Читать книгу Tambara und das Geheimnis von Kreta - Heike M. Major - Страница 16

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Ihre Rechnung ging nicht auf. Sie hatten gehofft, viele gemeinsame Stunden miteinander zu verbringen, doch jeder von ihnen hatte einen Auftrag der Stadt Tambara im Gepäck und es waren ernsthafte Studien, die auf ihre Bearbeitung warteten. Sie mussten das Material besorgen, vor Ort die Arbeiten verfolgen, Einheimische interviewen, brauchbare Fotos aufnehmen und im Hotelzimmer vor der Spiegelwand ihre Eindrücke sammeln, vergleichen, ordnen und katalogisieren.

Reb war fast den ganzen Tag auf den Feldern, begutachtete die neuen Anpflanzungen oder begleitete die Architekten bei der Besichtigung von Dörfern, die als neue Heimat für die umzugswilligen Städter infrage kamen. Er hatte noch keine Ahnung, wie er die Serie aufziehen sollte. Das Ganze gestaltete sich doch komplizierter, als er gedacht hatte.

Mortues wusste gar nicht, wo er anfangen sollte. Anscheinend gab es keine kranken Leute auf der Insel. Jedenfalls bekam er, wenn er jemanden fragte, was sie im Falle einer schwerwiegenden Erkrankung machen würden, immer die gleiche Antwort: „Aufs Festland fahren, in ein modernes Krankenhaus.“

Botoja hingegen hatte es leichter. Sie fand überall Motive, scannte sie mit ihrem Technikarmband ein, um dann an der Spiegelwand im Hotelzimmer Häuser, Bäume, Tiere und Trachten tragende Menschen in stark vereinfachtes Kunststoffspielzeug umzuwandeln. Manchmal tönte ein „Entzückend!“ oder „Ach, wie niedlich!“ aus ihrem Zimmer. Dann wussten die Freunde, sie hatte ein brauchbares Objekt erschaffen.

Soul war an einem toten Punkt angelangt. Sie hatte das ihr zur Verfügung gestellte Archivmaterial akribisch durchforstet, doch irgendwie hörten sich die gesichteten Musikstücke trotz der fremden Sprache alle sehr ähnlich an. Fast alle griffen auf die typischen Merkmale der modernen Massenmusik zurück: einfache Melodien, Dur-Tonleitern, eine Aneinanderreihung von Terzen von unten nach oben gespielt (stimmten fröhlich und machten wach), Texte, die zu Herzen gingen, und natürlich die Wiederholung von Silben, die aus nur zwei Buchstaben bestanden und schon beim ersten Hören mitgesungen werden konnten. Um wirklich alte Musik schien es sich hier nicht zu handeln. Die Einheimischen waren seltsam nachlässig gewesen bei der Archivierung ihres musikalischen Erbes. Wenn sie bedachte, wie sorgfältig sie mit ihren architektonischen Schätzen umgegangen waren, konnte sie daraus nur schließen, dass es sich bei diesen Stücken nicht um wirklich wertvolles Material handelte. Wurde sie hier zum Narren gehalten?

Zu allem Überfluss neigte sich der Frühling dem Ende zu. Die Temperaturen stiegen beständig, und auch wenn das Quecksilber in dem alten Röhrchen neben dem Hoteleingang noch nicht in den Bereich Sommer geklettert war, musste Soul erstaunt feststellen, dass ihr (an wohltemperierte Großstadträume gewöhnter) Körper diesen Temperaturen nicht wirklich gewachsen war. Ihr Kreislauf quälte sich bei jeder Bewegung wie eine Dampfmaschine, und die altertümlichen Klimaanlagen in den Hotelzimmern pusteten nur kalte Luft in den Raum und ließen ihren von Schweiß bedeckten Körper trotz Hitze unangenehm frösteln. Soul fragte sich, wie die Urlauber von damals diese Tortur hatten aushalten können. Erzählungen der Einheimischen zufolge war es ihre einzige oder zumindest bevorzugte Bestimmung gewesen, den ganzen Tag in der Sonne zu liegen und braun zu werden. Ein Phänomen, welches Soul Denkfalten auf die Stirn trieb. Es wunderte sie auch, dass in einem Hotelzimmer mit modernster Computertechnik noch keine adäquate Klimaanlage eingebaut worden war. Sollten die Gäste etwa vergrault werden?

„Wir sind immer gut mit den Gegebenheiten zurechtgekommen“, hatte Eléni geantwortet, als Soul sie einmal danach fragte.

So ergab es sich von selbst, dass die Freunde nach der anstrengenden Arbeit zwar gemeinsam zu Abend aßen, aber keine weiteren Pläne schmiedeten. Eigentlich war es ja auch ganz angenehm, nach der Hitze eines langen Tages auf der weinberankten Terrasse zu sitzen und auf das Meer hinauszublicken. Dieses Vergnügen der früheren Touristen zumindest konnte Soul nachvollziehen.

Heute hockten sie nach einem schmackhaften Abendessen noch ein wenig länger zusammen. Eine angenehme Kühle wehte vom Wasser zur Terrasse herüber, und das Zirpen der Zikaden, das auch hier und jetzt überall zu hören war, wirkte erstaunlich beruhigend auf ihre Gemüter.

„Ob die Natur uns so müde macht?“, fragte Botoja, als sie sich ein paar Liegestühle schnappten, um in der Dämmerung noch ein wenig am Strand zu sitzen.

„Es ist das Klima“, bestätigte Soul, „und immerhin sind wir viel auf den Beinen.“

Das leuchtete ein.

Eine Weile saßen die Freunde schweigend nebeneinander, den Wellensaum zu ihren Füßen beobachtend, dem Flüstern der Bäume lauschend, ihren eigenen Gedanken nachhängend. Irgendwann drückte Reb auf sein Technikarmband und deutete den anderen an, es ihm gleichzutun. Die Freunde gehorchten und schalteten ihre Armbänder ebenfalls aus.

„Man kann ja nie wissen“, ergänzte er laut.

„Und die Liegestühle?“, fragte Mortues.

„Unwahrscheinlich. Woher sollen sie im Voraus wissen, welchen der Blechgestelle wir uns aussuchen.“

Er schaute in die Runde.

„Also?“

„Also was?“

„Lasst uns mal sammeln, was wir bisher wissen.“

„Nichts.“

„So gut wie nichts.“

„Nichts Brauchbares.“

„Das weiß man vorher nie“, widersprach Reb.

„Ach, wir sollten einfach unsere Arbeit beenden und dann so schnell wie möglich nach Hause fliegen“, murrte Botoja.

Soul grübelte.

„Was haltet ihr von einem Jeep, der gerne zum Hotel zurückfährt, aber immer dann, wenn er in Richtung einer bestimmten Schlucht fahren soll, seinen Geist aufgibt?“

„Fernsteuerung“, meinte Reb, „sie schalten die Zündung aus.“

„Gab es denn früher so etwas schon?“, fragte Mortues.

„Früher nicht“, erklärte Reb, „aber im Zeitalter des voll automatisierten Alltags wird man ja wohl fähig sein, der modernen Technik ein neues Gewand“, er verbesserte sich, „einen alten Blechkasten überzustülpen. Sie wollen nicht, dass wir zu dieser Schlucht fahren.“

„Das ist ja grauenvoll“, stöhnte Soul, „jetzt sind wir schon in der nackten Natur und immer noch nicht allein.“

„Big brother is watching you“, ergänzte Reb.

„Kennt ihr nicht?“, fragte er, als die anderen ihn verdutzt ansahen. „War im zwanzigsten Jahrhundert ein Klassiker. Solltet ihr mal lesen.“

„Genützt hat es trotzdem nichts“, ergänzte Soul, die sehr wohl wusste, von welchem Schriftstück ihr Bruder redete.

„Im Grunde bist du nirgends vor Zuhörern sicher“, meinte Mortues. „Theoretisch könnten sich sogar in euren Bikinis Fasern zum Abhören befinden.“

Die Männer grinsten, als Soul und Botoja unbewusst an sich hinunterblickten. Denn natürlich hatten die beiden Frauen ihre Badekleidung längst gegen Jeans und T-Shirts ausgetauscht, und ihre Bikinis hingen, gewaschen und ausgewrungen, an den provisorischen Wäscheleinen auf ihren Balkonen.

„Solche Fasern sind doch längst verboten“, beruhigte Reb. „Die Stichproben sind streng und die Strafen bei Verstößen auch nicht von Pappe.“

Soul stand auf.

„Was hast du vor?“, fragte Botoja ahnungsvoll.

„Jetzt will ich’s wissen“, erwiderte sie und ging die paar Schritte bis zum Wasser.

„Hilfe“, sagte sie leise, „ich brauche Hilfe.“

Die anderen blickten sich erschrocken an.

„Lass das!“, schimpfte Botoja.

„Hilfe“, wiederholte Soul ein wenig lauter.

„Bist du verrückt? Du sollst das lassen!“

„Hilfe, Hilfe, ich brauche Hilfe!“, schrie sie laut und wedelte mit den Armen. „Hört mich denn niemand? Ich brauche Hilfe, Hilfeeeeeee!“

Sie wurde immer lauter.

Auf der Terrasse erschien ein alter Mann.

„Ist alles in Ordnung?“, rief er herüber.

„Ja, danke“, rief Soul zurück, „ich wollte nur wissen, ob mich im Hotel jemand hört!“

„Das ist nicht Ihr Ernst!“, schimpfte der Alte. „Mit so etwas treibt man keinen Schabernack, junge Dame. Wir haben Ihre Schreie bis in die Küche gehört und uns ernsthaft Sorgen gemacht. Wenn Sie das nächste Mal ein ähnlich pubertäres Bedürfnis verspüren, nehmen Sie am besten ein kaltes Bad.“

Ungehalten drehte er sich um und stapfte ins Haus zurück.

Die Freunde schwiegen betreten. Soul ließ sich auf ihren Liegestuhl fallen und hielt den Mund. Reb dachte an etwas ganz anderes. Er hätte schwören können, im Schein der Terrassenlampen das Gesicht des alten Mannes von der Spiegelwand erkannt zu haben.

Tambara und das Geheimnis von Kreta

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