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Antonio
ОглавлениеNach dem Tod meiner Mutter wollte ich ein paar Tage auf der Finca bleiben, in den Bergen versteckt, und meine alten Aufzeichnungen über die Gründung von Jericó, meine Familie, La Oculta und die Gegend hier, im Südwesten der Provinz Antioquia, durchsehen. Ihr Tod brachte mich dazu, mich endgültig an die Ausarbeitung der Geschichte des Ortes und der Finca zu machen. Sich erinnern bedeutet ja gewissermaßen, die Gespenster in die Arme zu schließen, die unser jetziges Leben möglich gemacht haben. Es ist so viel passiert in dieser Gegend, diesem großen weiß-roten Haus inmitten von Wasser und sattem Grün. Einem Grün in allen möglichen Tönungen, verteilt über riesige grüne Berge, und dazu das dunkle Wasser des Sees, in dem sich nicht der blau-weiße Himmel darüber widerspiegelt, sondern die schwarz-grünen Felsspitzen, die höher als der Himmel scheinen und in Richtung Jericó ansteigen, also in Richtung des Dorfs, wo mein Vater und meine Großeltern und Urgroßeltern geboren sind, die Besitzer dieser Finca, die sie urbar gemacht haben, in dem sie Bäume gefällt, Steine bewegt und den Wald niedergebrannt haben, das Einzige, was es seit dem Anfang der Welt hier gegeben hatte.
Morgens laufe ich immer gleich nach dem Aufstehen barfuß über die Wiese vor dem Haus und spüre den Tau an den Zehen. Ich atme tief durch und würde am liebsten beten, wie als junger Mann und als Kind, aber ich weiß nicht mehr, zu wem ich beten soll. Im Stillen sage ich irgendetwas, was einem Gebet an die Vorfahren gleichkommt, obwohl ich auch nicht mehr so wie früher daran glaube, dass der Geist den Tod überlebt. Ein Gebet an die Natur und das Schicksal, das uns diese Finca gegeben hat. Um diese Uhrzeit steigt der Nebel vom Fluss auf, und ich warte, bis er hier ankommt. Langsam nähert er sich in dicken Schwaden und legt sich auf das Haus. Próspero spricht immer von »Frau Schnitterin«, warum weiß ich auch nicht, vielleicht weil der Nebel wie eine Machete übers Gras streicht, als wollte er es mähen. Der Nebel hüllt mich ein, liebkost mich, für einen Augenblick ist die Welt verschwunden, so wie der See und die Berge, ich komme mir vor wie im Inneren eines Glases voll Wasser und Anisschnaps, weiß wie Milch, bis der Nebel schließlich weiterzieht, höher steigt, den waldigen Abhang kitzelt. Dann färbt die Welt sich im Osten rosa oder orangefarben, und der Fluss ist wieder zu sehen, im Winter breit und gelb, im Sommer schmaler und dunkel, tief unten im Tal fließt er dahin, unterwegs zum Río Cauca, und auch die beiden Bergkegel werden wieder sichtbar, »die Brüste von Doña Quiteria«, wie Großvater Josué sie nannte. Mit dem Sonnenlicht kehren die Farben der Vögel und Blumen zurück: die weißen und dunkelvioletten Orchideen, die von den Bäumen hängen, die Orangetöne der Königsstrelitzien, die violetten oder rosa Balsaminen, die rot-schwarzen Flamingoblumen, all die Wunder, die Pilar angepflanzt hat. Manchmal bleibt ein Blättchen an meiner Fußsohle kleben oder ich zerdrücke mit der Ferse einen Erdklumpen, und dann weiß ich, dass der Tau und das kleine Blatt und das Stück schwarze Erde, dass all das ich bin. Ich kenne hier jeden Schmetterling, jede Vogelstimme, alle siebenundneunzig Teakbäume am Zufahrtsweg zum Haus, sämtliche Geräusche – das Rauschen des Bachs, die Zikaden, die Rotschwanzguane, Spottdrosseln und Sperber, die Spechte, die an vertrockneten Trompetenbäumen picken, die Aras, die in toten Königspalmen ihr Nest bauen –, Geräusche, die ich in ihrer Gesamtheit als vollkommene Stille erlebe.
Ich spüre, dass ich ein Teil dieser Finca bin, dieser alten Finca meiner Vorfahren, derjenigen, die ich gekannt habe, wie auch derjenigen, die ich nicht gekannt habe. Ich kann als Einziger aus der Familie die lange Liste ihrer Namen aufsagen, weil mich die mottenzerfressenen Bücher, Taufurkunden und Sterberegister interessieren. Anders als meine Schwestern, die mehr meiner Mutter gleichen und praktischer und zupackender sind als ich, realistischer, stärker in der Gegenwart verankert. In meiner Kommode auf der Finca ist eine Schublade voller Papiere, die ich seit Jahren zusammengetragen oder selbst beschrieben habe. Immer wenn ich dort bin, hole ich die Blätter hervor und verbessere etwas oder ergänze Dinge, die ich gelesen oder im Dorf erzählt bekommen habe. Geschichten, Gerüchte, Halbwahrheiten, Vermutungen, Tatsachen, Gedankenspiele und Träumereien. Es gefällt mir, mich mit diesen Aufzeichnungen zu beschäftigen, sie immer wieder durchzugehen wie jemand, der Münzen oder Karten oder Briefmarken sammelt. Ich streiche liebevoll mit der Hand über die Seiten, schreibe sie ins Reine, überarbeite sie, denke darüber nach. Schon seit Jahren habe ich vor, etwas über die Finca zu verfassen, damit meine Nichten und Neffen und ihre Kinder später Bescheid wissen und sich daran erinnern, wie das alles zustande gekommen ist. Das Folgende zum Beispiel bezieht sich auf die ältesten Tatsachen, die mir über unsere Familie bekannt sind, und eben hiermit möchte ich irgendwann meine Geschichte der Finca beginnen lassen:
Ich weiß nicht, ob wir Juden waren, allzu rein war unser Blut aber offenbar nicht, hatten wir doch nicht bloß jüdische Vornamen, sondern dazu typische Nachnamen von Konvertiten, weshalb es bei uns zu Hause auch immer hieß – worüber man weder Scham noch Stolz empfand –, wir seien möglicherweise Marranen, also Leute, die bloß äußerlich ein christliches Leben führen, insgeheim jedoch anderen Überzeugungen anhängen. Der Erste aus unserer Familie, der nach Kolumbien kam – das damals noch Neugranada hieß –, war ein junger Spanier aus Toledo, Amtsschreiber von Beruf. Sein Name lautete Abraham Santángel. Wir wissen nur wenig über ihn, unter anderem, dass er bei der Ankunft in Cartagena de las Indias gerade einmal vierundzwanzig Jahre alt war und von dort auf dem Río Magdalena wie auch auf Königswegen, die in Richtung Río Cauca strebten, nach Antioquia gelangte, wo er gegen 1786 eintraf, als die Kolonie bereits im Sterben lag. Irgendwann in der Zeit der Unabhängigkeitskriege diktierte er dann in Santa Fe de Antioquia sein Testament.
Warum es Abraham in diesen abgelegenen Landstrich zog, wo es vielfach so steil und schroff bergauf oder bergab geht, dass selbst die Katzen Mühe haben, sich auf ihren vier Pfoten zu halten, weiß kein Mensch. Sicher scheint bloß, dass ihm die Zukunft in Spanien wenig Gutes verheißen hat. Er muss gehofft haben, hier, auf dieser Seite des Atlantiks, werde das Schicksal ihm womöglich die eine oder andere freudige Überraschung bescheren, fruchtbare, wasserreiche Böden etwa und die jungen Schenkel einer großmütigen Mulattin, zwischen denen er für allezeit seinen Samen würde säen können. Fast alle kennen wir die lustvolle Vorstellung, der lähmenden Traurigkeit ein Schnippchen zu schlagen und unter neuen Himmeln sein Glück zu versuchen, Abraham Santángel besaß darüber hinaus jedoch den Mut, diesen Traum in die Tat umzusetzen, und nahm dafür eine gefährliche Reise ins Ungewisse auf sich.
Allzu freigebig scheint sich das Schicksal ihm gegenüber jedoch nicht erwiesen zu haben, zumindest dem Erbe nach zu urteilen, über das er in seinem Testament verfügte. Darin heißt es, dass das Wenige, was es zu verteilen gebe – die Liste ist kurz und übersichtlich und besteht aus einer Stute, einem Pferdegeschirr, etwas Kleidung und einigen Möbeln: einer Truhe, einem Kerzenleuchter, einem Bett aus Lorbeerholz und einem Tisch samt neun Hockern –, seinen Kindern zufalle, die er bitte, es aufzuteilen, so gut sie könnten und ohne in Streit zu geraten, woraufhin er sie dem Alter nach aufzählt: Susana, Eva, Esteban, Jaime, Ismael, Esther und Benjamín, allesamt hervorgegangen aus seiner rechtmäßigen Verbindung mit Betsabé Correa, geboren in Yolombó. Wer Betsabés Eltern waren, erwähnt er nicht, sie könnte folglich eine Schwarze, Indiofrau, Mestizin oder auch Kreolin gewesen sein, abgesehen davon, dass sie, aufgrund ihres Vornamens, durchaus einer Familie von Konvertiten hätte entstammen können, wenngleich es am wahrscheinlichsten ist, dass sie ursprünglich der einheimischen Bevölkerung angehörte oder eine Mulattin war. Wie dem auch sei, seinen Kindern legt Abraham nachdrücklich ans Herz, bis ans Ende von Betsabés Tagen für diese zu sorgen und sie zu achten, falls sie nicht wollten, dass sie sein Fluch aus dem Jenseits treffe. Am Ende fügt er wie beiläufig hinzu, er schreibe dieses Testament, weil seine Gesundheit ihm Sorgen bereite, und nachdem er keine Mittel besitze, um seine Familie zu unterhalten, und ihnen außer den erwähnten Kleinigkeiten nichts zu vererben habe, weise er seine Söhne hiermit an, falls sie nicht als Taugenichtse enden wollten, hart zu arbeiten und sich der eigenen Hände zu bedienen. Den Frauen wiederum erteilt er den Rat, sich früh und gut zu verheiraten, und das mit friedliebenden und rechtschaffenen Männern. Söhne wie Töchter wiederum fordert er auf, Sorge zu tragen, dass sie ein ehrenhaftes Leben führen, ohne den Nachnamen Ángel zu beschmutzen – Ángel, wie er hier am Ende schreibt, und nicht Santángel –, dessen Ursprung, wie sie sehr wohl wüssten – und das ist der rätselhafteste Teil des Dokuments –, dessen Ursprung also »niemals Anlass zu Scham oder Schande geben darf«. Abschließend gibt er ihnen noch einen Ratschlag, der zu einer Art Wahlspruch der Familie werden sollte: »Vergesst nie, dass ihr nicht mehr, aber auch nicht weniger als die anderen seid. Versucht als Gleiche unter Gleichen zu leben, arbeitet und befehlt niemandem, aber lasst euch auch von niemandem befehlen.«
Dass wir dieser Empfehlung bis heute folgen, ist der Grund dafür, dass man uns liebt oder hasst. Statt zu befehlen, erklären wir lieber oder bitten um etwas, und statt zu gehorchen, überlegen wir, ob das, was man von uns fordert, vernünftig und durchführbar ist und zu Recht gefordert wird. Lieber erledigen wir die Dinge mit eigenen Händen, und falls wir doch einmal Hilfe benötigen, sind wir trotzdem die Ersten, die sich an die Arbeit machen. Und für andere setzen wir uns immer dann ein, wenn diese sich ebenfalls an der Arbeit beteiligen und nicht bloß danebenstehen und Befehle erteilen, als wären sie etwas Besseres. So etwas ertragen wir nicht.
Wir, die Ángels aus Jericó, stammen vom fünften Sprössling Abrahams ab, also von Ismael, der sich Anfang des 19. Jahrhunderts in El Retiro niederließ. Womit genau er sich dort beschäftigte, wissen wir nicht, ganz schlecht kann es ihm jedoch nicht ergangen sein, denn er hinterließ Esteban, seinem Ältesten, eine Saline. Isaías wiederum, Ismaels Zweitgeborener, wanderte 1861 in den Südwesten aus, als Jericó noch nicht Jericó hieß, sondern in einigen Dokumenten Aldea de Piedras und in anderen Felicina, und dort nahm all dies seinen Anfang, denn mit Isaías beginnt auch die Geschichte von La Oculta.
La Oculta war einst ein Stück Urwald, dann eine Kaffeeplantage und ein Gut, auf dem Viehwirtschaft betrieben wurde, heute ist es ein Haus mit ein wenig eigenem Land drum herum. Die Grenzen waren durch Bäume und Bäche, Zäune und Gräben markiert, deren genauen Verlauf heute niemand mehr kennt. Ich, Antonio, vielleicht der Letzte der Familie, der den Nachnamen Ángel trägt, möchte für meine Schwestern Pilar und Eva und, da ich keine eigenen Kinder habe, für meine Neffen und Nichten die Geschichte dieser Finca erzählen, an die wir uns klammern, als wäre sie das letzte Brett, das uns Schiffbrüchigen beim Untergang der Welt bleibt.
Dies also ist der erste Entwurf für den Anfang meines kleinen Buches. Manchmal kommt er mir jedoch zu ausführlich vor, weshalb ich eine kürzere, knappere Variante verfasst habe – in jedem Fall war ich mir nicht ganz sicher, wie ich den Beginn dieser Geschichte gestalten soll, die für mich mit dem Beginn der Geschichte des Dorfes zusammenfällt, welche sich ohne Rückgriff auf die Geschichte meiner Familie zumindest seit dem Eintreffen Abrahams in der Neuen Welt aber nicht erzählen lässt:
Der Erste aus unserer Familie verließ eines Tages Toledo und fuhr übers Meer, um in ein Land zu gelangen, wo das Leben weniger hart und weniger karg wäre, ein Land, in dem sein Name, Abraham Santángel, ihm nicht zum Nachteil gereichen sollte, und dort kam mehrere Jahre nach seiner Ankunft in Antioquia aus dem Bauch seiner Frau Betsabé Ismael zur Welt, sein fünftes Kind. Ismael zeugte mit Sara Isaías, der mit seiner Ehefrau Raquel Elías zeugte, welcher mit seiner Ehefrau Isabel einen Sohn mit Namen José Antonio bekam, der mit Mercedes Josué zeugte, welcher Miriam heiratete, die meinen Vater Jacobo zur Welt brachte, der mit meiner Mutter Ana meine beiden Schwestern Pilar und Eva und mich zeugte.
So weit die Abstammungslinie unseres Familiennamens Ángel, der zuvor Santángel lautete und zweifellos mit mir, der ich Antonio heiße, aussterben wird. Wem Gott keine Kinder schenkt, dem schenkt der Teufel Neffen und Nichten, heißt es. Und das stimmt, denn ich habe zwei Neffen mit Namen Gil und Bernal, doch den Namen Ángel tragen sie nur an zweiter Stelle. Was mir egal sein sollte, aber es ist mir nicht egal, auch wenn es fast das Einzige ist, was mir an meinen Neffen nicht gefällt. Es wird andere Ángels geben, aber von anderen Zweigen der Familie, weshalb es für mich so ist, als verschwände unser Name mit mir von dieser Welt. Dass ich so viel über meine Vorfahren spreche und mich ständig mit meinen Ursprüngen beschäftige, und das im Wissen, dass ich niemandes Vorfahr oder Ursprung sein werde, ist traurig. Und doch ist es so. Zum einen, weil ich keine Kinder habe, zum anderen, weil es für mich schwierig wäre, welche zu bekommen, da mir Männer gefallen und keine Frauen, und darüber hinaus, weil Jon von der Möglichkeit, Kinder zu adoptieren, nicht viel hält, und ich selbst, glaube ich, auch nicht. Die Namen meiner Vorfahren habe ich aus den Geburts-, Tauf- und Sterberegistern von Jericó zusammengetragen, unserem Dorf in Antioquia, und mithilfe anderer notarieller Aufzeichnungen konnte ich nachweisen, dass der erwähnte Isaías, unser erster Vorfahr in Jericó, der in El Retiro als Sohn von Ismael Ángel und Sara Cano und als Enkel von Abraham Santángel und Betsabé Correa, beide nicht unbedingt seit Urzeiten Christen, zur Welt gekommen war, dass dieser Isaías Ángel also am 2. Dezember 1886 die Urkunden unterzeichnete und registrieren ließ, in denen die Finca La Oculta zum Eigentum unserer Familie erklärt wird.