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Bewusste Entscheidung
ОглавлениеDer zweite Aspekt, den ich nennen möchte, ist die Individualisierung. Sie bedeutet keineswegs, wie manchmal angenommen, automatisch selbstzentrierten Individualismus. Vielmehr heißt Individualisierung zunächst nur, dass die Menschen heute im Prinzip die Freiheit haben, ihr Leben selbst so zu gestalten, wie sie es wollen, anstatt vorgegebenen Rollen und Lebenswegen zu folgen. Das Wort von der „Bastelbiografie“, erfunden von dem Soziologen Ronald Hitzler, ist fast schon in den allgemeinen Sprachschatz übergegangen und bezeichnet den mit Chancen wie Risiken verbundenen Versuch, sein Leben soweit wie möglich selbst zu gestalten.
Das Engagement zahlloser Ehrenamtlicher in Parteien, Kirchen und Vereinen zeigt, dass solche Individualisierung keineswegs in Egoismus und Vereinzelung führen muss. Der in solchem Engagement zum Ausdruck kommende solidarische Gebrauch der Freiheit ist ein lebendiges Zeugnis dafür, dass Individualisierung und Gemeinschaft nicht in Gegensatz zueinander stehen müssen. Wer sich heute in der Kirche engagiert, tut das aus einer bewussten Entscheidung heraus und nicht, weil er oder sie im Grunde kaum eine andere Wahl hätte.
Und auch Kirchenaustritte erscheinen in einem neuen Licht, wenn sie auch als Ausdruck einer zu bejahenden Individualisierung gesehen werden. So schmerzlich Kirchenaustritte als Konsequenz von bewussten Entscheidungen sind, so gewichtig und auch erfreulich ist gleichzeitig die Tatsache, dass eine erstaunlich hohe Zahl von Menschen unter den Bedingungen von Individualisierung offensichtlich nach wie vor der Kirche die Treue hält!