Читать книгу La Oculta - Héctor Abad - Страница 14

Antonio

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Meinen Schwestern ist das alles egal, aber mir war es wichtig zu wissen, wie La Oculta einst entstanden ist. Jahrelang habe ich Bücher und alte Unterlagen aus dem Besitz der Familie durchforstet und Katasterämter, Notariate und Gemeindearchive aufgesucht, mich mit Historikern und Pfarrern unterhalten, meine ältesten Verwandten befragt, die Schwestern meines Vaters, meine Vettern und Kusinen, Onkel und Tanten, und natürlich meinen Vater und meinen Großvater, als sie noch am Leben waren.

Es ist ganz einfach. Fast das gesamte Land hier am Westufer des Río Cauca, sagen wir zwischen der Mündung des Río San Juan in der Nähe von Bolombolo und des Río Cartama gleich unterhalb von La Pintada bis hinauf in das baumlose Citará-Hochland, gehörte früher zwei Familien: den Echeverris und den Santamarías. Sie hatten diese bergigen Länder von den Republikanern erhalten, weil sie Verbündete und Unterstützer der Truppen gewesen waren, die Kolumbien von der Herrschaft des spanischen Königs befreiten.

Ich glaube, meinen Schwestern ist auch das egal, aber mir bedeutet es sehr wohl etwas, dass das Land um La Oculta niemals von irgendwelchen spanischen Monarchen an irgendwelche zweitoder drittrangigen Adligen verschenkt worden ist, die man nicht zuletzt deshalb in die Neue Welt entsandt hatte, um sich wenigstens eines Teils der Unmenge bittstellerischer und streitsüchtiger Tagediebe zu entledigen, die sich bei Hofe tummelten. Ebenso wenig ist La Oculta aber aus einer Mission, einem Kloster oder einem Priesterseminar hervorgegangen wie so viele andere Siedlungen in Amerika. Die ersten Bewohner von Jericó waren einfache Leute, die sich einer wenn auch nicht völlig gleichen, so doch sehr ähnlichen Sprache wie auch Kleidung bedienten. Einer von ihnen, Don Gabriel Echeverri, stammte aus dem Baskenland, der andere, Don Alejo Santamaría, war jüdischer Herkunft. Sie beide verbanden familiäre und geschäftliche Beziehungen. Sie waren Kaufleute wie schon ihre Väter und hatten es als solche zu eigenen Läden an der Plaza Mayor von Medellín gebracht. Unter anderem handelten sie mit Goldstaub, den sie den Goldsuchern in sorgfältig abgewogenen Mengen abkauften. Es hieß, sie seien konvertierte Juden. Vor allem Santamaría wurde dies nachgesagt, der ohne Zweifel von Marranen abstammte. Nicht auszuschließen ist, dass sie sich, vor allem zu Beginn, auch als Schmuggler betätigten und hinter dem Rücken der Steuerbehörden eingeschmolzenes Gold nach Curação transportierten, von wo sie mit Waren zurückkehrten, die sie hierzulande verkauften, wobei sie wiederum nur die Hälfte der Importe angaben, die sie auf dem Rücken einer ersten Herde Maultiere ins Land brachten, um den zweiten Teil anschließend mit den Papieren der ersten Lieferung, aber auf anderem Weg und mit einer zweiten Maultierherde, über die Grenze zu schaffen. Was ihren Landerwerb im Südwesten von Antioquia angeht, so spielte ihre Geschäftstüchtigkeit auch hier wahrscheinlich eine wichtige Rolle, und dennoch ging es dabei nicht um Betrügereien, sondern vor allem um Weitsicht und geschickten Umgang mit Zahlen.


Echeverri und Santamaría hatten nämlich allen Unwägbarkeiten des Schicksals zum Trotz – hätten die Spanier den Krieg gewonnen, hätten die beiden Kaufleute alles verloren – auf die Aufständischen und gegen die verfluchten Unterdrücker von der Iberischen Halbinsel gesetzt und Erstere im Tausch für die von ihnen unterzeichneten Quittungen mit Reis, Rohrzucker, Mais, Tabak, Hüten, Munition, Zaumzeug, Hufeisen, Nägeln, kräftigem Leinen und mit Kautschuk wasserfest gemachtem Segeltuch, Stiefeln, Seilen und Stricken versorgt. Diese Quittungen waren mit der Zeit zu einem veritablen Papierberg scheinbar ohne jeden Gegenwert angewachsen, den die beiden Kaufleute jedoch sorgfältig in einem englischen Geldschrank verwahrten, der im Hinterzimmer eines ihrer Läden stand. In Medellín spottete damals alle Welt über »die Schuldscheine der Herren Echeverri &Santamaría«, die nach allseits geteilter Ansicht nicht mehr wert waren als ein Stapel vergilbter Zeitungen, mit denen man bestenfalls unreife Avocados einwickeln oder das Herdfeuer entzünden kann.


Die beiden Alten jedoch hüteten ungerührt ihren Papierschatz und sagten sich: »Wer zuletzt lacht, lacht am besten.« Die Zeit schien ihnen recht zu geben, als sich die endgültig besiegten Spanier mit eingezogenem Schwanz davonmachten und in Bogotá die Republik ausgerufen wurde. Wie immer nach einer Revolution lag die Wirtschaft des Landes jedoch zunächst am Boden und die Verhältnisse waren schlecht und unübersichtlich. Der neuen Regierung fehlten die Mittel, um der frisch geborenen Nation ein festes Gebäude zu verschaffen. Nach langem Antichambrieren, Vorsprechen und Drängen der beiden bei den Gouverneuren der Provinz Antioquia und mehreren aufeinander folgenden Finanzministern beschloss die Zentralregierung irgendwann, sich die zwei alten Kaufleute vom Hals zu schaffen, indem man ihnen für die Schuldscheine ein weitab im tiefsten Urwald gelegenes, unwirtliches und scheinbar völlig wertloses Land am linken Ufer des Río Cauca anbot. Zwischen den steilen Bergen hausten gerade einmal zwei winzige Gruppen von Eingeborenen, Chamíes und Katíos – die meisten von ihnen waren längst von den Krankheiten, die die weißen Eroberer eingeschleppt hatten, oder durch deren gewalttätige Exzesse hinweggerafft worden. Nicht einmal Eremiten, flüchtige Sklaven, Räuber oder Verrückte hatten sich diese Gegend zum Rückzugsort erkoren.


Nach langem Hin und Her ließen Don Alejo und Don Gabriel, deren Kinder inzwischen untereinander geheiratet hatten, sich schließlich auf den ungleichen Tausch ein. »Besser ein Spatz in der Hand als eine Taube auf dem Dach«, sagten sie sich, als endgültig klar schien, dass die Regierung niemals imstande oder willens sein würde, die Schulden in barem Geld zurückzubezahlen. Alles, was sie nun bekamen, war ein Stück Urwald voll riesiger Bäume, reißender Bäche, wilder Raubtiere, bunter Vögel, Schlangen, Schmetterlinge und Moskitos. Das Klima dort wies alle nur denkbaren Extreme auf – hoch oben in den Bergen brachte es die erstaunlichen Espeletia-Sträucher hervor, die sich mit ihrer wolligen Behaarung gegen die Kälte schützen, und ganz unten, im Tiefland, Kakao, aus dem sich das köstlichste Getränk der Welt herstellen lässt, dessen geheime Rezeptur, einst den Göttern vorbehalten, eines Tages zum Wohl der Menschheit von einem einheimischen Prometheus geraubt wurde.

La Oculta

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