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Beates Geschichte
Оглавление»So eine große Frau und so ein kleines Kind«, scherzte der Arzt bei meiner Geburt. Ich war ein Sandwichkind, das dritte von vier Kindern. Meine älteren Geschwister und ich kamen innerhalb von drei Jahren zur Welt und meine Eltern bauten gerade ein Haus. »Mehr Kraft war da wohl gerade nicht drin«, lächelte meine Mutter, wenn sie von früher erzählte. Aber sie war eine Vollblutmutter, die täglich mit uns in den Wald ging. Im Herbst sammelten wir Eicheln und Kastanien, um mit Streichhölzern daraus zu Hause Tiere zu basteln. Wenn wir aus dem Kindergarten und der Schule kamen, duftete es schon von Weitem nach Mittagessen. Vorher gab es frisch gepressten Obst- oder Möhrensaft.
»Ihr habt uns Kindern eine Steilvorlage fürs Leben gegeben«, ehrte ich meinen Vater in meiner Laudatio anlässlich eines runden Geburtstags. Schwimmen, Sportverein, Musikunterricht und kirchliches Leben gehörten wie selbstverständlich zu unserer Kindheit.
Ich war eine leidenschaftliche Wasserratte, am liebsten unter Wasser, und zwar so lange, bis ich vor Kälte bibberte. Das bescherte mir regelmäßig Mittelohrentzündungen, die schließlich chronisch wurden. Meine erste Frage bei den Ohrenarztbesuchen: »Wann darf ich wieder schwimmen?« Bis ich 22 war, hatte ich jedes Jahr mehrmals Mittelohrentzündungen. Die letzte verschwand, als ich eines Abends mit Freunden zusammensaß und sie mit mir dafür beteten. Seitdem glaube ich an Wunder.
Meine älteren Geschwister waren Leichtathleten, ich ging zum Turnen und liebte Ballett. Monatelang übte ich Spagat und Flickflack, weil meine Mutter mir versprochen hatte, wenn ich eine bestimmte Position beherrschte, bekäme ich ein Tutu, das typische Tanzkleid der Balletteusen. Obwohl ich die Position irgendwann konnte, habe ich das Tutu nicht gekriegt. Ich hab’s verschmerzt, aber vergessen habe ich es nicht.
Mit meiner Rechenschwäche brachte ich meine Mutter schon in der Grundschule zur Verzweiflung, sodass sie einen Mitschüler für die Nachhilfe engagierte.
Mein Vater war ehrenamtlicher Organist und spielte jeden Sontag in der katholischen Kirche die Orgel. Außerdem leitete er den Kirchenchor und den Männergesangsverein. Musik gehörte bei uns zum Alltag.
Meine Mutter konnte wunderschön singen und ich bewunderte sie sehr. An eine Situation kann ich mich noch sehr gut erinnern. Ich bin mit meiner Mutter in der Kirche und strahle sie an: »Mama, es gibt keine Frau, die so schön singt wie du.« »Ach«, wehrte Mutter verschämt ab, »das stimmt doch gar nicht.« Als kleines Mädchen konnte ich nicht verstehen, warum sie mein kindliches Lob abwehrte.
Scham will dir einreden, du bist nicht schön genug, schlau genug, schlank genug – und du singst nicht schön genug. Ist Scham vererbbar?
Eine weitere Erinnerung taucht auf, da war ich schon 20: Wir sitzen mit Freunden zusammen und machen Musik. Der Gitarrist spielt mein Lieblingslied, ich freue mich und singe laut mit, bis ich merke, dass ich die Einzige bin, die den Text kennt und jetzt noch mitsingt. Die anderen hören zu. Plötzlich kommen die Fragen hoch: Singe ich schön genug? Soll ich weitersingen? Ist das nicht peinlich? Ich bringe das Lied zu Ende, alle klatschen, aber in mir bleibt das Gefühl, mich verletzbar gemacht zu haben.
Scham will dir einreden, dass du besser unsichtbar sein solltest, den Mund nicht aufmachen solltest, weil andere dann vielleicht sehen, dass du nicht perfekt bist – und du es gar nicht wert bist, dasss man dich beachtet.
Ich habe gelernt, dass Verletzbarkeit annehmen heil werden bedeutet. Dass ich perfekt bin, auch wenn ich Unperfektheit zeige. Dass ich es wert bin, den Applaus zu bekommen. Dass ich es wert bin, beachtet zu werden. Aber es war ein Prozess. Wie viele »Ichtraumichnichts« wohl auf Scham beruhen? Vielleicht helfen dir unsere Beispiele, falsche Scham abzulegen und unverschämt mutig zu werden.
Meine Mutter war eine attraktive Frau. Ich liebte es, wenn sie sich für besondere Gelegenheiten schön machte, die Haare sorgfältig frisierte, Lippenstift auflegte und eines ihre wunderschönen Kleider trug. Einige Kleidungsstücke habe ich noch in lebhafter Erinnerung, die wollte ich auf jeden Fall haben, wenn ich erwachsen bin. Was mich als Mädchen oft wunderte: dass sie sich nicht jeden Tag so schön machte. Mutter war Hausfrau, viel im Garten, viel im legeren Freizeitlook gekleidet. Immer ordentlich, aber ich liebte den Glamourfaktor, der sie umgab, wenn der Anlass es verlangte. Meine Vorliebe für schöne Kleider begann also schon in der Kindheit. Im Gegensatz zu meiner Mutter trage ich sie täglich – und Lippenstift benutze ich auch.
Wie heute erinnere mich an einen Eklat im Flötenunterricht. Das war der Tag, an dem meine Lehrerin herausfand, dass ich die mit der Gruppe geübten Stücke zwar einwandfrei beherrschte, aber keine Noten lesen konnte. Da hatte ich mich erfolgreich durchgeschummelt. Meine Lehrerin war empört.
Als Kind las ich und las und las. Ich liebte die Romane von Enid Blyton. »Hanni und Nanni«. »Fünf Freunde«. Einmal bekam ich mehrere »Dolly«-Bände zu Weihnachten geschenkt und versank schon am Heiligabend so tief in meine Lektüre, dass das erste Buch ausgelesen war, als meine Eltern und Geschwister aus der Christmette kamen. Besuche in der Schulbücherei waren mein Highlight. Natürlich bin ich später eine Lesemutter geworden, die ihren Kindern stundenlang vorlas. Und wenn sie eingeschlafen waren, las ich weiter. Auch heute ist meine Leselust ungebremst. Ich besitze nach wie vor einen Büchereiausweis und es ist ein Feiertag, wenn ich ein paar Stunden in einer großen Buchhandlung schmökern kann.
Mein Vater wachte mit Strenge über die schulischen Leistungen meiner älteren Geschwister und die Schimpfe beim Lateinabhören und Klavierüben ließ mich schon früh nach Auswegen suchen, um Ärger zu vermeiden. Statt Klavier lernte ich Gitarre und ging auf die Realschule, mit Wahlfach Französisch. Das konnte Papa beides nicht. Durchgeschummelt oder einfach kreativ? Auf jeden Fall beschäftigte ich mich lieber mit Lösungen als mit Problemen.
Meine Realschulzeit verlief reibungslos. Ich hatte Freundinnen und kam gut mit. Das Dramatischste war mein Jahr Magersucht mit 14. Darüber erzähle ich dir im Kapitel »Trau dich, verletzbar zu sein« mehr. Meine Eltern haben sich zu Recht Sorgen gemacht, denn am Schluss war ich klapperdürr. Es kam aber nicht so weit, dass ich ärztliche Hilfe gebraucht hätte, denn nach ziemlich genau einem Jahr kam die Wende: Wir hatten Besuch. Es gab leckeres Essen und meine Cousine kam mit frisch belegten Laugenstangen auf mich zu und bot mir eine an. »Warum eigentlich nicht«, dachte ich und fing wieder an zu essen. Gott sei Dank. Meist gehen solche Erkrankungen nämlich nicht von alleine weg, sondern erfordern psychologische und medizinische Hilfe.
Ganz sicher hat dieses einschneidende Jahr dazu beigetragen, dass ich später meinen Wunschberuf als Diätassistentin ergriffen habe.
Aus meiner Realschulzeit fallen mir kleine Mutanfälle wie die Sache mit der Stinkbombe ein. Stolz bin ich nicht darauf, aber sie zeigt etwas von meinem Charakter, spannende Sachen einfach mal auszuprobieren, statt lange zu zaudern. In der Pause hatten wir Schüler uns darauf geeinigt, eine Stinkbombe zu zertreten. Ich glaube, wir wollten die letzten beiden Stunden frei bekommen. Und da lag die Stinkbombe in einem Glasröhrchen auf dem Boden des Klassenzimmers und keiner traute sich draufzutreten. Diese Unentschlossenheit ging mir so gegen den Strich, dass ich den Job übernahm. Die ganze Klasse bekam eine Strafarbeit und ich einen Brief an die Eltern.
Motivationscoach Mel Robbins hat die »5-Sekunden-Regel« erfunden.2 Wenn eine Entscheidung ansteht, sagt sie, gibt unser Gehirn uns fünf Sekunden, um sofort zu handeln. Zaudern wir länger, stellt sich unser Gehirn in den Weg. Um schneller und vor allem öfter ins Handeln zu kommen, empfiehlt sie, schlicht runterzuzählen: 5-4-3-2-1 und Action.
Ohne diese Regel gekannt zu haben, traf ich Entscheidungen schon als Kind intuitiv und schnell.
Kirchliches Engagement war für uns selbstverständlich. Jahrelang leitete ich eine Kindergruppe, ich war im Kirchenchor und in der katholischen Jugend. Ebenso jobbte ich in den Schulferien. Von dem ersparten Geld kaufte ich mir eine bessere Gitarre und später eine rote Vespa.
Die erste Spritztour unternahm ich mit meiner Schwester Dorothee. Ohne uns von den Eltern zu verabschieden, brachen wir zu einem Spontanbesuch bei den 170 Kilometer entfernten Verwandten auf. 1976 gab es weder Handys noch Navis. Ziemlich stolz riefen wir abends zu Hause an.
Mit meiner Vespa konnte ich zur weiterführenden Schule in der Nachbarstadt fahren. Mit ihr fuhr ich nachmittags zur Theater-AG und abends zum Tanzen. Ich liebte die Feste auf den Dörfern und blieb so lange weg, wie ich durfte. Meine Eltern wussten, sie konnten sich auf mich verlassen.
Nur einmal wollten sie mich abends nicht fortlassen. Da musste ich kreativ werden. Als alle schliefen, schlich ich mich aus dem Haus und ließ den Motor des Rollers erst in sicherer Entfernung an. Als ich nachts in mein Zimmer schlich, saß im Sessel ein Gespenst. Nein, meine Mutter.
Die rote Vespa wurde mein Markenzeichen und ich hab sie geliebt. Erst acht Jahre später, als ich mit unserer ältesten Tochter schwanger war, habe ich sie weitergegeben.
Mit 18 Jahren kam die große Wende. Ich erlebte den Unterschied zwischen »christlich« und Christ. Ich hatte Gott ja nie angezweifelt und war gut in unsere katholische Kirchengemeinde integriert. Aber mein Glaube war ein Kopfding und hatte nichts mit meinem Herzen zu tun.
Ich lernte Leute kennen, die völlig anders von Gott sprachen als ich. Petra, die durch die Scheidung ihrer Eltern auf Abwege gekommen und in Drogen hineingeraten war, erzählte, wie Jesus sie von Bitterkeit und Drogensucht befreit hatte. Auch meine anderen neuen Freunde erzählten krasse Dinge, die sie mit Gott erlebten. Das faszinierte mich.
Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass Gott keine Theorie, sondern real erfahrbar ist. Kein Mensch sagte mir, dass ich nicht mehr zum Tanzen gehen dürfte. Aber mein Interesse war erloschen. Ich hatte Feuer für Jesus gefangen und wollte so viel wie möglich darüber wissen, wie ich Gott persönlich erfahren konnte.
Leider bekam ich keinen Ausbildungsplatz in meinem Wunschberuf als Diätassistentin. Aber durch mein Fachabitur hatte ich die Möglichkeit zu studieren. Theologie schien mir das Logischste zu sein. Ich bekam einen Studienplatz und zog nach Mainz. Die historisch-kritische Bibelauslegung und die »Entmythologisierung« meines Glaubens machten mir aber ganz schön zu schaffen. Im zweiten Semester erhielt ich eine Vorladung vom Ordinariat. Man hatte von meinen Kontakten zu einer evangelischen Freikirche gehört und legte mir nahe, diese Kontakte einzustellen, wenn ich später eine Anstellung in der Kirche anstrebte. Meine Bedenkzeit war kurz. 5-4-3-2-1. Ich beendete mitten im Semester das Studium.
Ich bin froh über diese Erfahrung und werde im Kapitel »Trau dich, Entscheidungen zu treffen« noch näher darauf eingehen. Die Berufswahl ist wohl eine der wirklich großen Entscheidungen unseres Lebens. Durch diesen kleinen Umweg habe ich noch schneller herausgefunden, was ich nicht (sein) will. Ich überbrückte die Zeit mit einem 4-Wochen-Kurs zur Schwesternhelferin bei den Johannitern und einem Praktikum in einem Altenheim. Nachmittags war ich so kaputt von der ungewohnten Arbeit, dass ich auf der Stelle einschlief.
Mein Vater, der gerade zur Kur in Bad Mergentheim war, machte einen Ausflug ins nahe Würzburg und schaute in der Fachschule für Diätassistentinnen vorbei, die mich zwei Jahre zuvor abgelehnt hatten. Genau an diesem Tag gab eine Schülerin ihren Platz aufgrund einer Schwangerschaft frei. Wie durch ein Wunder rückte ich nach und wenige Monate später zog ich nach Würzburg, um doch Diätassistentin zu werden. Umwege erhöhen die Ortskenntnis, sagt man. Dieser Umweg hat sich gelohnt.