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Eva

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Nachdem ich mehrere Jahre nicht auf La Oculta gewesen war, bin ich schließlich, nur um meiner Mutter eine Freude zu machen, doch wieder hingefahren, das aber auch nur, weil sie beschlossen hatte, eine Familientradition wieder aufleben zu lassen, und zwar, gemeinsam auf der Finca Weihnachten zu feiern. In Wirklichkeit hatten wir alle mehrere Jahre lang nicht auf die Finca fahren können – zuerst wegen der Guerrilla, die dort regelmäßig Leute ausraubte, entführte und umbrachte, dann wegen der Paramilitärs, die dort regelmäßig Leute erpressten, ausraubten und umbrachten. Als wieder halbwegs normale Verhältnisse einzogen – als der Staat wieder mehr oder weniger der Einzige war, der Menschen töten durfte –, kehrte als Erste Pilar auf die Finca zurück, und schon bald begann sie fieberhaft, das Haus instand zu setzen, das, was niedergebrannt war, neu zu errichten, und alles wieder in seinen früheren, ja sogar in einen besseren Zustand zu bringen. Bis sie sich zuletzt entschloss, ganz dorthin zu ziehen, natürlich mit Alberto, der gerade pensioniert worden war, woraufhin meine Mutter uns hartnäckig damit in den Ohren lag, dass wir alle zusammen die Weihnachtsferien auf La Oculta verbringen sollten. Am liebsten auch noch die Osterferien, wie sie nicht müde wurde zu betonen, aber wenn das nicht möglich war, dann wenigstens die Weihnachtsferien. Mama hatte eine Theorie, an die sie sich zeitlebens hielt: Die Alten müssen sich ihre Gesellschaft erkaufen. Einmal hörte ich, wie sie das Tante Mona, ihrer Schwester, am Telefon erklärte:


»Sieh mal, Mona, ich weiß, dass wir Alten dafür bezahlen müssen, wenn wir nicht allein sein wollen, und trotzdem, besser können wir unser Geld gar nicht ausgeben. Eben deshalb können wir unseren Kindern ihr Erbe aber nicht auf einen Schlag auszahlen, solange wir noch am Leben sind, das geht bloß in kleinen Partien, sonst riskieren wir, einsam und verlassen im Armenhaus zu enden.«

Meine Mutter lud also immer alle ein, und deshalb kam im Dezember auch jedes Mal Toño aus New York, mit oder ohne Jon, und außerdem fast immer zu Ostern, und manchmal, wenn er genug von seinem Leben in Harlem hatte und Mama überraschen wollte, sogar ganz ohne Vorankündigung mitten im Jahr. Wenn wir nicht mindestens zwei oder drei Mal im Jahr zusammenkommen, sagte meine Mutter, verlieren wir den Zusammenhalt und hören auf uns zu lieben und sind irgendwann keine Familie mehr. Damit wir gar nicht erst mit irgendwelchen Ausreden anfingen, erledigte sie selbst alle nötigen Einkäufe und übernahm die anfallenden Kosten für ihre Kinder und Enkelkinder – für das Essen, den Wein und die Dienstmädchen. Schon im Juni begann sie mit den Vorbereitungen für die von ihr so genannte »Saison« und ließ kein Sonderangebot ungenutzt, um an Weihnachten alles beisammen zu haben – Palmherzen, Artischocken oder Erbsen in der Dose und was es sonst noch an gut haltbaren Lebensmitteln gibt, dazu Seife und Toilettenpapier. »Aber keinen Alkohol«, sagte sie, »wer Rum, Bier, Whisky oder Schnaps trinken möchte, muss sich das selbst besorgen.« Die einzige Ausnahme war Wein, wenn er irgendwo günstig angeboten wurde. Anfang Dezember kaufte sie dann auch die nicht ganz so gut haltbaren Sachen, und Mitte des Monats brachte sie schließlich einen kleinen Lastwagen auf den Weg, auf dem zusätzlich, bereits fertig verpackt, die Weihnachtsgeschenke für die Kinder, Enkel, Arbeiter und Hausmädchen verstaut wurden.


Mit ihrem Tod fiel der beständigste Teil meines Lebens weg, das spürte ich deutlich. Und alles, was weniger Bestand hatte, auch La Oculta, verlor für mich jeden Sinn. In den Weihnachtsferien wäre ich immer schon viel lieber anderswohin verreist, gerne weit weg, nach Patagonien, zum Beispiel, oder nach Mexiko oder Guatemala, aber zuletzt verzichtete ich jedes Mal darauf, um meiner Mutter nicht die Freude zu nehmen, die gesamte Familie um sich herum zu versammeln. Aber jetzt, wo sie nicht mehr da ist, habe ich nicht vor, noch einmal auf die Finca zurückzukehren, zumindest nicht an Weihnachten.

Ich habe immer mit meiner Mutter in der Bäckerei gearbeitet, noch näher hätte ich ihr also unmöglich sein können – wir verbrachten den ganzen Tag zusammen. Sich ihrem Willen zu widersetzen, und dazu dem von Pilar, und die Ferien einmal nicht mit der Familie zu verbringen, war jedoch ebenso ein Ding der Unmöglichkeit. Andererseits, so schlimm empfand ich diese Verpflichtung gar nicht, schließlich habe ich selbst die Finca sehr geliebt. Damit vorbei war es erst, als ich dort einmal fast umgebracht worden wäre. Als ich danach zum ersten Mal wieder auf die Finca kam – zum ersten gemeinsamen Weihnachtsfest –, zitterte ich vor Angst, als ich das Haus betrat und die Dielen unter meinen Füßen knarrten. Aber Benjamín war dabei und legte mir zur Beruhigung den Arm um die Schulter, und Pilar und Alberto waren auch da – sie lebten inzwischen auf der Finca –, und mein Bruder auch – er war aus New York gekommen –, und natürlich meine Mutter, die wie immer quicklebendig und völlig klar im Kopf war, und dazu ein Haufen Kinder, Pilars Enkel, die sich ins dunkle Wasser des Sees stürzten und ebenso selbstverständlich die umliegenden Wälder und Schluchten erkundeten, so dass ich allmählich wieder Mut fasste. Als ich nach so langer Zeit schließlich Próspero gegenüberstand, dem Verwalter, der zwar älter, aber so gut wie unverändert war – einen oder zwei Zähne hatte er verloren, davon abgesehen war er so herzlich und gleichzeitig zurückhaltend wie immer –, konnte ich die Tränen nicht mehr unterdrücken und schloss ihn lange in die Arme. Ein bisschen war es, als würde ich einem Gespenst begegnen, einem Menschen, der vor Jahren gestorben und auf einmal wieder auferstanden war.


Wieder im See schwimmen konnte ich erst, nachdem ich mehrere Tage lang misstrauisch seine Oberfläche beäugt und mich gefragt hatte, ob ich tatsächlich erneut in dieses düster-unheilvolle Wasser steigen wolle. Nichts kostete mich auch nur annähernd so viel Überwindung, und als ich mich schließlich dazu durchrang, hatte ich das Gefühl, eine schwere Phobie zu überwinden, es war, als müsste ich mit bloßen Fingern einen großen schwarzen Schmetterling aus meinem Zimmer tragen oder eine Giftschlange packen und fortschleudern. Irgendwann habe ich auch wieder ein Pferd bestiegen. Aber beide Male zitterte ich am ganzen Leib und musste gegen die Erinnerungen ankämpfen, die über mich hereinbrachen. Als ich auf dem Pferd saß, spürte ich ein heftiges Stechen im Po, so schmerzhaft war der Gedanke an das, was geschehen war. Völlig abgestreift habe ich diese Erlebnisse bis heute nicht, ich muss immer noch Tabletten nehmen, Schmerz- und Schlaftabletten, und daran wird sich wohl kaum etwas ändern. Früher bin ich regelmäßig mit meinem Freund Caicedo um die Wette geschwommen – er hatte 1956 an der Olympiade in Melbourne teilgenommen –, fünf- oder sechsmal von einem Ufer zum anderen, ich war richtig gut, auch wenn ich mit Toño wandern gegangen oder mit meinem Sohn ausgeritten bin, und ich habe es genossen, mit meiner Mutter und Pilar zusammen zu sitzen und zu nähen und alte Geschichten zu erzählen. Dabei haben wir jedes Mal viel gelacht und großen Spaß gehabt, und das gab uns das Gefühl, dass sich all das Leid trotzdem gelohnt hatte. Etwas erzählen ist eben einfach, aber es durchmachen müssen … ist ganz was anderes.


Ich erinnere mich daran, als wäre es heute passiert, dabei ist es schon über fünfzehn Jahre her. Pilar lebte damals noch nicht auf der Finca, sie hatte aber gesagt, ich könne unbesorgt dorthin fahren; seit die Paramilitärs die Guerrilla vertrieben hätten, gebe es keine Raubüberfälle und Entführungen mehr, alles sei wieder in Ordnung. Also habe ich mich, ganz allein, auf den Weg gemacht, ich wollte eine Woche bleiben und mich einfach nur ausruhen und an nichts denken. Es war Ende Mai, das Wetter war wunderbar. Ich war Anfang vierzig und immer noch eine schöne Frau, zumindest haben alle anderen das gesagt. Ich hatte mich gerade von meinem Freund getrennt, er war einer von den Idioten, mit denen ich mir manchmal die Zeit vertreibe. Später tut es mir jedes Mal leid, und ich ärgere mich, dass ich schon wieder so viel Zeit für eine sinnlose Hoffnung vergeudet habe.

Zwei oder drei Tage nach meiner Ankunft bekam ich einen seltsamen Brief. Próspero, der sich schon seit Ewigkeiten als Verwalter um La Oculta kümmert, brachte ihn mir und sagte dazu, ein Kind aus dem Dorf habe ihn abgegeben. Auf dem einmal gefalteten Stück Papier, ohne Umschlag, stand einfach nur »Eva Angel« – sonst nichts, weder eine Anrede noch Adresse –, und als ich den Zettel auseinanderfaltete – genau genommen handelte es sich um eine Seite, die jemand aus einem Rechenheft gerissen hatte –, hatte ich folgenden in Druckbuchstaben geschriebenen Text vor mir:

DOÑA PILAR HAM WIRS SCHON GESAKT

ENTWEDER SIE VERKAUFEN DIE FINCA

ODER SIE VERKAUFEN SIE. DIESE GEGENT IS NIX

FÜR ALTE DRECKSWEIBER WO ALLEIN LEBM. ENTWEDER

SIE VERKAUFEN ODER IHRE WAISENKINDER TUNS.

HEUT NACHMITTAG UM DREI WARTEN WIR AUF SIE

IM PARCK IN PALERMO. PÜNKTLICH.

BRINGEN SIE DIE PAPIERE MIT

DANN FANGEN WIR GLEICH MIT DEN FERHANDLUNGEN AN.

DRITTE UND LETZTE WARNUNG.

EL MUSICO

WENN SIE NICH KOMMEN SIND SIE

FÜR DIE FOLGEN SELPS FERANTWORTLICH.

Próspero erklärte, einmal hätten sie ihn am Eingang der Kirche von Palermo abgepasst, um ihm zu sagen, er solle Pilar mitteilen, sie würden in Dollar bezahlen, und das in zwölf Monatsraten. Obwohl der von ihnen festgelegte Preis viel höher war als der Verkehrswert von La Oculta, wussten wir, dass diese Leute jedes Mal nur die erste Rate bezahlten, um anschließend, kaum war der Kaufvertrag unterschrieben, die gesamte Finca in Besitz zu nehmen, überall auf der Suche nach Gold mit Baggern die Erde zu durchwühlen und Koka- oder Mohnplantagen anzulegen. Und falls jemand wagte, auf Einhaltung des Vertrages zu bestehen, ließen sie ihn einfach verschwinden und brachten ihn um. El Músico oder einen seiner Leute hatte ich bislang nicht persönlich kennengelernt, aber sie waren in der ganzen Gegend berüchtigt.

Damals gab es zwar schon Mobiltelefone – riesige, tonnenschwere Apparate –, aber man konnte sie nur in der Stadt benutzen. Auf der Finca hatte man keinen Empfang, und ein Festnetzanschluss war dort nie eingerichtet worden. Also benutzte ich ein Funksprechgerät, um mich mit Pilar in Verbindung zu setzen, dabei konnte ich allerdings nicht völlig frei und offen sprechen, denn Anrufe per Funk konnten auf allen benachbarten Fincas und auch in dem nahegelegenen Ort Palermo mitgehört werden. Es gab einen Privatkanal, bei dem nicht ganz so viele Leute mithörten, aber wirklich sicher konnte man sich auch dort nicht sein. Ich teilte Pilar also einigermaßen verklausuliert mit, was los war, und sie verstand, zumindest halbwegs, worum es ging. Sie antwortete, ich solle mir deswegen keinen Kopf machen, diese Typen seien Spinner, aber auch Feiglinge, sie werde den Metzger in Palermo anrufen, der die Kontaktperson sei, und die Sache klären, in jedem Fall habe sie die Kerle aber bereits wissen lassen, dass wir nicht im Traum daran dächten, La Oculta zu verkaufen, und wenn sie uns in diesem Augenblick hören könnten, dann sollten sie das ruhig, umso besser. So ist eben Pilar, immer kampflustig, nicht so ängstlich wie ich. Wirklich beruhigt war ich danach allerdings nicht, ich blieb jedoch auf der Finca, statt sofort abzureisen, was ich eigentlich hätte tun sollen. Ich war so gerne dort, in La Oculta konnte ich nach Herzenslust lesen und Yoga machen und Salat und Gemüse essen, die Blumen im Garten bestimmen, der unter Pilars Pflege schöner gediehen war denn je, im See schwimmen, zu Pferd die Umgebung erkunden, entweder bergauf, ins Hochland, Richtung La Mama, wo es kalt war, oder bergab, runter zum Río Cartama, ins warme Tiefland. Außerdem hatte ich damals in La Oculta noch das Gefühl, an einem Ort zu sein, wo mir nichts passieren kann – ringsherum lauerte die Wildnis mit ihren Bedrohungen und Gefahren, aber auf der Finca selbst fühlte ich mich sicher und geschützt wie im Inneren einer uneinnehmbaren Festung, wie auf einem Schloss mit Zugbrücke, wobei der See, wie in einem Märchen, die Rolle des Festungsgrabens übernahm, in dem sich Krokodile tummelten, obgleich es sich in Wahrheit bloß um Leguane, Karpfen und Schildkröten handelte.

Auch wenn ich La Oculta später nie wieder so geliebt habe wie zuvor und obwohl ich jetzt tatsächlich entschlossen bin, die Finca zu verkaufen, muss ich zugeben, dass von allen Landschaften der Welt, die ich bislang kennengelernt habe, keine mich so berührt hat wie die rings um die Finca. Wo auch immer ich unterwegs bin, ich trage sie stets in mir. Vielleicht gibt es schönere Landschaften, anmutigere, weniger dramatische, aber das ist nun mal diejenige, die sich mir eingeprägt hat. Die Landschaft, bei deren Anblick sich, sobald wir auf der Finca eintrafen, das Gesicht meines Vaters unweigerlich aufhellte. Als ich hier einmal neben ihm in der Hängematte saß und den See und die Berge betrachtete, stellte ich fest, dass dieser Platz an diesem Nachmittag und bei diesem Licht und in dieser Gesellschaft tatsächlich der schönste Ort auf der ganzen Welt war. Und so ist es mir dort später noch öfters ergangen, in leuchtenden Augenblicken, die nur der Begeisterung zu vergleichen sind, die man beim Betrachten mancher Bilder oder beim Hören einer bestimmten Musik erleben kann, zum Beispiel wenn Antonio, begleitet von einer Orchesteraufnahme, uns Teile eines Violinkonzerts vorträgt oder wenn ich mit meinem Freund Santiago Opernarien anhörte, mit Santiago, dem Witwer, wie sie ihn bei uns zu Hause nannten, also mit dem Lebensgefährten, von dem ich mich kurz vor Mamas Tod getrennt habe.

Auch als ich bereits mehrere Jahre nicht mehr auf der Finca gewesen war, brauchte ich nur die Augen zu schließen, um sie, eingebettet in die sie umgebende Landschaft, vor mir zu sehen. Heute noch träume ich mehrmals im Jahr von ihr. Es ist die Landschaft meiner Kindheit, als ich zu meinen Großeltern, die damals noch lebten, in die Sommerfrische fuhr, der Ort meiner Jugend und der glücklichsten wie auch der schrecklichsten Momente meines Lebens, nirgendwo habe ich das Dasein mehr genossen und durchlitten, mein verlorenes und wiedergewonnenes Zuhause. In regelmäßigen Abständen träume ich, dass etwas passiert, woraufhin ich erschrecke und vor meinen Verfolgern die Flucht ergreife, und dabei kann ich auf dem Wasser des Sees von La Oculta laufen! Ich laufe lachend auf dem See, glücklich wie eine Göttin oder wie eine Eidechse, immer weiter laufe ich und lasse die Gefahr hinter mir zurück.


Ich hatte meinen damaligen Hund mitgenommen, Gaspar, einen Golden Retriever. Gaspar war ein sanftes Tier, passte jedoch vorbildlich auf mich auf, auch wenn er niemals jemanden gebissen hätte. Das Äußerste war, dass er anfing zu knurren und dann zu bellen, wenn er merkte, dass sich Unbekannte näherten. Wie es gute Hunde eben machen, zumindest Hunde, die mir gefallen, also solche, die bellen, aber nicht beißen.

Gaspar kümmerte sich um mich und ich mich um ihn, einer war des anderen Begleiter. Stets lag er mir zu Füßen oder an meiner Seite, niemals hätte er mich allein gelassen. Sobald ich aufstand, stand auch er auf. Wenn ich in den See sprang, sprang er ebenfalls ins Wasser und schwamm hinter mir her. Wenn ich zu Fuß oder zu Pferd auf dem Gelände der Finca unterwegs war, folgte er mir und lief im Zickzack durch Wald und Wiesen, für uns Menschen nicht wahrnehmbaren Fährten auf der Spur, überall herumschnüffelnd und ein Terrain markierend, dessen imaginäre Grenzen ihm so selbstverständlich vertraut waren wie mir die der Finca, das heißt des Landes meiner Urgroßeltern, das mein Vater uns vermacht hatte und das eines Tages meinem Sohn Benjamín gehören würde.

Normalerweise gehe ich früh zu Bett, noch vor zehn, weil ich auch sehr früh aufstehe, aber an dem Tag las ich bis tief in die Nacht in der Hängematte, ich kam von dem Roman nicht los, den ich in einem Zimmer der Finca entdeckt hatte, ein altes Buch mit vergilbten Seiten, das Cobo gehört haben musste, denn sein Name stand darin – Jacobo Ángel, 17. April 1967, war auf der Titelseite zu lesen, und 20. April 1967 auf der letzten: Cobo hatte die Angewohnheit, festzuhalten, an welchem Tag er eine Lektüre begonnen und wann er sie beendet hatte. Abgesehen davon enthielt das Buch Unterstreichungen und Anmerkungen in seiner Handschrift. Der Tod meines Vaters lag bereits mehrere Jahre zurück, bei dem Gedanken an ihn brannte es aber immer noch in meinem Hals. Ich hatte das Buch gleich am ersten Tag gefunden und seither immer die ruhigen Abendstunden genutzt, um mich in die Lektüre zu versenken. Auf der letzten Seite befand sich außer dem Datum ein längerer Kommentar, ebenfalls von der Hand Cobos. Es war schön, den Spuren der Lektüre meines Vaters zu folgen, im Wissen, dass womöglich bestimmte Stellen die gleichen Gedanken in ihm hervorgerufen hatten wie in mir und dass er an denselben Stellen gelacht hatte oder erschrocken war. Bei uns zu Hause hieß es immer, niemand sei sich so ähnlich wie wir beide. Seit meiner frühesten Kindheit war es regelmäßig vorgekommen, dass wir bei Tisch genau im selben Moment genau das Gleiche sagten, und ich weiß noch, dass wir dann jedes Mal lachten und riefen: »Wir haben einen Teufel erlegt!« Gleichzeitig das Gleiche zu sagen bedeutete, dass man einen Teufel erlegt, besser gesagt, dass man die Welt von einem Übel befreit. Solche Sachen glaubt man, auch wenn sie nicht stimmen, aber weniger aus Aberglauben, sondern weil sie etwas Tröstliches haben. Zu Hause führten wir zum Beispiel, völlig unbeeindruckt von ihrem tatsächlichen Wahrheitsgehalt, eine Weisheit von Großvater Josué im Mund. Immer wenn auf der Finca ein Tier gestorben war, wenn eine Kuh einer Krankheit erlegen oder ein Kälbchen in eine Schlucht gestürzt war und sich den Hals gebrochen hatte oder eine Stute einer schweren Kolik zum Opfer gefallen war, in all diesen Fällen also verkündete der Großvater: »Der Himmel hat sein Urteil noch mal aufgehoben.« Damit wollte er sagen, dass eigentlich jemand aus der Familie mit dem Sterben an der Reihe gewesen wäre, Gott in seiner Großmut hatte uns jedoch durch ein weniger einschneidendes Opfer von diesem Schrecken befreit. Wenn ich hierbei an Gaspar denke, läuft es mir noch heute eiskalt den Rücken hinunter.

Einen Roman zu lesen, den auch mein Vater gelesen und mit Unterstreichungen versehen hatte, war, als würde ich mich mit ihm über die darin erzählte Geschichte unterhalten, als wären wir in diesem Augenblick beide auf der Finca und läsen und diskutierten gemeinsam, so wie wir es früher oft getan hatten, nachmittags nebeneinander in Hängematten liegend, oder im Zimmer meiner Eltern, das zuvor das der Großeltern gewesen war, oder an dem großen Tisch, beim Abendessen. Manchmal unterbrach ich die Lektüre und dachte über das Gelesene nach oder versuchte, mir die geschilderten Situationen genauer vorzustellen. Dabei streckte ich seitlich den Arm aus und strich Gaspar über den Rücken, den Blick gedankenverloren in die Dunkelheit gerichtet, wie es einem beim Lesen guter Bücher eben so geht – mitgerissen von den im Text verborgenen Ideen treiben die Gedanken dahin, bis sich beides irgendwann ineinanderschiebt und vermischt wie zwei große Wolken, die dann manchmal ganz schwarz werden und womöglich einen Blitz aufleuchten lassen, dessen Donner an der Stirn widerhallt, während der Regen einsetzt und wir zu weinen beginnen, an einer Saite tief in unserem Inneren berührt, von der wir gar nicht wussten, wie angespannt sie war.


Im Haus war alles dunkel, bis auf eine Stehlampe neben der Hängematte. »Nirgendwo liest es sich besser als in der Hängematte«, sagt eine Freundin von mir immer. Insekten schwirrten um die Lampe, aber sie stachen nicht – die Mücken auf La Oculta stechen nicht, uns zumindest nicht. Im See quakten ein paar Frösche, und ab und zu glitten ein Leguan oder eine Schildkröte ins Wasser, was sich anhört wie eine reife Frucht, die sich mit leisem Knacken vom Ast löst, hinabfällt und unter der Oberfläche verschwindet. Ich genoss die Gesellschaft meiner Hängematte, des Hundes, ja selbst der Insekten und Frösche, und fühlte mich sicher und geborgen.

Damals hielt ich La Oculta noch für mein eigentliches Zuhause. Alle aus unserer Familie wurden dort von einem sehr tiefen, sehr besonderen Gefühl erfüllt. Ich mag das Wort ›Energie‹ nicht, aber wenn ich es mögen würde, würde ich es jetzt verwenden – die Finca vermittelte uns etwas Ungreifbares und dennoch ganz und gar Wirkliches. »Einen Vorgeschmack des Himmels«, wie mein Schwager Alberto immer sagte.

Erst ein Motorengeräusch schreckte mich auf, irgendwelche Fahrzeuge schienen die Straße zur Finca hinaufzukommen, sie waren vielleicht eineinhalb Kilometer entfernt, in der Nähe des Gasthauses. Was seltsam war, schließlich hatte ich selbst, als ich am Nachmittag dort entlanggeritten war, das eiserne Tor mit dem Vorhängeschloss gesichert, und außer mir hatte niemand einen Schlüssel. Bis auf Próspero natürlich, aber der war früh schlafen gegangen, buchstäblich mit den Hühnern, wie immer, und lag um diese Uhrzeit sicherlich schnarchend an der Seite seiner Frau Berta im Bett, in dem Haus neben dem Stall. Auch Gaspar stellte bei dem Geräusch die Ohren auf und knurrte leise, blieb aber liegen. Danach kehrte wieder völlige Stille ein. Und ich sagte mir, das Ganze sei wohl doch nur Einbildung gewesen.

La Oculta

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