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Berlin

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Seit damals bin ich vor dem Geburtstag meiner Mutter immer sehr nervös, da ich bis heute das Gefühl habe, dass ich für das Gelingen dieses Tages die Verantwortung trage. Einen Geburtstag, den sie übrigens nie mochte, weil er einerseits bedeutet, dass sie älter wird, was sie nicht gern hat, zweitens, weil er in der dunklen Jahreszeit liegt und daher doppelt deprimierend ist.

Diese Tatsache hat sie viel später veranlasst, einen zweiten Geburtstag auf den 21. Juni zu legen. Das empörte unseren Sohn sehr, weil es für ihn implizierte, dass sie dadurch das Anrecht auf zweimalige Beschenkung hatte. Unfair.

Was sie dabei gänzlich übersah, war die Tatsache, dass dieser zweimalige Geburtstag theoretisch ja auch die Alterung beschleunigte.

In Berlin war es die meiste Zeit dunkel – oder dann in der kurzen Sommerzeit sehr hell und oft auch sehr heiß. So heiß, dass wir in der Schule hitzefrei bekamen. Gespannt haben wir in der Klasse das Thermometer beobachtet. Wenn es bis 10.30 Uhr 25 Grad im Klassenzimmer hatte, wurden wir nach Hause geschickt. Nach Hause hieß direkt von der Schule mit den Freunden ins Freibad. Wir waren in diesen Tagen schon immer auf diese Möglichkeit vorbereitet, die Schwimmsachen waren bereits im Schulranzen. Zu essen hatten wir unsere Pausenbrote und dazu kauften wir uns um wenige Pfennige Fassbrause. Das war Sommergefühl pur.

Ich weiß nicht, warum meine Eltern das erlaubt haben. Es gab kein Handy, wir konnten sie nicht benachrichtigen und wir waren obendrein mit dem Fahrrad unterwegs. Aber das war damals normal und gab mir ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit.

In den dunklen Zeiten erwachte in meiner Mutter bereits ihr Dekorationsdrang, und sie versuchte, die Wohnung durch Tapezierung in einen großen Dschungel zu verwandeln. Mein Vater fühlte sich aber in unserem schmalen Esszimmer inmitten all der Lianen gar nicht mehr wohl, ja er gab sogar vor, schwindlig zu werden. Also wurde das Experiment schnell wieder übermalt, denn das Esszimmer war Lebensmittelpunkt für ihn, weil er gern und viel aß. Nur wenn er arbeitete, war er diszipliniert und hatte seine fixen Menüs, die kaum variierten: vor einer Probe zum Frühstück ein weiches Ei, am Tag einer Vorstellung zu Mittag ein Steak.

Da er damals an der Berliner Oper engagiert war und noch nicht so viel reiste wie später, war das eigentlich Alltag. Dessert gab es nie bei uns, nur zum Kaffee haben sich meine Eltern manchmal eine Tafel Frigor oder eine Packung Pischinger Ecken gegönnt. Im Berlin der frühen 1960er-Jahre waren das Spezialitäten, die man nur in der Delikatessenhandlung bekam, genauer gesagt, bei Rack am Roseneck.

Sozialer Mittelpunkt für meine Eltern, die aus der Schweiz nach Berlin gezogen waren, waren die Einladungen in die Schweizer Delegation. Dort kamen alle Schweizer zusammen, die es nach Berlin gespült hatte, darunter sehr viele Künstler: Aurèle Nicolet, der virtuose Flötist, die temperamentvolle Cembalistin und Weltbürgerin aus Chur Silvia Kind, die Tänzerin Anna Schwarz, die mit ihrem Mann Günter Grass und ihren gemeinsamen Zwillingen vis-à-vis von uns in der Karlsbader Straße in einem ausgebombten Haus lebte.

Natürlich traf man sich bald auch außerhalb der Delegation. Bei Silvia, deren Villa Kunterbunt direkt am Halensee stand, durften wir schwimmen gehen. Aurèle, der am Tag meiner Geburt seinen 30. Geburtstag feierte und meiner Mutter die Wehen mit Kartenspielen verkürzte, nahm mich oft zu Spaziergängen in den Grunewald mit. Günter Grass beschreibt ihn in Mein Jahrhundert: »… auch er ein Feuerkopf, dem das Kraushaar lodert und – wie ich einst fand – verführerisch anziehend zu Gesicht steht.«

Wenn ich nach Berlin komme, gehe ich oft unsere Route ab, und demnächst planen wir unseren gemeinsamen 150. Geburtstag.

Meine Eltern führten ein gastfreundliches Haus, sonntags gab es Brathendl und jeder war willkommen. Unvergessen, wie die Grass-Zwillinge das Huhn mit den Knochen verschlangen. Natürlich realisierte ich damals nicht, dass diese schlimmen Kinder die Söhne des späteren Nobelpreisträgers waren.

Die Grassens bezogen ihr Haus in Friedenau und wir übersiedelten vom Roseneck nach Dahlem. Günter war nicht mehr nur der großartige Dichter und Künstler, sondern trommelte zunehmend in der deutschen Politik, brachte seine Wortgewalt in den Reden des damaligen Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt ein. Mein Vater baute seine internationale Karriere auf, war viel auf Tournee, und so verlor man sich.

1999 präsentierte Günter Grass Mein Jahrhundert in der Josefstadt, meine Eltern lebten damals schon mit uns in Wien, und es kam zu einem Wiedersehen und einer langen Nacht im Gutruf.


Taufe von Bruno Grass. Kinder von links nach rechts: mein Bruder Michael, Raoul Grass, Christine Kammer, Laura Grass, Franz Grass, mein Bruder Andreas sitzend, dahinter ich mit meiner Mutter

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