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Heikes Geschichte

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Ich habe keine Ahnung, wie meine Mutter damals reagierte, als sie feststellte, dass sie mit mir schwanger war. Die Beziehung zu meinem Vater endete so schnell, wie sie begonnen hatte. Übrig geblieben war ich. Vor ein paar Jahren erzählte mir meine Mutter die ganze Geschichte aus ihrer Sicht. Sie lebte damals noch bei ihrer alleinerziehenden Mutter. Ihren Vater kannte sie kaum, da die Ehe ihrer Eltern geschieden wurde, als meine Mutter noch sehr klein war. Meine Oma war eine strenge Frau, die es nicht zuließ, dass meine Mutter mich bei sich großzog. Im sechsten Monat schwanger musste sie in ein Mütterheim, damit die Nachbarn bloß nicht mitbekamen, dass sie ein uneheliches Kind erwartete. Es waren die Sechziger.

Sofort nach meiner Geburt kam ich für einige Zeit in ein Kinderheim, danach wurde eine Pflegefamilie für mich gefunden. Mein Urvertrauen war angeknackst. Ein Jahr später kam mein Vater zurück. Für meine Mutter damals die einzige Möglichkeit, mich wieder zurückzubekommen. Damit begann das Desaster. Es gab viel Streit, Gewalt und unschöne Erfahrungen, bei denen ich nicht ins Detail gehen möchte. Meine Eltern haben es sicherlich so gut gemacht, wie sie eben konnten, aber als Kind habe ich die Folgen der katastropalen Ehe zu spüren bekommen.

Das Grundgefühl, an das ich mich erinnere, war Angst.

Angst, verlassen zu werden, Angst, allein zu sein, Angst, nicht geliebt zu sein, Angst vor Versagen, Angst, Erwartungen nicht zu entsprechen, Angst vor Unberechenbarkeit, vor dem Donnerwetter, Angst, mich zu blamieren, Ärger zu bekommen, nicht genug zu haben, zu kurz zu kommen, keine Freunde zu haben, zu widersprechen.

Als Kind war mir das nicht so bewusst, aber durch den Kontakt zu anderen bekam ich eine Ahnung davon, dass Familie eigentlich anders gelebt wird.

Die schönsten Erinnerungen habe ich an Weihnachten. Wenn mein Vater mit uns zur Oma fuhr, wir dort den Nachmittag verbrachten und währenddessen meine Mutter den Tannenbaum schmückte und die Geschenke unter den Baum stellte. Nach unserer Rückkehr mussten wir vor der geschlossenen Wohnzimmertür warten, bis Mutter das Glöckchen klingelte. Weihnachten war immer Frieden. Auch bei uns.

Eins meiner Highlights war meine große Barbie-Ausstattung. Ich hatte eine Tante in Amerika, die uns regelmäßig zu Weihnachten Pakete schickte. Für mich waren immer Barbie und Co. dabei. Schon in den 70ern hatte ich einen Swimmingpool, einen Campingwagen, ein Zelt und anderes Zubehör, das es in Deutschland noch nicht zu kaufen gab. Mit meinen Barbie-Figuren spielte ich regelmäßig heile Familie. An einem Tag kam mein Vater von der Arbeit nach Hause und es gab ein riesiges Donnerwetter wegen unserem unaufgeräumten Zimmer. Er beförderte meine komplette Barbie-Sammlung in die große Mülltonne vor unserem Haus. Die Nachbarskinder bekamen davon Wind und freuten sich über neues Spielzeug. Ich muss damals neun Jahre alt gewesen sein.

Solche Ausbrüche haben sich seitdem wiederholt. Mein Herz fing jedes Mal vor Angst an zu rasen, wenn mein Vater im Anmarsch war. Wenn ich aus meinem Zimmer heraus die Autotür hörte, wenn er die Treppe hochkam, den Schlüssel in die Wohnungstür steckte. Ich war immer in Habachtstellung. Ich teilte mir damals mit meinem drei Jahre jüngeren Bruder ein Zimmer. Wir zwei lagen schon im Bett, da gab es mal wieder einen Streit zwischen meinen Eltern. Plötzlich riss mein Vater die Tür zu unserem Zimmer auf und machte ein großes Theater, weil es nicht aufgeräumt war. Er zog alle Schränke auf und schmiss unsere ganzen Sachen auf den Boden. Danach bekamen wir beide eine Tracht Prügel. Mein Bruder und ich saßen anschließend weinend im Bett und legten einen Schwur ab: »Das werden wir ihm NIE verzeihen.« Wir verabredeten sogar ein Codewort, mit dem wir uns über Jahre an diesen Schwur erinnerten. Sehr viel später erst erkannte ich, wie wichtig Vergebung ist.

Ordnung gehörte nicht zu meinen Fähigkeiten, sehr zum Leidwesen meiner Eltern. Auch die schlimmsten Disziplinarmaßnahmen brachten nicht den gewünschten Erfolg. Der einzige Ort, an dem ich Ordnung lernte, war bei meiner Oma. Sie wachte mit Argusaugen darüber, dass ich meine Sachen SOFORT an den Platz räumte, wo sie hingehörten. Ich verbrachte meine Ferien gerne bei ihr. Trotz ihrer Strenge. Bei ihr musste ich mit geradem Rücken auf dem Stuhl sitzen. Hin und wieder mit Bügel im Rücken. Ihr habe ich wohl meine gerade Haltung zu verdanken. Während sie täglich mit einer Kehrmaschine den Teppich saugte, musste ich mit einem Kamm die Teppichfransen gerade kehren. Meine Oma brachte mir das Stricken, Häkeln und Nähen bei. »Langes Fädchen, faules Mädchen«, lehrte sie mich. Und: »Halte Ordnung, liebe sie, es erspart dir viel Zeit, Arbeit und Müh.« Sie kochte den allerleckersten Wirsing. Bei ihr war Ruhe und Beständigkeit.

Es gab vieles, was ich mir anders gewünscht hätte, aber es war nicht alles schlecht. Als Kind, das in den Siebzigerjahren groß wurde, gehörten Gummitwist und Seilspringen zu meinen Lieblingssportarten. Und Hula-Hoop. Bis heute schaffe ich es, stundenlang mit Schwung den Ring über die Taille zu schwingen. Gelernt ist gelernt. Was ich nie gut konnte: Handstand, werfen und fangen. »Das kannst du wirklich nicht«, bestätigen auch meine Kinder. Außer Basketball. Körbe werfen klappt.

Als ich 12 Jahre alt war, trennten sich meine Eltern. Ich blieb mit meinem Bruder umständehalber bei meinem Vater, seiner neuen Partnerin und ihrer Tochter. Wir zogen damals vom Dorf in die Großstadt. Wir wohnten in Köln, meine Mutter zog nach Bremen. Sie lernte einen neuen Partner kennen und heiratete wieder. Ich weiß noch, als ich sie damals das erste Mal zusammen mit meinem Bruder besuchte. So viel Ruhe, Geborgenheit und Harmonie hatte ich noch nie in meinem Leben erfahren. Für mich stand fest: Ich ziehe zu ihr. Noch im Zug auf der Rückfahrt von Bremen nach Köln erzählte ich meinem Bruder davon. Er war sofort hellauf begeistert und wollte auch. Drei Wochen später zog er um.

Warum ich die Entscheidung traf, doch nicht zu gehen, weiß ich nicht mehr. Vielleicht wollte ich meinen Vater nicht enttäuschen. Vielleicht erhoffte ich mir aber auch ein besseres Leben, wenn ich mit ihm allein blieb. Ich war damals 13 oder 14 und die pubertierende Egozentrik hatte mich voll im Griff. Das führte unter anderem dazu, dass es mir in der Schule wichtiger war, beliebt zu sein, als gute Noten zu schreiben. Die achte Klasse wiederholte ich freiwillig, weil ich sonst mit dem Französischunterricht nicht hätte weitermachen können. Aber auch in den folgenden Jahren nahm ich das mit dem Lernen nicht so wichtig. Ich tat das Nötigste, um den Durchschnitt zu halten. Außer in meinem Lieblingsfach: Mathematik. Logisches Denken war schon immer meine Stärke. Wenn es heute bei uns am Tisch ums Rätselraten geht, rufen die Kinder schon immer: »Mama macht nicht mit.«

Als junges Mädchen hatte ich einige Träume. Einige traute ich mich anzugehen, andere nicht. Ich wollte gerne Klavier spielen lernen und tanzen. Mein Vater stellte mich vor die Wahl: Klavierunterricht oder Tanzschule. Ich wählte die Tanzschule.

Das war ab sofort das Highlight meiner Woche. Bei einem Wettbewerb gewann ich sogar den zweiten Platz und sah mich schon als Profitänzerin auf der Bühne. Mit 15 Jahren kam der Wachstumsschub. Innerhalb von ein paar wenigen Monaten schoss ich auf 1,76 m in die Höhe. Superschlank, mit langen Beinen bekam ich damals den Vorschlag, mich als Model zu bewerben. Lach jetzt ruhig, aber wenn dir so was im Alter von 16 Jahren gesagt wird, dann bist du schon geschmeichelt und beginnst, von einer Karriere zu träumen. Aber nur kurz, denn natürlich wusste ich, dass Tanzen und Modeln brotlose Künste sind. Außerdem wollte ich sowieso Nachrichtensprecherin werden, am liebsten bei der Tagesschau. Leider lispele ich etwas, vor allen Dingen, wenn ich aufgeregt bin, und damit war dieser Traum schon zerplatzt, bevor er richtig geträumt war.

In der Schule standen die Praktika an. Mit meinem Zahlenverständnis brauchte ich nicht lange zu überlegen. Ich ging zur Bank. Nach dem Praktikum war mir klar: Ich werde Bankkauffrau. Doch auf jede meiner Bewerbungen bekam ich eine Absage.

Zu Hause spitzte sich die Situation zwischen meinem Vater und mir zu. Ich war mittlerweile 16 Jahre alt und wurde quasi zu Hause eingesperrt. Zur Schule gehen, putzen, lernen und lesen waren die einzigen Dinge, die ich durfte. Dabei wäre ich zu gerne mit Freunden auch abends zum Tanzen gegangen. Ich wurde rebellischer und mutiger. Einmal habe ich mich widersetzt, mit dem Ergebnis, dass plötzlich mein Vater vor mir in der Disco stand.

Es gab so viele andere Situationen, an die ich mich gar nicht mehr erinnern und die ich auch nicht erzählen möchte. Kurz vor meinem 17. Geburtstag stand ich wieder vor der Entscheidung wegzugehen. Ich war drei Wochen bei meiner Mutter zu Besuch und hatte gehofft, dass sie mich fragen würde, ob ich zu ihr ziehen wolle. Ich selbst traute mich nicht zu fragen. Was würde passieren, wenn sie Nein sagte? Praktisch gesehen war ein Umzug schwierig, da sie zusammen mit ihrem neuen Mann und meinem Bruder in einer 3-Zimmer-Wohnung lebte. Wo sollte ich da unterkommen?

Zurück von meinem Besuch eskalierte es zu Hause. Ich wusste, mein Vater würde mich niemals gehen lassen. Ich traf meine Entscheidung. Ohne ihm oder meiner Mutter Bescheid zu sagen, packte ich ein paar Sachen zusammen und verließ Köln. Für immer. Das war am 11. April 1983, zwei Monate vor meinem 17. Geburtstag. Während der gesamten Zugfahrt hatte ich Angst, dass mein Vater mein Fehlen frühzeitig bemerken und mich an irgendeinem Bahnhof abfangen würde. Auch wusste ich nicht, wie meine Mutter reagieren würde.

Als ich bei ihr zu Hause ankam und die Treppe zu ihrer Wohnung hochlief, stand sie an der Tür, schlug die Hände vors Gesicht und rief: »Kindchen, was machst du denn hier?« »Mama, schick mich bitte nicht wieder weg.« Dann brach ich in Tränen aus und fiel ihr um den Hals. Für meine Mutter war völlig klar, dass ich bleiben konnte. Sie hatte nur nicht erwartet, dass ich zu ihr ziehen wollte. Wir hatten uns beide damals nicht getraut zu fragen. Nach all den Jahren der Angst war das die mutigste Entscheidung, die ich in meinem Leben getroffen habe. Meine Mutter sagt heute noch: »Es war die beste Entscheidung deines Lebens.«

Anfangs schloss ich mich bei jedem Klingeln an der Haustür im Badezimmer ein. Ich hatte Angst, dass mein Vater mich wieder zurückholen wollte. Er drohte meiner Mutter ständig damit am Telefon. Und er weigerte sich, mir meine persönlichen Sachen zu schicken. Ich weiß, dass ich ihn mit meinem Weggang sehr verletzt habe. Ihm war vor allen Dingen das Ansehen anderer Leute sehr wichtig. Jetzt hatten ihn beide Kinder verlassen. Auch wenn unser Verhältnis so schwierig war, er hat mich dennoch geliebt. Ich ihn auch. Es vergingen ein paar Jahre, bis wir uns versöhnten.

Nachdem meine Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht und später das Sorgerecht bekommen hatte, entspannte ich mich etwas. Es war wie ein Durchatmen. Mein Leben nahm eine 180-Grad-Wende. Meine schulischen Leistungen verbesserten sich schlagartig und ich bekam plötzlich Lust zu lernen. Der ganze emotionale Leistungsdruck von zu Hause war weg. Ich lernte nicht mehr, um meinem Vater gerecht zu werden, sondern weil ich das wollte. Ich schloss die Realschule als Zweitbeste meines Jahrgangs ab und bekam schon nach dem ersten Halbjahr die Empfehlung, weiter auf das Gymnasium zu gehen. Meine Mutter empfahl mir damals den »sicheren« Weg. Im öffentlichen Dienst gab es ein paar freie Ausbildungsplätze. Ich schrieb zwei Bewerbungen, eine an das Gymnasium, eine an den Senat der Stadt Bremen. Die Zusagen kamen zeitgleich.

Noch heute hadere ich ein wenig damit, dass ich kein Abitur gemacht habe, aber hätte ich den Weg aufs Gymnasium gewählt, wäre mein Leben komplett anders verlaufen. Während der Berufsschulzeit habe ich meine Freundin Karin kennengelernt, die mich damals mit in ihre Kirche nahm. Dort habe ich zum Glauben an Jesus gefunden, habe meine Werte verändert, meinen Mann kennengelernt und Freundschaften geschlossen, die bis heute währen.

Für mich ist es eins der größten Wunder, wie ich mich trotz meiner schwierigen Vergangenheit entwickelt habe. Wie ich alte, festgefahrene Erfahrungen, Charakterzüge und Generationsentwicklungen durchbrechen konnte und ein selbstbestimmtes und glückliches Leben führen kann. Die Ehe meiner Eltern war geschieden, die meiner Großeltern auch, auch die Eltern und Großeltern meines Mannes waren getrennt. Ich habe, ohne noch näher ins Detail zu gehen, Dinge gesehen, gehört und erlebt, die ein Kind nicht hätte sehen, hören oder erleben dürfen.

Darum erzähle ich dir meine Geschichte. Es ist definitiv wahr, dass deine Kindheit über deine Persönlichkeitsentwicklung mitentscheidet. Aber das heißt nicht, dass du nicht jederzeit die Möglichkeit hast, deinem Leben eine Wende zu geben. Es gibt Menschen, die aus den schwierigsten Verhältnissen kommen und ein erfolgreiches, selbstbestimmtes Leben führen. Und andere wiederum, bei denen alles nach Plan lief, die ein gutes Elternhaus hatten, Freunde an jeder Hand, umhegt und gepflegt wurden und die dennoch ihr Leben an die Wand fahren.

Mutig zu sein ist eine Entscheidung und Angst zu haben gehört dazu.

Am Ende zählt nicht, woher du kommst, sondern wohin du gehst.

Oder wie C. S. Lewis schrieb: »Du kannst nicht zurück und den Anfang ändern, doch du kannst da beginnen, wo du bist, und das Ende ändern.«

Trau dich

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