Читать книгу La Oculta - Héctor Abad - Страница 15
Eva
ОглавлениеVorsichtig, so leise wie möglich, hob ich den Kopf aus dem Wasser. Hastig atmete ich in tiefen Zügen ein. Zwei, drei, fünf, sieben Mal. Mein Herz pochte unterdessen in der Brust wie die große Basstrommel einer Dorfkapelle. Vom Haus her hörte ich Schreie und Flüche. Mehrfach glitt ein Lichtstrahl über den See. Ich tauchte wieder unter. Das mit dem Zählen ließ ich sein. Am wichtigsten war, dass ich weiter das dem Haus gegenüberliegende Ufer ansteuerte. Dort würde ich mich durch den Bambuswald schlagen müssen. Schon nach wenigen Sekunden hatte ich das Gefühl, mir gehe die Luft aus, aber ich zwang mich, mich noch ein Stück weiterzukämpfen. Seit ich denken kann, habe ich Sport gemacht, und Schwimmen hatte ich hier, in diesem See, und im Río Cartama gelernt. Cobo brachte es mir bei, kaum dass ich fünf Jahre alt war. Ich rief mir in Erinnerung, wie wichtig es ist, möglichst gleichmäßige Bewegungen auszuführen, und von da arbeitete ich mich mit Armen und Beinen voran wie ein Frosch, als hätte ich nie etwas anderes getan.
Da die Unbekannten durch den Hinterhof eingedrungen waren, mussten sie zuvor den Zufahrtsweg hinaufgekommen sein. Die Autos hatten sie offenbar unten stehen lassen, um keinen Lärm zu machen. Sie wollten mich überraschen, hatten aber nicht mit Gaspars feinem Gehör gerechnet. Wie viele Leute mochten es sein? Und wer waren sie? Bestimmt handelte es sich um diese »Musiker«, denen wir La Oculta »verkaufen oder verkaufen« sollten. Als ich irgendwann fürchtete, beim nächsten Schwimmzug ohnmächtig zu werden, tauchte ich erneut auf. Mit einem Geräusch, das an das Röcheln eines Sterbenden erinnerte, drang die Luft in meinen Körper ein. Ein Lichtstrahl glitt über meine Schulter, woraufhin ich sofort wieder untertauchte. Im selben Augenblick war ein Schuss zu hören. Um meine Verfolger zu verwirren, wandte ich mich nach links. Ich musste mich beeilen, durfte keine Sekunde verlieren. Die über die Wasseroberfläche gleitenden Strahlenbündel zeigten mir immerhin an, welche Richtung ich einzuschlagen hatte – je weiter ich mich von ihrer Quelle entfernte, desto besser.
Wieder tauchte ich auf, um Luft zu holen. Bei der Gelegenheit sah ich zum Haus zurück. Dort waren sämtliche Lichter eingeschaltet. Am Steg standen zwei Männer, die mithilfe ihrer Taschenlampen hektisch den See absuchten. »Alte Dreckschlampe! Hoffentlich säuftse ab!«, schrie der eine. Ich tauchte wieder unter. Der See war eiskalt, manchmal stieß ich aber auf tröstliche Stellen, an denen das Wasser sich den Tag über aufgewärmt hatte. Mein Blut zirkulierte inzwischen dermaßen heftig, dass ich den Eindruck hatte, mein ganzer Körper sei bloß noch ein einziges riesiges Herz. Vor Angst, aber auch vor Anspannung war ich ganz steif. Und doch sagte mir das wild pochende Organ in meinem Inneren: »Sorg dich nicht, noch bist du am Leben.«
Ich musste an meinen toten Hund denken. Vier Jahre hatte er bei mir gelebt, und ich liebte ihn fast wie ein Kind. Er schien mir sehr intelligent, oft hatte ich den Eindruck, er könne meine Gedanken lesen. Außerdem passte er sich jederzeit meiner Stimmung an: Er war fröhlich, wenn ich es war, und melancholisch, wenn mich die Trauer befiel. Und erschrocken – aber auch angriffslustig –, wenn ich über etwas erschrocken war. Genau so hatte er sich zuletzt verhalten und mir mit seinem Einsatz das Leben gerettet. Hätten sie ihn nicht umgebracht, wäre er mir wie immer auch ins Wasser gefolgt, und an seinem gelblichen Kopf hätten sie mühelos erkennen können, wo ich mich befand. Erneut tauchte ich auf. Inzwischen war ich weit genug vom Haus entfernt, wo meine Verfolger jetzt lautstark stritten. Von etwas weiter weg, aus der Richtung des Verwalterhauses, waren drei Schüsse zu hören. Bei dem Gedanken an Próspero kniff ich entsetzt die Augen zusammen. Dann setzte ich mich wieder in Bewegung, schwamm langsam, aber entschlossen und ohne das geringste Geräusch zu verursachen, ja nahezu ohne das Wasser aufzuwirbeln weiter – wie eine Schildkröte –, den Kopf nur ein winziges Stück über der Oberfläche. Ab und zu drehte ich ihn zur Seite, um Luft zu holen. Die hektisch kreiselnden Strahlen der Taschenlampen reichten kaum noch bis zu mir. Dafür wurde es um mich herum dunkler und dunkler. Am Ufer vor mir konnte ich trotzdem die ersten Schilfhalme ausmachen. Dann hörte ich auf einmal Flügelschlagen über meinem Kopf. Offensichtlich hatte ich eine Gruppe in einem nicht weit entfernten Kapokbaum schlafender Kormorane oder Reiher aufgestört. Vorläufig noch vergeblich tastete ich mit den Zehenspitzen nach dem schlammigen Grund, den ich normalerweise als abstoßende glibberige Masse wahrnahm. Jetzt hingegen hätte ich wer weiß was dafür gegeben, mit den Füßen darin zu versinken.
Aber ich durfte kein Risiko eingehen, also tauchte ich wieder ganz unter. Erschöpft wie ich war, würde ich nicht einmal eine halbe Minute durchhalten, sagte ich mir und versuchte, bis dreißig zu zählen. Schon bei sechzehn musste ich wieder Luft holen. Diesmal stellte ich fest, dass meine Verfolger inzwischen am Ufer entlanggingen und weiterhin mit ihren Taschenlampen die Wasseroberfläche absuchten, allerdings bewegten sie sich genau auf der falschen Seite – und so lang, wie der See war, würden sie eine ziemliche Zeit brauchen, um ihn zu umrunden. Abgesehen davon, dass ihnen an einem bestimmten Punkt die Uferböschung den Weg versperren würde. Von dort ab kam man nur mit dem entschlossenen Einsatz einer Machete weiter.
Endlich spürte ich den schlammigen Grund unter den Füßen, jetzt fehlte wirklich nicht mehr viel. Ganz in der Nähe musste auch der große Stein am Ufer sein, auf dem ich mich manchmal sonnte. Von dort führte ein Pfad durch den Bambuswald bis zu der Schotterpiste, auf der man bergaufwärts zur Finca Casablanca gelangt, die meinen Vettern gehört. Sie waren nicht da, schon seit Monaten wagten sie sich nicht mehr her, aber Rubiel, der Verwalter, müsste zu Hause sein. Ihn konnte ich bitten, mich zu verstecken, oder was auch immer. Als ich den Stein ausgemacht hatte, kletterte ich hinauf und gelangte von dort auf festen Boden. Ich zitterte vor Kälte und Angst, und mein Atem ging heftig. Die Schreie und Flüche drangen jetzt nur noch aus weiter Ferne zu mir. Zum Glück kannte offenbar keiner meiner Verfolger sich hier auch nur annähernd so gut aus wie ich. Immer wieder trat ich auf Halmsprossen und hätte vor Schmerz fast aufgeschrien, wenn sich mir die Spitzen in die Fußsohle bohrten, riss mich aber im letzten Augenblick zusammen. Die dornigen Zweige und scharfen Blattkanten zerfetzten mein nasses Oberteil und schnitten mir in Arme und Beine. Irgendwann erreichte ich den Stacheldrahtzaun. Als ich darunter hindurchkroch, blieb ich mit der Bluse an einem der Stachel hängen, der sie am Rücken aufschlitzte, was ich aber erst viel später bemerkte. Als ich bei dem Fahrweg ankam, lief ich so schnell ich konnte bergauf.