Читать книгу Mondo Veneziano - Heidrun Reinhard - Страница 28
Chiaras Welt
ОглавлениеÜber die frühe Geschichte des Palazzo, der schätzungsweise um 1470 erbaut wurde, ist nichts bekannt. Die schöne Fassade variiert in den beiden Hauptstockwerken das typische, vom Dogenpalast abgeleitete Fenstermotiv der venezianischen Spätgotik: durchbrochene Rosetten über spitzbogigen Arkaden. Das Dachgeschoss mit der zierlichen Terrassenbrüstung und die Interieurs sind aus einer jüngeren Epoche. Sie tragen die Handschrift von Chiara Pisani-Moretta, die den Palast von 1739 bis zu ihrem Tod 1767 umbauen und neu dekorieren ließ, so lange, bis der dunkle alte Familienpalast in ein glänzendes und festliches Haus im Stil des Rokoko verwandelt war.
Zu Lebzeiten ihres Vaters, des Prokurators Pietro Francesco Pisani-Moretta, der sich sein hohes Amt mit 25.000 Dukaten erkauft hatte, war daran nicht zu denken gewesen. Der zweifache Witwer, dem seine Kinder bis auf Chiara weggestorben waren, hatte ein freudloses Leben in extremer Sparsamkeit geführt. Um den großen Immobilienbesitz, darunter zwei Palladio-Villen auf dem Festland, auch ohne männliche Nachkommen für die Familie zu retten, verheiratete er die blutjunge Chiara mit Girolamo Pisani, einem Verwandten aus dem Zweig der Pisani dal Banco. So sicherte er das Fortleben des Namens im Tausch für ein reiches Erbe. Dies bestand nicht nur in unbeweglichen Gütern, sondern auch in zwei schweren eisernen Truhen voller Golddukaten.
Als der Vater mit 85 Jahren starb, war Chiara 34, eine junge Witwe mit sechs unmündigen Kindern, und begann, sich für die Entbehrungen der Jugend zu entschädigen. Zunächst kaufte sie Schmuck – viel Schmuck: die teuersten Perlen, Smaragde und Diamanten. Sie wurde eine der besten Kundinnen der Juweliere vom Rialto, bei denen sie im Lauf der Jahre 84.900 Dukaten ließ. Von 1000 Dukaten jährlich konnte ein Patrizier bereits standesgemäß leben. Aber Chiara konnte sich nicht nur aus den Tresoren bedienen. Sie hatte auch ein sagenhaftes Einkommen von 50.000 Dukaten jährlich aus dem vereinigten Vermögen der Familienzweige Pisani-Moretta und Pisani dal Banco.
Damit verfügte sie über fast unerschöpfliche Mittel, um den Familienpalast über Jahrzehnte hinweg senza economia, ohne jeden Sparzwang, und unter Beteiligung der besten Meister Venedigs so zu gestalten, wie es ihr gefiel. Sie schuf sich eine triumphale Bühne für den gesellschaftlichen Auftritt, eine leuchtend bunte Welt des schönen Scheins, in der die Decken sich in blaue Götterhimmel öffneten und die Raumgrenzen im Dekor der Wandflächen und seiner Spiegelreflexe verschwammen. Glitzernde und spiegelnde Materialien waren wesentlicher Bestandteil der Inszenierung: polierte Fußböden und kristallene Muranoleuchter, goldsprühendes Rahmenornament, geschliffener Marmor, Lackmöbel, schimmerndes Porzellan. Großartig und festlich wirkten die Salons, verschwenderisch drapiert mit seidenen Samten und Damasten und geschmückt mit Deckenfresken erstrangiger venezianischer Meister wie Tiepolo und Guarana, wie zierliche Schmuckschatullen die intimeren Kabinette. Ein barockes Treppenhaus verband die Stockwerke nun anstelle der gotischen Außentreppe, die abgebrochen worden war. Chiara Pisani-Moretta war die Vorreiterin einer Modewelle, in der die Eliten der Stadt sich gegenseitig darin zu überbieten suchten, ihre oft düsteren Paläste in lichte Rokokoträume mit nie gesehenem Komfort, Stil und Luxus nach französischem Vorbild zu verwandeln.
Erhalten sind die Rechnungsbücher, in denen sämtliche Ausgaben für Künstler, Handwerker und Material genauestens verzeichnet sind. Dreißig Jahre lang erhielt der Quadraturmaler Francesco Zanchi Aufträge, der nicht nur die Deckenfresken in Trompe-l’œil-Manier rahmte, sondern die gesamten Dekorationsarbeiten koordinierte. Zwölf Jahre nach Beginn des Umbaus wurden erstmals auch Möbelschreiner und Tapezierer entlohnt, ein Hinweis darauf, dass zumindest einige der neuen Prachträume bewohnt wurden.
Das berühmteste Kunstwerk im Palast war ein monumentales Tafelbild des Renaissance-Malers Veronese: Die Familie des Darius zu Füßen Alexanders – 1857 bei einer Erbteilung für 13.560 Pfund an die National Gallery in London verkauft. Seine Besichtigung gehörte noch für Goethe zum Besucherprogramm, wie seinen Notizen vom 8. Oktober 1786 zu entnehmen ist: „Den Palazzo Pisani-Moretta besuchte ich wegen eines köstlichen Bildes von Paolo Veronese …“ Zu diesem Monumentalgemälde ließ Chiara von Piazzetta, dem neben Tiepolo wichtigsten Maler der Stadt, ein Pendant anfertigen: Tod des Darius, heute im venezianischen Museum Ca’ Rezzonico. Aus den Registern geht hervor, dass der Künstler zwischen 1745 und 1746 einen Teil seines Honorars in Naturalien aus Chiaras Landgütern erhielt, jeweils mit Wertangaben, darunter „… Mehl 6 Säcke aus Este Lire 144, … Reis 1 Sack Lire 69:6, … Reis 426 Pfund aus Bagnolo Lire 81:15 Lire, … Wein 1 Faß aus Montagnana Lire 198,8“.
Die Rechnungen verraten auch einiges über Chiaras Lebensstil. Sie ging gern ins Komödientheater und unterhielt deshalb Logen in mehreren Häusern, spielte einmal im Monat Lotto und hatte gern Gesellschaft, worauf beträchtliche Ausgaben für Kakao und Zucker hinweisen, die kostbaren Zutaten für das Modegetränk der cioccolata. Natürlich empfing sie nicht nur im Palast, sondern auch in ihrem ridotto bei San Marco. Ridotti oder casini waren die ganz privaten Rückzugsorte der feinen Gesellschaft. Hier traf man sich in intimer Runde nach dem Theater zur Konversation – conversazione hieß auch die große Kanne für die heiße Schokolade – das hieß: zum Klatsch, zum Glücksspiel oder zu heimlichen Schäferstunden, wie bei Casanova nachzulesen ist. Es gab in Venedig zu dieser Zeit etwa 130 private casini und ein staatliches ridotto, das erste offizielle Spielcasino der Welt. 1774 wurde es allerdings wieder geschlossen, um den Ruin großer Vermögen durch die grassierende Spielsucht zu stoppen. Als Sonderausgaben taucht in Chiaras Rechnungen einmal ein Papagei auf, ganz selten ein kostbar ausgestattetes Buch. Auffallend ist der relativ geringe Aufwand für ihre Garderobe, die normalerweise zu den zwingenden Luxusausgaben gehörte. Eine nobildonna wie Chiara Pisani-Moretta stand gegen Mittag auf. Während der Toilette empfing sie Besucher zur vertraulichen conversazione und Schokolade in ihrem Kabinett, dessen Zentrum der Frisiertisch war, ein Luxusmöbel aus kostbarem Material mit einem ganzen Arsenal von silbernen Accessoires wie Kämmen, Spiegeln und Dosen für Puder, Pasten, Pulver, Öle und Essenzen. Wegen der morgendlichen Zeremonie verschob sich das Mittagessen weit in den Nachmittag. Am Abend ging sie ins Theater, anschließend ins Café oder ins casino, in der Regel bis 5 Uhr früh. Vermutlich bediente sich Chiara dabei wie das bei adligen Damen die Regel war, eines cicisbeo, eines galanten Begleiters, der ihr den Tag über und in allen Lebenslagen zur Seite stand. Sie gab großzügige Trinkgelder, spendete den Armen, den Klöstern und Kirchen und beschenkte ihre Kinder.
Die Töchter hatte sie gut verheiratet, ebenso den älteren Sohn Pietro Vettore, der eine Caterina aus der illustren Familie Grimani ehelichte und mit ihr im Palast eine Wohnung bezog. Er war es, der nach dem Tod der Mutter den großen Ballsaal mit seinen neun Muranolüstern in Auftrag gab, der Maurizio Sammartini bei seinem ersten Besuch so stark beeindruckte und der noch heute das festliche Zentrum des Hauses ist. Der zweite Sohn Vettore allerdings verliebte sich mit 22 Jahren standeswidrig in die schöne Teresa Vedova, Tochter eines Spiegelgraveurs. Es half nichts, dass der Vater sie vorsorglich in einem Kloster auf Murano unterbrachte, um sie von Vettore zu trennen. Wie hätte er ahnen können, dass ausgerechnet die Oberin des Klosters den Verliebten zu einer heimlichen Heirat verhalf.
Die Affäre war „das“ Stadtgespräch. Die arme Teresa war bereits schwanger, als man sie in einem anderen Kloster internierte. Nach der Geburt eines Sohnes, den sie in der Familientradition der Pisani Pietro nannte, hatte sich der junge Vater bereits dem Druck von Mutter und Bruder gebeugt und in die Sommervilla bei Padua abgesetzt. Die Ehe wurde mit Zustimmung Vettores annulliert. Chiara bewilligte Teresa eine Rente, aber „circa alla creatura“, von der Kreatur, die ihr Enkel war, wollte sie nichts wissen. Das Kind wurde der Mutter weggenommen und bei einer Amme in Obhut gegeben.