Читать книгу Silvaplana Blue II - Wir Kinder des Grauens - Heide Fritsche - Страница 11
VI.
ОглавлениеWas geschah mit meiner Mutter als die russische Armee über den Oderbruch hinweg rollte? Wo blieb sie, als sich Zhukow in Landsberg an der Warthe etablierte?
„Wo warst du als die Russen kamen?“, fragte ich meine Mutter.
„Die Russen hielten mich für eine Polin.“, sagte sie.
Meine Mutter eine Polin? Ich habe nie ein einziges polnisches Wort von ihr gehört. Aber das kann Verdrängung gewesen sein. Was weiß ich? Wenig.
Diese wenigen Informationen, die ich hatte, bekam ich von den Einwohnern von Warta. Als ich 1986 in Warta war, sprach mich eine Frau an:
„Ich habe ihre Mutter gekannt. Wir waren jeden Tag auf dem Hof. Wir waren vier Schwestern. Wir hatten keine Eltern mehr. Niemand kümmerte sich um uns. Meine älteste Schwester arbeitete auf dem Hof ihres Vaters in Warta. Sie war die beste Freundin von Hilde. Darum waren wir jeden Tag auf dem Hof. Hier bekamen wir zu essen. Hier haben wir überlebt. Als die SS kam und den Hof beschlagnahmte, mussten wir den Hof verlassen. Meine älteste Schwester kam als Dienstmädchen auf den Hof nach Schützensorge.“
Diese Schwester lebte 1986 in Posen. Sie schrieb mir, sie möchte meine Mutter gerne wiedersehen. Als ich den Brief bekam, war meine Mutter schon tot.
Eine solche Freundschaft hält auch durch die schlimmsten Katastrophen. Als die sowjetische Armee nach Schützensorge kam, wurde meine Mutter wahrscheinlich von ihren polnischen Freunden aus Warta gedeckt und als Polin ausgegeben.
Aber diese polnischen Mädchen hätten ihr keinen Job als Köchin im Hauptlager von Zhukows Armee verschaffen können. Diese polnischen Dienstmädchen waren für die Russen Material. Sie konnten ihren Dienst in den polnischen Streitkräften der russischen Armee verrichten. Doch mit Lügen über die Identität von Deutschen wären sie weder bei den Russen noch bei den Polen weit gekommen
Meine Mutter wurde aber Köchin für die sowjetische Armee. Sie machte den Feldzug der Eroberung von Berlin auf russischer Seite mit. Das erzählte mir eine Rote Kreuz Schwester 1961 in Briesen/Mark.
Ich war in den Ferien bei meinen Großeltern. Eines Tages kam eine mir unbekannte Dame zum Hause meines Großvaters. Sie wollte mich sprechen.
„Sie sehen genau wie ihre Mutter aus“, sagte sie. Ich fühlte mich gar nicht geschmeichelt. Meine Mutter war kein Vorbild für mich. Derartige Gleichsetzungen beleidigten mich empfindlich. Außerdem war dies eine Zeit, wo ich schon dabei war, alle Verbindungen zu meiner Mutter abzubrechen. Aber das ging niemanden etwas an. Darüber sprach ich nicht. Ich wollte mich schnellsten von dieser Dame verabschieden. Ich stand auf, um zu gehen, da sprach die Dame hastig weiter:
Ich habe ihre Mutter gekannt. Sie hat uns das Leben gerettet. Ich war als Rote Kreuz Schwester für ein Flüchtlingslager verantwortlich. Ihre Mutter war in Landsberg an der Warthe Köchin für die russischen Soldaten. Jeden Abend hat sie alle Essensreste in Papier eingepackt und am Lagerzaun eingegraben. Nachts haben wir von der anderen Seite einen Tunnel gegraben und uns diese Essensreste herausgeholt. Das war in Wochen und Monaten das einzige Essen, das wir hatten. Damit haben wir überleben können.“
Wie und warum wurde meine Mutter Köchin in Zhukows Armee in Landsberg an der Warthe? Es ist möglich, dass meine Mutter in Schützensorge die Überlebenden der polnischen Heimatarmee wieder fand. Mit denen hatte sie jahrelang in Warta kollaboriert.
Tante Ingeborg, die dritte Frau meines Vaters, sagte verächtlich: „Sie lebte mit einem Russen zusammen.“
„Einem Offizier, sagte sie mir.“
„Ach was, das soll ein ganz gemeiner Soldat gewesen sein, sagt dein Vater.“
Möglicherweise war dieser „ganz gemeine Soldat“ ein Mitglied der polnischen Heimatarmee, den sie schon von Warta her kannte. Ihr Haus in Warta war das Hauptquartier des polnischen Widerstands gewesen.
Ich wurde in Warta in der Bruchstraße Nummer eins geboren. 1986 hatte ich auf meiner Reise nach Warta ein Bild von diesem Haus bei mir. Ich habe die Einwohner gefragt, was sie mir hiervon erzählen konnten. Die einzigen Informationen, die ich bekam, waren verlegende Bemerkungen:
„Das war das Hauptquartier des polnischen Widerstands.“ Die Frauen flüsterten. Die Angst schnürte ihnen noch immer die Kehle zu.
„Da hauste der Widerstand.“ Die Blicke streiften verlegen nach rechts und links. Hoffentlich hörte das niemand.
„Ach das da, da wohnte ein Russe.“ Das war von einer wegwerfenden Handbewegung begleitet. An solche Dinge zu rühren war unbehaglich und peinlich.
Der Abstand zwischen dem Haus in der Bruchstraße Nummer eins und dem Hauptportal der Psychiatrischen Anstalt aus der deutschen Besatzungszeit betrug kaum fünfzig Meter. Dieses Hauptportal wurde von der SS bewacht. Zwischen der SS und der Bruchstraße Nummer eins waren keine Sträucher und Bäume. Die SS hatte damit über dieses Grundstück eine totale Aufsicht und Kontrolle – glaubte sie.
Dass sich hier das Hauptquartier des polnischen Widerstands etabliert hatte, direkt vor den Augen der SS, soviel Frechheit hatten nicht einmal Himmlers Schergen für möglich gehalten!
Um zu verstehen, warum meine Mutter als Polin in Zhukows Armee integriert werden konnte, muss man die Geschichte der polnischen Widerstandsbewegung kennen.