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Ernstli H.

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»Er war nicht gerade von zarter Gestalt, eher korpulent, gedrungen und wirkte etwas massiv. Sein Gesichtsausdruck konservativ, dickrandige dunkle Brille. Nichts Besonderes. Mal ein Normalmensch im Hause Grass.«

So beschreibt Margarethe Amelung meinen Vater in den Fünf Grass’schen Jahreszeiten und konnte nicht glauben, dass das derselbe Mann war, den sie am Abend zuvor in Così fan tutte in der Oper erlebt hatte.

»Dennoch erschien es mir nahezu unfassbar, Ernst Haefliger mir gegenüber zu haben. Vielleicht weil er hier nichts Künstlerisches zur Schau stellte, sich nicht produzierte und sich keinesfalls arrogant, sondern wie ein ganz normaler Mensch benahm. Er hatte es ebenso wenig nötig wie unser Chef, im Alltag groß aufzutreten.« (aus Fünf Grass’sche Jahreszeiten von Margarethe Amelung, der Haustochter bei Familie Grass in dieser Zeit)

Zum ersten Mal sah ich meinen Vater 1959 auf der Bühne bei der Generalprobe zur Verkauften Braut. Das heißt, eigentlich sah ich ihn nicht. Ich war damals drei Jahre alt. Als Anhaltspunkt gab meine Mutter mir mit, dass er einen roten Hut aufhaben würde. Aber das half gar nichts, denn es waren nur rote Hüte auf der Bühne, und ich erkannte ihn nicht.


Probe zu Die verkaufte Braut (Deutsche Oper, Berlin) mit Pilar Lorengar: Ohne Hut hätte ich ihn erkannt.

Trotzdem ist mir der Vormittag, damals war die Oper noch im Theater des Westens einquartiert, unvergesslich geblieben. Viele Jahre später trafen wir den Tullner Bürgermeister Willy Stift und seine Frau. Beim Verabschieden sagte Frau Stift, sie sei gebürtige Berlinerin und ihre Mutter eine berühmte Opernsängerin.

Ich konterte: »Ich bin auch gebürtige Berlinerin und mein Vater ist ein berühmter Opernsänger.«

Ihre Mutter war die wunderbare Pilar Lorengar, die Marie meines Vaters jener Verkauften Braut.

Drei Jahre später durfte ich dann wirklich mit. Am Abend. Schon in die richtige Oper in der Bismarckstraße. Hertha Klust, die Korrepetitorin meines Vaters, schrieb mir eine Mini-Partitur von Così fan tutte, ging mit mir die wichtigsten musikalischen Teile am Klavier durch und erklärte mir die Handlung. Ich war bestens vorbereitet.

Zu Mittag des großen Tages brachte mir mein Vater ein kleines beiges Abendtäschchen mit. Nun war auch mein Outfit perfekt. Ich war so aufgeregt, dass ich natürlich kein Mittagsschläfchen halten konnte. Trotzdem bin ich am Abend nicht eingeschlafen und habe alles verstanden. Er war wieder sehr verkleidet, aber diesmal habe ich die Stimme sofort erkannt.

Mein Vater war Sänger. Nicht mehr und nicht weniger. Er hätte im Alter nie umsatteln können auf Rosenzüchten oder auf Dichten. Für ihn drehte sich alles um die Stimme, und er gab sein Wissen bis zum letzten Tag an seine Schüler weiter. Übrigens verstanden ihn am besten die Schüler, die eigentlich weder Deutsch, Englisch, Französisch oder Spanisch konnten. Diejenigen konnten von ihm profitieren, die ihn intuitiv verstanden. Jedes Theoretisieren war ihm fremd.

Er lehnte Rollen ab, wenn er das Gefühl hatte, dass sie seiner Stimme nicht guttun würden. Auch oft zum Nachteil seiner Karriere. So gibt es seinen wunderbaren Florestan nur in einer Einspielung mit Ferenc Friczay, auf der Bühne hätte er diese Partie nie gesungen, weil er davon überzeugt war, dass er damit seine Stimme gefährden würde. Er wusste klug mit seinem kleinen, feinen Material hauszuhalten. Und wurde belohnt. 1995 im Alter von 76 Jahren sang er begleitet von meinem Bruder Andreas in der Wigmore Hall in London seine letzte Winterreise. Die seelenverwandte Musikalität der beiden machte diesen Auftritt für alle, die dabei waren, unvergesslich.

Wilhelm Furtwängler und Ferenc Friczay entdeckten ihn, Bruno Walter spielte mit ihm die legendäre Aufnahme des Lied von der Erde ein, eine lebenslange Freundschaft verband ihn mit Karl Richter. Mit den Jahren waren die beiden so aufeinander eingespielt, dass man in den Oratorien sehr genau hinhören musste, um zu merken, wann das Cembalo verklang und das Rezitativ meines Vaters einsetzte – es war ein Ton.

Im Jahr 2000 sang mein Vater auf Wunsch von András Schiff noch einmal den Evangelisten. Ein sehr alter Mann erzählte da beeindruckend die Passionsgeschichte, klug, wissend um jeden Ton und jedes Wort, mit einer manchmal schon brüchig gewordenen Stimme. Aber bei »alsbald krähete der Hahn« bäumte er sich fast auf und fand die Kraft für diese schreckliche Ausweglosigkeit wie eh und je.

In der Osterzeit höre ich jedes Jahr ein bisschen in die Matthäuspassion hinein und bei »alsbald krähete der Hahn« weine ich schon bitterlich, bevor Petrus sich an die Worte Jesu erinnert.

Leben ohne Rezept

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