sehen.

Da die Traummaschine über eine große Kapazität verfügte, war für den Prozeß der Organisierung des Bewußtseins ein Zeitraum von etwa zwei Stunden angeschlagen. Es versteht sich, daß man die Gehirne von unten, aus dem Hirnstamm, vom Geruchssinn, von den Gefühlen und Emotionen her aufbaute. Wenn man den jungen Menschen zusah, konnte man sehen, wie der Prozeß ihrer eigenen Bewußtwerdung auf sie wirkte. Fast gleichzeitig hatten sie begonnen, über ihre nackten, jungfräulichen, rosigen Körper zu tasten. Eben noch die Daumen in den Mündern, waren sie nun zur Erforschung ihrer nächsten Umwelt aufgebrochen. Dies taten sich noch mit geschlossenen Augen. Aber selbst, als sie jetzt zögernd, blinzelnd die Augen aufschlugen, konnte man bereits einige Unterschiede erkennen.

Ein junger Mann in dem rechten Kolben, dessen Bewegungen, mit denen er seinen Körper ertastete, sehr langsam gewesen waren, eher zögernd, als würde er an sich selbst nicht glauben, öffnete nur halb die Augen, in denen die Augäpfel sogleich verschwammen. Über ihn hinweg lief gleichsam die Maschine, die weitere Impulse in ihn preßte, als er in seiner großen Flasche bereits auf den Boden hinabgesunken war. Jeder neue Impuls, der in seinen Kopf einlief, schien ihn wieder ein wenig aufzurichten, doch fiel er nach jeder Informationsflaute erneut in sich zusammen.

Die beiden anderen jungen Männer entwickelten sich zunächst prächtig.

Sie hatten ihre Augen weit geöffnet, als gelte es, eine Welt für sich zu entdecken. War der Ausdruck ihrer Augen zuerst noch trübe und verschwommen und hatten die Linsen sich erst einmal auf die Umgebung einstellen müssen, so wurde er jetzt zunehmend schärfer und präziser, begannen sie, wie man in ihren Blicken merken konnte, selbst die gläsernen Kolben, in denen sie gefangen waren, als ihre Umgebung wahrzunehmen, zugleich mit dem Hinweis, daß sie ihr Gefängnis bald verlassen würden.

Der mittlere junge Mann schien am weitesten zu kommen. Sein Gesicht war ganz frisch und rosig. Seine Augen glänzten. Er machte den Eindruck eines eifrigen Schülers, der mit Riesenschritten durch den Stoff eilt und sich der Fortschritte, die er macht, bewußt wird. Wenn man sein Gesicht ansah und insbesondere seine Augen, so wirkte er wie eine Einbahnstraße, durch die man unbeirrt und mit wachsendem Tempo fahren konnte. So stark und sicher war er schon geworden, daß man denken mochte, er würde schon im nächsten Augenblick Einhalt gebieten, um den gläsernen Kolben zu verlassen.

An dieser Stelle war, als hätte eine Wolke das Labor verdunkelt, ein Schatten über sein Antlitz gefallen. Seine Augen, die die Welt noch eben gesehen hatten, als würde sie immerzu hell erstrahlen, hatten geflackert. Es schien tat sächlich, als würde das Licht, das ihm von innen heraus strahlte, mit seinen Helligkeitswerten schwanken. Ein rätselhafter Ausdruck war in seine Augen getreten. Es war ein wenig, als drängten sich alle ungelösten Fragen dieser Erde, als müsse ausgerechnet er sie lösen, in seinem Kopf zusammen.

Er hatte, wie um zum ersten Mal zu sprechen, den Mund geöffnet. Aber obwohl die Sprachfähigkeit bei ihm bereits voll entwickelt sein mußte, kam aus seiner Kehle nur ein trockenes Krächzen. Jetzt hörte man ihn lallen. Er fuhr sich mit der Hand an die Kehle. Dann war es, als würde eine gewaltige Faust, die aus dem Nichts erschienen war, nach ihm schlagen, als würde sie über seinen Schädel fahren, als würde sie über sein Gehirn radieren. Sein Gesicht war jetzt eine verzerrte Maske. In seinen Augen überstrahlten sich die Feuer.

Er hatte begonnen zu zucken. Es war, als würden ihm seine Arme nicht mehr zugehören. Der Versuch, sich über zitternden Beinen aufzurichten, war vergebens. Sein Körper lag zuckend auf dem Boden. Schaum war vor seinen Mund getreten. Obwohl das Glas, in dem sie alle gefangen waren, den Schall dämpfte, konnte man sein Toben und Schreien hören, als wolle er die Welt dort ganz weit draußen damit erreichen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Glanable die Maschine, was diesen und den ersten jungen Mann betraf, bereits abgeschaltet.

Bevor wir uns dem dritten jungen Mann zuwenden, wollen wir die drei Mädchen sehen. Was immer in den beiden jungen Männern vorgegangen sein mochte, die Mädchen hatten es, sah man auf den Verlauf des Experimentes, besser. Sie waren alle drei süße, sanfte Gestalten, denen man ein etwas altmodisches Programm einflößte. Zwar war die Gesellschaft im Umbruch begriffen, doch galt es für die Zwecke des Experimentes als sinnvoll, den Mädchen eine eher demütige, unterwürfige Rolle, worin ihre Hauptaufgabe darin bestand, den Männern zu gefallen und alle Arbeit klaglos zu machen, zuzuweisen.

So hatten sie sich auch in den Kolben entwickelt. Waren sie schon vorher schöne Hüllen, hübsche Larven gewesen, noch ganz ohne Bewußtsein, so blühten sie auf in dem stetig rinnenden Strome der Informationen. Was ihnen ihre Körper alleine nicht geben konnten, das gab ihnen die Reinheit ihrer Gedanken, das gab ihnen das Feuer, mit dem ihr Bewußtsein ihre Körper erfüllte. Sie bedeckten erschrocken ihre Blöße, während sie mit aufreizenden Blicken aus den Kolben sahen, ohne daß sie bereits wahrgenommen hätten, wohin es die Entwicklung in den anderen beiden Kolben gebracht hatte.

Der Junge in dem linken Kolben, Maren, hatte eine ähnliche Entwicklung wie die beiden anderen jungen Männer, die bereits erledigt waren, genommen. Auch er hatte seinen Körper ertastet. Auch er hatte den Duft, den man in seinen Kolben geblasen hatte, in sich aufgesogen. Auch er hatte ein wenig zögernd, dann mit zunehmendem Eifer die Augen aufgeschlagen. Auch sein Gesicht, als er lernte, war zuversichtlich und strahlend. An dem Punkt aber, wo auch er in Verwirrung geraten, hatte seine Entwicklung begonnen, von der seiner Nachbarn abzuweichen.

Auch in ihm lief die Traummaschine weiter. Es mag sein, daß noch einige Quentchen an zusätzlichen Informationen sein Bewußtsein vor dem Einsetzen der Verwirrung erreichten. Wie auch immer. Man konnte sehen, er war getaumelt. Die Wucht der Gedanken, die hinter seiner Stirn rasten, hatte ihn fast niedergeschlagen. Aber obwohl er wankte, war er nicht gefallen. Sein Körper hatte sich, ganz im Gegenteil, hoch aufgerichtet. Dort stand er, inmitten seines Kolbens, mit aufleuchtenden, erbitterten Augen. Im nächsten Moment hatte er sich die Fäden, die ihn mit der Traummaschine verbanden, vom Kopf gerissen und benutzte die stählerne Krone, die noch eben um seinen Kopf gelegen, als Waffe, um den gläsernem Zylinder zu zertrümmern.

Die Wissenschaftler, als das Glas von Marens Flasche um sie herum zersplitterte, waren zurückgefahren. Man konnte in ihren weißen Gesichtern das blanke Nichtbegreifen sehen. Man hörte den einen oder anderen erstickten Ausruf, der jedoch sogleich in Anbetracht des – ja, wessen: des Ungeheuers? des abnormen Menschen? des Frankenstein, der aus dem Kolben getreten? – verstummte. Auf diesen Fall nicht vorbereitet, verschafften sie so dem Monster eine Pause.

Es war aber auch so, als wäre in Marens Haltung, in seinen Gesten, in seinen Blicken etwas, das Respekt, Achtung, selbst Unterwerfung erheischte. Er war, als würde er sein Bewußtsein auf der Spitze balancieren, als hätte er alle Gedanken zu einer einzigen Idee zusammengezogen, als wäre er jetzt reine Handlung, reiner Willen, einige noch ziellose Schritte durch das Labor gegangen. Der völlig nackte Mann, ganz rosig, noch glänzend von den hinter ihm liegenden Strapazen, in seiner Hand den stählernen Reifen, mit dem er den Kolben zerschmettert hatte, setzte seine Schritte, als schreite dort ein König.

Dann hatte er sie fast alle gleichzeitig angesehen, mit einem ungeheuren, schweifenden Blicke, der rastlos war und zugleich klar und voller Tiefe, in dem die Informationen, die er nun sammelte, wie auf den Grund eines stillen Sees hinunterliefen. Mit diesem einen Blick schien er sie nochmals abzuschätzen, was von ihnen zu halten wäre, schien er sich dessen, was er bereits wußte und was er sich in seinem kurzen Leben zusammengereimt hatte, zu vergewissern. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es niemand, der auf den Gedanken gekommen wäre, Maren aufzuhalten.

Die Lähmung der Wissenschaftler ob Marens sicherer, zielstrebiger Haltung war noch nicht vergangen, als der künstliche Mensch mit einer zweiten furchtbaren Geste einen der Kolben, in denen die Mädchen sich befanden, zerschmettert hatte. Als wäre er an den Fußsohlen durch lange Übung, durch Autosuggestion unempfindlich geworden, war er durch die Glassplitter getreten und hatte das Mädchen aus den Überresten des Kolbens herausgezogen.

Dann, mit dem Mädchen an der Seite, hatte er sich erneut besonnen. Er hatte es wie ein kleines Kind auf einen der Tische der Computerkonsole gehoben und hatte sich dann mit einem scharfen Werkzeug, das er auf einem der Tische fand, bewaffnet. Erst jetzt kam Bewegung in die Menschen, die ringsum standen und das Wunder, das sich hier ereignet hatte, nicht begreifen konnten. Maren, der das Mädchen wieder ergriffen hatte, stoppte diese Bewegung mit einer Geste.

Man konnte Haß in seinen Augen aufleuchten sehen. Es war seltsam, wenn man die beiden in der Erinnerung so ansah. Sie waren beide nackt und schutzlos in eine Welt, die nur aus Fragmenten in ihrem Kopf bestehen konnte, getreten. Eigentlich waren sie doch, nach allem, was man denken mochte, ihren Herren und Meistern ausgeliefert. Selbst die moralische Konditionierung, daß man in zivilisierten Breiten so, wie die beiden es notwendigerweise taten, nicht herumlaufen konnte, war ein sie hemmender Strick in der Psyche.

Und gleichwohl. Allen Fallstricken zum Trotz, die ihnen Moral und Anstand in den Kopf gelegt hatten, dies gilt vor allem für Maren, schien es, als wäre der Überlebenswille stärker, schien es, daß es jenseits des Wunsches zu leben, sich zu behaupten, sich durchzusetzen, keinerlei moralisches Gebot, kein Bedenken, keine Barriere gebe. An den Augen Marens konnte man sehen, daß er selbst bereit gewesen wäre zu töten, wenn sie ihn an der Flucht aus dem Labor, für die er sich nun die Kleider hatte aushändigen lassen, gehindert hätten. So war es, zunächst reiner Wille, entkommen.

Es war noch unklar, wo Maren sich in den Tagen zwischen seinem Ausbruch aus dem Labor und seiner Erschießung mit seinem Mädchen herumgetrieben hatte. Dr. Glanable hoffte, darüber einiges aus den polizeilichen Recherchen, derer er sich bei Crossen versichert hatte, zu erfahren. Er war, nachdem er die Leichen verlassen hatte, nicht ins Institut, sondern in seine Wohnung gefahren. Ein Brief, der diesen Morgen abgeliefert worden sein mußte und auf dem die Absenderangabe fehlte, lag unter der Türe.

Als er den Brief noch unter der Türe aufriß und sogleich begann, ihn zu lesen, hatte er zuerst Mühe, die ungelenke Handschrift Marens zu entziffern. "Lieber Doktor!" lautete das Schreiben. "Ich schreibe Ihnen, weil ich nicht weiß, an wen ich mich sonst wenden sollte. Durch die Umstände, durch die ich in die Welt versetzt wurde, habe ich niemanden, der mich verstehen könnte, außer Ihnen. Ich möchte Ihnen versichern, daß ich es zutiefst bedauern würde, wenn bei meiner Flucht aus dem Labor unnötiger Schaden angerichtet worden wäre. Auch möchte ich Sie um Verständnis dafür bitten, daß ich das Mädchen mitnehmen mußte, aber ganz allein könnte ich dort draußen nicht leben.

Das Problem, das mich bedrückt und bei dessen Lösung ich Ihre Hilfe erbitte, kann ich bis zu einem gewissen Grad aus den Informationen, die Sie in mein Bewußtsein gelegt haben, entnehmen. Ich möchte Ihnen schildern, wie es mir in den letzten Tagen, als ich mich unter Menschen bewegte, ergangen ist. Es ist ja seltsam, unter den ethischen Werten, die Sie meinem Bewußtsein eingepflanzt haben und die doch in allen Bewußtseinen verankert sein müßten, steht der Mensch in seiner Würde ganz oben. Nach einem Wort, dessen ich mich entsinne, sind alle Menschen Brüder!

Nun werden Sie verstehen, daß ich Schwierigkeiten hatte, mich trotz dieser Maxime unter Menschen zu bewegen. Als wir die Straße hinuntergingen, war es, als würden wir alle Blicke auf uns ziehen. Ich hatte den Eindruck, an jeder Ecke würde ein Aufpasser stehen, dessen Aufgabe es wäre, zu beobachten, ob sich jeder den Spielregeln gemäß, die uns nicht alle geläufig sein können, bewegte. Ich habe festgestellt, daß, fällt man auch nur ein klein wenig aus der Rolle, wird man zudem nervös wegen dieser Umstände, wegen dieser allgemeinen Bedrückung, man zahlreiche Passanten auf sich zieht, als wäre man ein verwundetes Tier, auf das sich die übrigen wie auf eine leichte Beute stürzen.

Ich muß überhaupt gestehen, daß der Gedanke, daß alle Menschen Brüder wären, durch meine Beobachtungen auf Schritt und Tritt widerlegt wurde. An einem Bahnhof zum Beispiel sah ich heruntergekommene, zerlumpte Gestalten, Rotweinflaschen in den Händen, die ganz offensichtlich aus der Gnade der Gesellschaft gefallen waren, ohne daß sich auch nur irgendjemand um sie gekümmert hätte. Wie ist so etwas möglich?

Ich habe in meinem kurzen Leben, das ich bisher draußen führte, einen Verkehrsunfall gesehen. Zwei Wagen waren an einer Kreuzung infolge der Unachtsamkeit eines Passanten ineinander gefahren. Beide Fahrer wurden schwer verwundet. Nun ist es klar, daß Menschen Fehler machen und versagen können. Es ist auch klar, daß nicht alle der Umstehenden die notwendigen medizinischen Kenntnisse haben konnten. Was ich aber in diesem Zusammenhang nicht verstehe, ist die Tatsache, daß sich die Neugierigen um den blutigen Vorgang drängten, als gäbe es hier etwas besonders Erstrebenswertes zu sehen.

Einige Verkehrspolizisten, die an der Unfallstelle eingetroffen waren, hatten Mühe, den Ambulanzen einen Weg durch die Passanten, die absolut nicht weichen wollten und sogar fotografierten, einprügeln mußte, um sie von der Stelle zu vertreiben, damit die Arbeit der Ambulanzen nicht behindert würde.

Ich schreibe Ihnen, lieber Dr. Glanable, diese wenigen Beispiele aus einer Fülle von Beobachtungen, die ich in diesen kurzen Tagen meiner Freiheit meiner Freiheit? - und meines Lebens machen konnte, damit Sie wissen, worüber ich mit Ihnen sprechen möchte und damit Sie mir helfen, den Widerspruch in meinem Kopfe, zu dessen Auflösung ich keinen Zugang finde, aufzuklären. Obwohl wir uns zwangsläufig etwas auffällig benommen haben, glauben wir doch, daß wir in Dr. Brownmillers Wohnung in Sicherheit sein werden. Ich schreibe Ihnen hier die Adresse und bitte Sie, so bald wie möglich zu kommen. Ihr Maren."

Ende

Space Opera Großband September 2018: 1226 Seiten SF Sammelband

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