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VIII.

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Nach dem Waffenstillstand wollten die Amerikaner und Engländer auch einen Schimmer vom Glanz und Gloria des Dritten Reiches haben. Berlin war das Machtsymbol des Dritten Reiches gewesen. Um den Sieg über das Dritte Reich zu feiern und zu demonstrieren, brauchte man ein Stück von Berlin. Nur hier konnte man seine eigene Größe zur Schau zur stellen. Wenn die Amerikaner und Engländer an der Elbe saßen, bewies das noch gar nichts, aber wenn sie in Berlin saßen, bewies das alles. Erst hier begriffen alle, wer der Sieger war.

Die Amerikaner und Engländer verhandelten mit Stalin. Ein kleines Stückchen von Berlin wurde gegen Thüringen, Sachsen und Teilen von Mecklenburg eingetauscht. Stalin liebte diesen Kuhhandel. Seine Macht wurde damit bemerkenswert nach dem Westen verschoben.

Am 14. Juni teilten die Westmächte der Sowjetunion mit, dass die amerikanischen Truppen Sachsen und Thüringen räumen würden und die Engländer Teile von Mecklenburg. Am 1. Juli zogen die amerikanischen Truppen aus Sachsen und Thüringen ab und am selben Tag in Berlin ein. Am gleichen Tag marschierten die Engländer aus Mecklenburg ab und in Berlin ein.

Am 1. Juli marschierten die russischen Einheiten von Berlin ab und besetzen noch am selben Tag Thüringen, Sachsen und Teile von Mecklenburg. Das war das totale Chaos. Die Einheiten der Roten Armee gerieten mitten in die Truppenbewegungen der Amerikaner, die aus Thüringen und Sachsen abzogen und in die Truppenbewegungen der Engländer, die aus Mecklenburg abzogen hinein. Keiner hatte einen Überblick über die Situation, nicht die Lokalbevölkerung, nicht die einmarschierenden Russen und nicht die abmarschierenden Amerikaner und Engländer.

Meine Mutter nutzte dieses Chaos aus, um sich bescheiden und leise aus der großen Weltgeschichte abzumelden.

Wie bist du von den Russen weggekommen?“, fragte ich sie.

Ich bin in Thüringen geflüchtet.“, erzählte mir meine Mutter.

Sie brauchte Wochen und Monate, um zu Fuß durch die Hölle, die sich jetzt nicht mehr Deutschland nannte, nach Bochum zu kommen. Als sie in Bochum ankam, war sie halb verhungert und blind.

Als einziges Gepäck schleppte sie ihren Hass, ihre Angst und ihre Alpträume mit sich. Die prügelte sie sich von der Seele. Ihr einziger Besitz waren wir, ihre Kinder.

Kinder gehören zur Mutter“, erklärte sie vor Gericht. Das Gericht gab ihr Recht. Also konnte sie mit uns machen, was sie wollte. Wenn sie von Angst gejagt wurde, warum sollten wir es besser haben?

Das war eine Mutter, die mir fremd war, weil ich nicht bei ihr aufgewachsen war. Das war eine Frau, vor der ich Angst hatte, weil sie mich mit allem schlug, was ihr gerade in die Hände kam. Als Kind habe ich sie gehasst. Ich lief weg. Ich verließ Bochum für immer. Ich vergaß. Meine Mutter interessierte mich nicht mehr. Sie war mir gleichgültig.

1986 bin ich von Warta aus nach Berlin gefahren. Von Berlin wollte ich über Saßnitz nach Norwegen zurückfahren. Ich rief meine Mutter in Bochum an. Meine Mutter rauchte und hatte ein Raucherbein und Durchblutungsprobleme. Ein Bein sollte amputiert werden, aber zuerst wollte man eine Baipaß-Operation durchführen. Ihre Adern waren so verkalkt und kaputt, dass der Baipaß nicht durchgeführt werden konnte. Nach der Operation hatte sie im Krankenhaus einen Herzinfarkt bekommen. Dieser Herzinfarkt veränderte ihren Charakter total. Früher hatte sie weder mich, noch meine Kinder sehen wollen, jetzt bettelte sie:

Heidi, du kannst doch deine Mutter besuchen.“

Statt nach Norwegen fuhr ich nach Bochum. Sie saß im Rollstuhl, ein jämmerliches Häufchen Elend. Sie sprach selten. Sie dämmerte vor sich hin. Der erste Herzinfarkt ließ sie langsam in ein anderes Leben hinübergleiten. Ich aber kam aus Warta, ich war brennend daran interessiert zu erfahren, wie ihr Leben während des Krieges war:

Erzähl mir von Polen.

Ach Heidi, das waren andere Zeiten …“

Was meinst du mit anderen Zeiten?“

Darüber kann man nicht sprechen.

Darüber konnte sie nicht sprechen, also gab es das nicht. Ihre Vergangenheit gehörte nicht zu ihrem Leben. Das war nicht sie, das war irgendetwas ganz anderes. Sie konnte nicht in ihre eigene Seele schauen. Sie war psychisch desintegriert.

Bei ihrem Tod empfand ich nichts als Trauer über ein Leben, das sie verloren hatte.

Ich will nicht in die gleiche Falle laufen. Ich will nicht den Schmutz, ich will nicht den Hass, ich will nicht die toten Seelen der Mörder mit mir ins Grab nehmen.

Silvaplana Blue II - Wir Kinder des Grauens

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