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Pilar

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Toño interessiert sich für die alten Geschichten, die Herkunft der Familie, die Vorfahren, die Nachnamen. Mir liegt nicht das Geringste daran. Was mich betrifft, Pilar Ángel de Gil, reichen meine Erinnerungen gerade mal bis zu Großvater Josué und Großmutter Miriam. Josué Ángel und Miriam Mesa, und das war’s auch schon. Na gut, meinetwegen bis zu meiner Urgroßmutter, Merceditas, mit Nachnamen Mejía, oder Ditas – Mamá Ditas haben wir immer gesagt, oder vielmehr Mamaditas. An Mamaditas erinnere ich mich aber nur von ein paar Besuchen in dem großen Haus in Jericó, und weil ich ein gutes Gedächtnis habe, nicht so wie Toño, der sich an nichts erinnern kann und deshalb alles erfindet. Was er hört, glaubt er, und was er glaubt, schreibt er auf, und was er aufschreibt, darüber fängt er an nachzudenken, und dann erfindet er alles, was er nicht weiß, und glaubt es gleichzeitig – so ist Toño. Er ist so naiv und leichtgläubig wie die dümmsten Dorftrottel, und nirgendwo gibt es so viele Dorftrottel wie in Jericó, denn am Anfang waren alle, die dort gewohnt haben, Vettern oder Kusinen, und sie haben untereinander geheiratet. Das Einzige, was noch nicht vorgekommen ist, ist jemand mit einem Schweineschwanz, aber von allem Übrigen haben wir mehr als genug – Asthma, Epilepsie, Schizophrenie, Kurzsichtigkeit, Arthritis, Bluterkrankheit, was Sie wollen.

Wirklich, von den Großeltern aufwärts interessieren mich meine Vorfahren kein bisschen. Großvater Josué und Großmutter Miriam dagegen spielen eine große Rolle. Meine jüngere Tochter zum Beispiel, also Florencia, ähnelt Großmutter Miriam sehr, nicht nur weil sie auch so klein ist – meine Großmutter war gerade einmal eins fünfzig –, sondern vor allem im Charakter. Großvater Josué war mehr als dreißig Zentimeter größer als Großmutter Miriam, auf Fotos sieht das fast ein bisschen lächerlich aus, er, der Riese, neben einer solchen Zwergin. Aber diese Zwergin war nicht nur ein fröhlicher Mensch, sondern jemand, der sich immer im Griff hatte. Wenn es mit dem Großvater zum Streit kam, sagte sie bloß, ein wenig lauter als sonst, mit ruhiger Stimme einen einzigen Satz, der bei uns zu Hause zur festen Redewendung geworden ist, wenn man jemanden warnen oder ihm drohen will: »Wismut, Sulfonamid und Quecksilberiodid!« Worauf der Großvater sich jedes Mal sofort beruhigte und klein beigab. Im äußersten Fall erwiderte er: »Sie haben das Arsen vergessen, Doña Miriam, das Arsen.« Sie siezten sich. Auf unsere Frage, was der Satz bedeuten soll, haben sie immer gesagt, das sei ein Gift gewesen, das man in Jericó benutzt habe, um Blattschneiderameisen zu töten, und der Großvater habe einmal zur Großmutter gesagt, wenn sie weiter so herumjammere, werde er ihr eine ordentliche Prise davon in die Suppe tun. Vielleicht war es tatsächlich so. Jedenfalls brauchte Großmutter Miriam nur leise ihr Sprüchlein aufzusagen und schon senkte der Großvater den Blick und verstummte. Hinter seinem Rücken schnitt die Großmutter dafür Grimassen, streckte ihm die Zunge raus und machte ihm eine lange Nase, als wäre sie plötzlich wieder ein Schulmädchen. Und genau wie diese Großmutter ist auch Florencia, meine jüngere Tochter, ihr hat sich das vererbt, das merkt man ihr bis heute an.

Aber was die Mutter meiner Großmutter oder den Vater meines Großvaters angeht, die habe ich nie kennengelernt, und ich weiß nicht mal, wie sie ausgesehen haben, und auch nicht, wie sie geheißen haben, und so interessieren die mich auch kein bisschen. Und die, die noch früher gelebt haben, erst recht nicht, die sind längst mausetot und komplett vergessen. Vielleicht lebt von dem einen oder anderen ja noch was in mir fort, aber nachdem ich nicht weiß, was das sein könnte, ist es mir egal. Vielleicht ist es was Vererbtes, aber jetzt gehört es jedenfalls zu mir, und das reicht.


Antonio sagt zum Beispiel, im Innersten sind wir eigentlich Juden, und deshalb hieß eine der ersten Fincas von unserem ersten Vorfahren, der nach Jericó gekommen ist – Elías oder Isaías oder Matías oder Zacarías hieß der, irgendwas mit ías jedenfalls –, deshalb hieß diese Finca also La Judía. Das Haus gibt es angeblich noch, irgendwo oben am Río Frío, und die Wände sollen aus Edelholz sein. Und er sagt, wir sollen möglichst bald mal dorthin gehen und es uns ansehen, bevor es ganz verfällt. Aber ich glaube ihm nicht. Ich bin Katholikin, und zwar römisch-katholisch, wie meine Mutter und meine beiden Großmütter, und wenn wir früher mal Juden waren, spielt das keine Rolle mehr, weil wir schon vor Jahrhunderten zur wahren Religion übergetreten sind, und vor Gott sind sowieso alle gleich. Gott ist barmherzig, und wir kommen alle in den Himmel, auch die Bösen, das hat der Papst gesagt, und der versteht was davon, er hat erklärt, dass es die Hölle zwar gibt, aber sie ist leer, und deshalb kommen die Bösen auch nicht in die Hölle, sondern sie müssen bloß für ein paar Jahrhunderte ins Fegefeuer, das schon, damit sie für ihre Missetaten büßen und bereuen und den Schmerz, den sie anderen zugefügt haben, am eigenen Leib erfahren. Und das glaube ich, das habe ich immer schon geglaubt, und wenn die anderen es nicht glauben wollen, Pech für sie, denn umso länger müssen sie ins Fegefeuer.

Toño nimmt alles, was mit der Religion zu tun hat, nicht besonders ernst. Früher schon, da war er sehr fromm, und ich glaube, als er vor fast dreißig Jahren nach New York gezogen ist, ist er am Anfang auch regelmäßig in die Kirche gegangen. Zu meiner Mutter hat er gesagt – damit sie sich keine Sorgen macht –, dass er in die Allerheiligen-Kirche geht, in Harlem, und dass die sehr schön ist, eine gotische Kirche, angeblich. Dann hat er sich mit Jon zusammengetan, und das war, was den Glauben angeht, wohl kein besonders guter Einfluss, Jon ist schließlich nicht mal katholisch, er stammt aus einer evangelischen Familie, wo sie beim Gottesdienst immer so viel singen und schreien und weinen und herumfuchteln. Davon, dass er sonntags in die Kirche geht, war bei Toño jedenfalls immer seltener die Rede, und meine Mutter hat auch nicht mehr danach gefragt. Obwohl ich glaube, dass er im Grunde immer noch gläubig ist, sagt Toño, dass ihm überhaupt nichts mehr sicher scheint und dass die Religionen kommen und gehen wie die Moden und dass es mehr tote als lebendige Religionen gibt und mehr tote als lebendige Götter, und dass später bestimmt noch mehr neue Religionen und Götter kommen und wieder verschwinden werden. Unglaublich! Die Religion ist doch keine Mode, und auch keine Spielerei, wie Horoskope oder Spiritismus. Die Religion ist etwas Ernstes und Wichtiges, ohne Religion haben wir keinen festen Boden unter den Füßen. Und Gott ist sowieso immer Derselbe, egal, welchen Namen sie ihm hier oder anderswo geben. Wenn es keine Religion und kein Leben nach dem Tod geben würde, wer würde dann die Guten belohnen und die Schlechten bestrafen? Nachdem die Belohnungen und Strafen auf der Erde nicht gerecht verteilt werden, muss es einfach ein anderes Leben geben, wo es nicht so verkehrt zugeht. Wenn es kein anderes Leben geben würde, wäre Gott verrückt, und ich glaube nicht, dass Gott verrückt ist. Aber selbst wenn er verrückt wäre, wäre mir das lieber, als wenn es gar keinen Gott gibt.


Alberto ist ein besserer Mensch als ich und sein Glaube ist stärker als meiner, und immer, wenn ich irgendwelche Zweifel habe, erklärt er mir alles und überzeugt mich. Er erinnert mich an all das Gute, was wir haben, und er zeigt mir, was für ein Glück es ist, dass wir hier wohnen dürfen, in La Oculta – für ihn ist das ein Stück vom Paradies. Seit fast zehn Jahren lebe ich jetzt hier schon mit ihm, meinem Ehemann, meiner einzigen Liebe, meinem ersten und einzigen Freund, meinem einzigen Mann. Er kann auf seine Art auch sehr still und schweigsam sein. Und ich küsse und beiße und probiere ihn immer noch, aber obwohl ich längst weiß, wie er schmeckt, verstehe ich immer noch nicht ganz, warum ich ihn so sehr liebe.

Einmal hab ich mit Rosa gestritten, der Köchin, das ist schon ziemlich lange her. Wir haben gestritten und ich hab irgendwann gefragt: »Wenn es Ihnen hier so schlecht gefällt, Rosa, warum gehen Sie dann nicht? Sie können jederzeit gehen.« Und sie hat gesagt: »Ach, Doña Pilar, wozu soll ich gehen, ein Grab ist so gut wie jedes andere.« Da habe ich lachen müssen, und später habe ich zu mir gesagt, dass es mit der Ehe genauso ist. Ob ein Mann nun gut ist oder schlecht, man muss mit dem zusammenbleiben, mit dem man zusammen ist, erst recht, wenn es ein guter Mann ist wie Alberto. Aber bei anderen ist das ganz anders, Eva zum Beispiel, meine jüngere Schwester, war schon dreimal verheiratet, und sie hat so viele verschiedene Freunde gehabt, da hab ich längst den Überblick verloren. Ihr letzter Freund war der Witwer Caicedo, der war zwar viel zu alt für sie – er ist achtzehn Jahre älter, man könnte meinen, er ist ihr Vater –, aber er war wenigstens anständig und großzügig. Und trotzdem, den hat sie auch verlassen, wie die anderen davor. Und wozu das Ganze? Damit sie mit dem nächsten auch nicht zufrieden ist und sich von dem auch wieder trennt. Ich weiß nicht, manchmal komme ich mir lächerlich vor und altmodisch, weil ich ganz anders als Eva bin. Mehrere Jahre war ihr die Finca vollkommen verleidet und sie wollte nicht mehr herkommen, sie hat gesagt, das würde sie nie wieder machen. »Nach La Oculta fahr ich nie mehr«, hat sie gesagt. Nie mehr, so ein Unsinn, sag niemals nie. Später ist sie doch wieder hergekommen, als wir alle wieder gekommen sind und Mama alles vorbereitet hat, damit wir hier wie früher zusammen Weihnachten feiern können, wie in der Zeit vor dem ganzen Elend. So ist das Leben, nach dem Sturm scheint die Sonne, wie es im Lied heißt, und die sonnigen Zeiten dauern länger als die Stürme, sage ich immer dazu. Wir sind also alle zurückgekehrt, und meine Mutter hat wieder ihre Tamales gemacht und Cremespeisen, Blätterteigecken und Schmalzbällchen, wie jedes Jahr. Und es gab auch wieder Bohneneintopf und Paella und Kartoffelsuppe und Chili-Hühnchen und Garnelensuppe und kalte Tomatencreme und Rinderbraten auf Cartageneser Art und Milchkaramell und Apfelkuchen und Guavenpaste mit Frischkäse und Milchmais mit Melassewürfeln. So geht es bei uns zu im Dezember: Wir singen und spielen und sitzen stundenlang beim Essen. Es gibt jede Menge Auseinandersetzungen, Streit, Tränen, Versöhnungen, denkwürdige Besäufnisse, mit richtigen Musikern, einem Trio aus dem Ort oder einer Gruppe aus Medellín. Novenen, Weihnachtslieder und Geschenke. Den Baum und die Krippe. Jetzt herrscht in der Gegend Frieden. Entführungen oder Raubüberfälle kommen kaum noch vor, gemordet wird nur noch aus Eifersucht und erpresst aus bloßer Geldgier. Jetzt können wir hier ruhig leben. Jetzt stirbt man hier nicht mehr durch Schüsse oder aus Trauer, sondern an Altersschwäche, und das ist die beste Art zu sterben, beziehungsweise die am wenigsten schlechte, die am ehesten hinnehmbare. Jetzt werden Eva und ich den Platz meiner Mutter einnehmen und alles für Weihnachten vorbereiten und dafür sorgen müssen, dass auch wirklich alle kommen, unsere Geschwister, Kinder, Enkel und Freunde. Hoffentlich bleibt es so ruhig, bis wir selbst sterben.

Eva war viel hübscher als ich und besser in der Schule und eine viel bessere Tänzerin. Sie hat deshalb auch immer gesagt, sie will Tänzerin und Psychologin werden. Vom vielen Tanzen hatte sie einen wunderschönen Körper, um von ihrem Gesicht gar nicht zu reden, ihr Gesicht war einfach perfekt, und so lächeln wie sie, das würde so manche Schönheitskönigin auch gern können. Sie hatte langes schwarzes Haar, wunderbar feine Gesichtszüge und die weißesten Zähne, die ich jemals gesehen habe. Außerdem war sie immer heiter und ausgelassen – über alles konnte sie lachen. Vielleicht lag es daran, dass sie so schön war, jedenfalls konnte sie von nichts genug bekommen, von allem wollte sie mehr und mehr. Und immer noch besser sollte es sein. Wir sind zusammen auf eine Klosterschule gegangen, ins Colegio de la Presentación, und sie hat ständig irgendwelche Auszeichnungen bekommen. Sie war immer die Klassenbeste, ohne Ausnahme. Ich gehörte bestenfalls zum Durchschnitt, abgesehen davon, dass ich in ihre Klasse ging, weil ich einmal durchgefallen war. Wenn Eva von der Schule nach Hause kam, war ihre dunkelblaue Uniform immer voller Medaillen – sie hatte die rote Medaille für Mathematik, die gelbe für Religion, die blaue für gutes Benehmen, die weiße für Spanisch, die grüne für Erdkunde, die gestreifte für Musik, die pinkfarbene für Geometrie, die orangefarbene für Fleiß, und mehr gab es nicht. Sie sah aus wie ein General. Ich dagegen hatte keine einzige Medaille, nicht mal eine klitzekleine. Ich weiß noch, dass ich sie einmal, als wir gerade aus dem Schulbus ausgestiegen waren, gezwungen habe, mir eine von ihren Medaillen abzugeben. Eine Freundin von mir hat mir geholfen und sie von hinten festgehalten, und ich hab ihr die schönste von allen Medaillen abgenommen, die dreifarbige, wie unsere Landesfahne. Die hab ich mir an die Brust geheftet und war total stolz auf mich, und als ich nach Hause kam, hat mein Vater ganz beglückt gefragt, wofür ich die Medaille bekommen habe, und weil ich selbst nicht wusste, wofür sie war, habe ich gesagt, die ist für die Liebe zur Schule. Eva hat mich im Rücken meines Vaters hasserfüllt angestarrt, aber sie hätte es nicht über sich gebracht, mich zu verraten, und mein Vater hat mir für meine geklaute Medaille einen so dicken Kuss gegeben, wie Eva ihn für alle ihre Medaillen zusammen noch nie bekommen hatte, und dabei hatte sie sich durchaus dafür angestrengt. Heute tut mir das wirklich wahnsinnig leid. Natürlich hat mein Vater sich auch über Evas Medaillen gefreut, aber bei ihr war das ganz normal – dass ich für etwas ausgezeichnet werde, war dagegen etwas Besonderes.


Eva ging auf die Universität, ich dagegen brach im letzten Jahr der Oberstufe die Schule ab und heiratete Alberto. Ich weiß, dass Eva sich damals gefragt hat: Ob es sich wirklich lohnt, ständig so viel zu lernen und niemals auch nur ein klein bisschen nachlässig zu sein? Geht es Pilar nicht viel besser, die schon alt zur Welt gekommen ist und inzwischen wie die reinste Oma aussieht? Seit wir zusammen auf der Schule waren, ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, und eigentlich müssten wir jetzt sagen können, wem es besser ergangen ist. Eigentlich – aber unsere Leben sind völlig verschieden, und ich finde keins von beiden ganz schlecht. Ich glaube, wir unterscheiden uns vor allem in zwei oder drei Dingen: Eva hat keinen Ehemann, ich schon. Ich gehe regelmäßig zur Kirche, sie nicht. Sie hätte im Grunde nichts dagegen, La Oculta zu verkaufen, ich dagegen möchte hier weiterleben und auch sterben. Dieses Stück Land, das Gefühl, einen Ort zu haben, an dem ich mich irgendwann zur letzten Ruhe betten kann, einen Ort, an dem die anderen mich beerdigen können, wo ich ein Teil meiner eigenen Erde werden kann. Ich weiß nicht, ob die Leute in anderen Weltgegenden genauso sind, wir aus Antioquia sind jedenfalls zeitlebens besessen von der Vorstellung, ein eigenes Stück Land zu besitzen. Selbst die Ärmsten haben hier eine Finca oder träumen davon, eine zu haben, und sei sie bloß fünfzig Quadratmeter groß, ein Gärtchen mit drei Reihen Gemüse und vielleicht noch einem Blumenbeet. Kein Land zu besitzen ist so, als hätte man keine Kleidung und nichts zu essen. Und so wie man zum Leben Wasser und Luft und ein eigenes Heim braucht, braucht man unserer Auffassung nach auch ein eigenes Stück Land, und sei es bloß, um darauf zu sterben.


Worin Eva und ich uns vielleicht am stärksten unterscheiden, ist unsere Einstellung zur Ehe und zur Liebe. Ich glaube, früher war es besser: einmal und für immer. Eva dagegen, vielleicht weil ihr Liebesleben von Anfang an ganz anders war, findet es besser, wenn es niemals für immer ist, sondern immer bloß vorläufig, in der Schwebe, ja geradezu mit Verfallsdatum, wie Joghurt oder Marmelade. Manche Leute entscheiden sich auch für etwas dazwischen: In der Nähe von La Oculta, auf der Hazienda La Ley, wohnt ein gewisser Iván Restrepo, und der hat zwei Ehefrauen. Prósperos Bruder arbeitet dort, und von ihm wissen wir, dass Don Iván ihn immer anruft, bevor er auf die Finca fährt, und entweder sagt: »Aquileo, morgen komme ich mit Consuelo.« Und dann weiß Aquileo, dass er die Möbel, Bilder, Fotos und den sonstigen Schmuck von Doña Consuelo hervorholen muss. Oder aber Don Iván ruft an und sagt: »Aquileo, morgen komme ich mit Amparo.« Und dann räumt Aquileo schleunigst Doña Consuelos Sachen weg und holt dafür die von Doña Amparo hervor – das betrifft auch das Geschirr, das Besteck und die Töpfe. Aquileo darf dabei kein Fehler unterlaufen, auf den Fotos zum Beispiel sind unter anderem jeweils die Kinder zu sehen, die Iván mit der einen oder anderen der beiden Frauen hat. Es gibt es einen Kellerraum auf der Finca, wo, je nachdem, welche Frau gerade zu Besuch ist, die Sachen der anderen aufbewahrt werden. Den einzigen Schlüssel dazu besitzt Aquileo. Amparo weiß allerdings sehr wohl, dass es Consuelo gibt, und Consuelo weiß ebenso gut von Amparos Existenz – dumm sind sie beide nicht, sie wollen bloß nichts voneinander wissen. Einmal ließ Aquileo vor einem Besuch Doña Amparos aus Versehen ein Foto stehen, auf dem Doña Consuelo neben den Kindern zu sehen ist, die sie von Don Iván hat. Als Doña Amparo eintraf, tat sie, als würde sie das Foto nicht sehen. Don Iván machte Aquileo mit Blicken auf die Verwechslung aufmerksam, woraufhin Aquileo in den Keller eilte, um das richtige Foto zu holen und gegen das andere auszutauschen. Wir amüsieren uns köstlich über Don Iváns Jonglierkünste, er ist wirklich ein sehr netter Mensch, und von Aquileo lassen wir uns nach seinen Besuchen immer genau erzählen, wie es wieder gelaufen ist. Von Aquileo wissen wir auch, dass Doña Amparo für ihr Leben gern zum Einkaufen nach Miami fährt, weshalb Iván regelmäßig mit ihr dorthin reist. Doña Consuelo wiederum ist versessen auf Europa, weshalb Iván immer wieder mit ihr nach Europa fährt, wo sie angeblich vor allem in Konzerte und Museen gehen. »Er verwöhnt sie beide«, sagt Aquileo, »so verschieden sie sind – die eine mag klassische Musik und die andere Rancheras, die eine liest und die andere trinkt gern. Sie haben sogar verschiedene Freundeskreise.«


In Wirklichkeit weiß doch kein Mensch, was genau das richtige Leben ist. So lebt jeder eben, so gut er kann. Toño lebt mit einem Mann zusammen, Eva ist ständig auf der Suche, Iván Restrepo ist Bigamist, und Muslime können bis zu vier Ehefrauen haben, was ich vollkommen in Ordnung fände, wenn auch die Frauen vier Männer haben dürften. Was mich betrifft, ich bin eines Tages Alberto begegnet, und seitdem gibt es für mich nur noch ein mögliches Leben.

La Oculta

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