Читать книгу La Oculta - Héctor Abad - Страница 12
Eva
ОглавлениеGanz wieder zur Ruhe gekommen war ich nicht mehr, seit ich den Zettel mit der Aufforderung, die Finca zu verkaufen, erhalten hatte, das muss ich zugeben. Oder sagen wir: Alle meine Sinne waren von da an hellwach. Alles an dem Zettel war abstoßend, die linkische Handschrift, die vielen Schreibfehler, der hochtrabende Spitzname El Músico. Von wegen Musiker. Wenn jemand nichts mit Musik zu tun hatte, dann diese Leute. Die einzige Musik, von der sie etwas verstanden, war die von Gewehrkugeln, knatternden Maschinenpistolen und Drohungen. Die Urheber derartiger Botschaften waren, soweit man wusste, teils Drogenhändler, teils gewöhnliche Räuber, teils illegale Goldsucher oder Paramilitärs. Sie trieben in der Gegend um Támesis, Salgar und Jericó ihr Unwesen und rissen sich Finca um Finca unter den Nagel. Und dabei konnten sie weder Nachbarn noch Zeugen brauchen.
Trotzdem versuchte ich, mich auf den Roman zu konzentrieren. Ich weiß noch, dass auf der letzten Seite eine Anmerkung meines Vaters stand, ein Zitat wahrscheinlich, er hatte sie nämlich in Anführungszeichen gesetzt: »So sollte Literatur sein: randvoll mit Handlung, so dass kein Platz für Klischees oder sentimentale Abschweifungen bleibt. Immer wieder hatte man vor ihm von Joyce, Kafka und Proust geschwärmt, aber er hatte beschlossen, nicht die Richtung der so genannten psychologischen Schule oder des Bewusstseinsstroms einzuschlagen. Die Literatur sollte wieder so sein wie die Bibel oder Homer – Handlung, Spannung, Bilder und dazu nur eine Prise Gedankenspielereien.«
Plötzlich richtete Gaspar die Ohren auf, erhob sich – wobei die Krallen kratzend über den Holzboden fuhren – und stürzte sich mit wütendem Gebell durch den Flur in Richtung Hinterhof. Ich sprang mit einem Satz aus der Hängematte, löschte mit wild pochendem Herzen das Licht und starrte in die Dunkelheit, dorthin, wo das Bellen und Knurren des Hundes zu hören waren. Die Strahlen von zwei oder drei Taschenlampen durchbohrten die Finsternis, dann blitzte es auf und im selben Augenblick waren ein Schuss und gleich danach Gaspar zu hören, der vor Schmerz aufjaulte. Noch ein Blitz und noch ein Schuss. Dann wurde es still und das Licht der Taschenlampen erlosch.
Fast wäre ich losgerannt, um dem Hund beizustehen. Doch ich überlegte es mir gerade noch rechtzeitig und schlug eine andere Richtung ein. Mir war klar, dass ich nur über den See würde entkommen können. Ich durchquerte den Flur, stieg in völliger Finsternis die kleine Holztreppe hinunter, die zum Anleger führt, streifte im Laufen die Sandalen ab und holte tief Luft, als ich schließlich auf dem Steg stand. Hätte ich heute doch bloß kurze Hosen angezogen, sagte ich mir noch, bevor ich mich ins eiskalte Wasser stürzte. Obwohl ich die Augen weit offen hielt, sah ich rings um mich nur noch völlige Schwärze. Ich hielt die Luft an und entfernte mich unter Wasser so schnell ich konnte vom Ufer und damit vom Haus. Ich tauchte kurz auf, sog gierig so viel Luft wie irgend möglich in meine Lungen und ließ mich wieder unter die Wasseroberfläche sinken.
Dann fing ich an zu zählen. Eins zwei drei … Ich wusste, dass ich normalerweise fast eine volle Minute unter Wasser bleiben konnte, in dem Schwimmbad in Medellín, wo ich beinahe täglich trainierte, war das eine meiner Lieblingsübungen. Bevor ich bei sechzig angekommen war, würde ich den Kopf nicht aus dem Wasser strecken. Vier fünf sechs sieben. Aber langsam zählen, ermahnte ich mich innerlich, jede Zahl muss wirklich einer Sekunde entsprechen. Acht neun zehn elf. Auf einmal glaubte ich die Stimme meines Vaters in meinem Kopf zu hören. Zwölf dreizehn vierzehn fünfzehn sechzehn. Schwimm niemals bei Nacht im See. Achtzehn neunzehn zwanzig einundzwanzig. Nur wenn jemand reinfällt, der nicht schwimmen kann. Zweiundzwanzig dreiundzwanzig vierundzwanzig fünfundzwanzig. Oder wenn es um dein eigenes Leben geht. Sechsundzwanzig siebenundzwanzig achtundzwanzig neunundzwanzig. Ich schaffe es nicht, sagte ich mir. Dreißig einunddreißig zweiunddreißig dreiunddreißig. Gleich bekomme ich einen Herzinfarkt. Vierunddreißig fünfunddreißig sechsunddreißig. Die bringen mich um, wenn sie mich sehen. Siebenunddreißig achtunddreißig neununddreißig. Ich musste ein bisschen Luft ausatmen. Vierzig einundvierzig zweiundvierzig. Danach fühlte ich mich etwas besser. Und dann spürte ich, wie mir mein langes Haar übers Gesicht strich. Dreiundvierzig vierundvierzig fünfundvierzig sechsundvierzig siebenundvierzig. Gleich platzen meine Lungen, mir ist schon ganz schwindlig. Achtundvierzig neunundvierzig. Ich muss ganz langsam auftauchen, man darf nichts hören. Fünfzig einundfünfzig zweiundfünfzig. Ein bisschen noch. Dreiundfünfzig vierundfünfzig. Mein Kopf tut weh, und überall kribbelt es, langsamer jetzt. Fünfundfünfzig sechsundfünfzig. Nur einmal Luft holen und dann sofort wieder abtauchen. Siebenundfünfzig achtundfünfzig neunundfünfzig. Ein klein bisschen noch, noch zwei Armzüge. Sechzig einundsechzig zweiundsechzig dreiundsechzig. Ich tauchte auf.