Читать книгу Leben ohne Rezept - Heinz Marecek - Страница 11
Spina
ОглавлениеNicht nur mithilfe von Tapeten wurde die Flucht vor der Berliner Dunkelheit angetreten. 1959 haben meine Eltern auf der Spina bei Davos, wo mein Vater geboren und aufgewachsen ist, ein altes Bauernhaus gemietet, das mein Bruder bis heute weiterhin mietet und mit seiner jungen Frau hoffentlich noch lange belebt.
Mein Vater war zwar nicht hysterisch, er hatte nicht wie Fischer-Dieskau – oder FiDi, wie meine Mutter ihn respektlos getauft hat – eine zweite, getrennte Wohnung für die Kinder und ihre Bazillen, aber selbstverständlich lösten auch bei uns Erkältungen eine Alarmstufe aus. Deshalb nahmen meine Eltern uns meistens den ganzen Winter aus der Schule, der Haushalt wurde nach Davos verfrachtet, damit wir Kinder und vor allen Dingen mein Vater nicht dem massiven Ansturm der Schnupfenviren ausgesetzt waren.
1. August auf der Spina – unsere Cousinen sind zu Besuch: Madeleine, ich, Michael, Andreas und Annette
1959, Spina. Blödeln mit Papi »uf der Wies«
Keine Schulbehörde würde das heute durchgehen lassen. Wir waren von Anfang Februar bis nach Ostern jedes Jahr in diesem Schnee-Paradies. Natürlich wurde viel Ski gefahren und gerodelt, aber noch viel aufregender für uns Kinder waren all die Köstlichkeiten, die es damals im Gegensatz zu Berlin in der Schweiz gab. Wenn wir nach Ostern nach Berlin zurückgereist sind, war ein Koffer reserviert für die Schokolade-Osterhasen, weil wir wussten, dass wir zurück in die kulinarische Wüste fuhren.
Auch einen großen Teil des Sommers verbrachten wir in Davos. Wir Kinder durften den Bauern beim Heuen helfen und, was noch viel wichtiger war, auch beim Z’nüni (der Jause) dabei sein: selbst geräucherter Speck, Brot und Most. Abends wurde dann bis zur Dunkelheit mit den Kindern der Bauern in den Heuschobern und Ställen Verstecken gespielt. Danach waren wir so müde, dass wir es nicht einmal bis in die Badewanne geschafft haben, obwohl wir voll Heu waren und eindeutig nach Stall rochen.
Rezepte, die aus der Schweiz nach Berlin exportiert wurden
Gerstensuppe
Zutaten
4 l Wasser (zum Aufsetzen)
120 g Gerste
1 besteckte Zwiebel mit Lorbeerblatt und Nelken (zum Mitkochen)
1–2 Rüben
Je 1 Stück Lauch und Sellerie
Eventuell Kalbsknochen oder -fuß
1 Beinwurst
1 Stück (circa 300 g) Speck mit Schwarte
Salz, Muskat (zum Würzen)
2–4 EL Rahm (zum Verfeinern)
Zubereitung
Wasser mit Zutaten aufkochen, Gerste trocken einrühren, Kochzeit 1,5 bis 2 Stunden, je nach Größe der Gerste.
Beim Anrichten Knochen und Gemüse herausnehmen, Gemüse würfelig klein schneiden und zur Suppe geben. Suppe würzen und mit Rahm verfeinern. Heiß anrichten!
Brätkügeli
Zutaten
4–6 Tassen Weißwein
1 besteckte Zwiebel mit Nelken
1 ungekochte Kalbsbratwurst (pro Person)
2 EL Butter
2 EL Mehl
Zubereitung
Wein mit Zwiebel aufkochen, aus Bratwurst Kügeli in kochenden Wein auspressen, Kügeli ziehen lassen, dann herausheben und warmhalten.
Sauce: 2 EL Butter schmelzen, 2 EL Mehl dazugeben, durch Rühren verbinden, mit Weißwein zur Sauce ablöschen, mit einem Schneebesen gut verrühren. Kügeli dazugeben und mit feinem Kartoffelpüree anrichten (für Kinder »Seeli« bauen!)
Chräpfli
Zutaten
1 Tante Fanny Mürbteig à 2 Platten
300 g Rindfleisch, faschiert, oder besser Suppenfleisch
1 Tasse Rosinen, gewaschen
1 Spritzer Essig, Salz, viel schwarzer Pfeffer, 2 TL Zucker (zum Würzen)
2 Eigelb (zum Bestreichen)
Etwas Öl und Mehl
Zubereitung
Teigplatten auf Backpapier auslegen, in 3 mal 5 gleichmäßige Quadrate aufteilen, je 2 Seiten der Quadrate mit wenig Wasser bestreichen.
Für die Füllung: Fleisch in etwas Öl anbraten, mit wenig Mehl bestäuben, würzen, etwas Bouillon zugeben (möglichst vom Suppenfleisch), Rosinen zugeben, je 1 TL Füllung auf die Teigquadrate geben, Quadrate über Eck verschließen und mit Gabelrücken andrücken, Dreiecke mit Eigelb bestreichen und circa 20 Minuten bei 200 Grad backen. Auskühlen lassen und mit Apfelmus servieren.
Mit Apfelmus meine Lieblingsspeise. Traditionell immer aus den Resten von Suppenfleisch am Vortag gemacht
Bündner Nusstorte
Zutaten für den Teig
300 g Mehl
150 g Butter
1 Ei
1 Prise Salz
100 g Zucker
2 EL kaltes Wasser
Zutaten für die Füllung
250 g Walnüsse
150 g Zucker
1 EL Honig
1 Becher Obers
Zubereitung
Mehl auf ein Brett sieben, eine Vertiefung hineindrücken und das Ei hineingeben. Butter in Flöckchen darunterarbeiten. Zucker, Salz und Wasser dazugeben und zu einem Teig kneten. Den Teig eine halbe Stunde im Kühlschrank ruhen lassen.
Die Walnüsse grob hacken. Den Zucker in einer flachen Edelstahlpfanne bei mittlerer Hitze schmelzen, die Walnüsse und den Honig dazugeben und alles gut vermischen. Die Pfanne vom Feuer nehmen und das Obers vorsichtig unterrühren.
Den Teig nochmals durchkneten, in eine Springform geben und den Rand hochziehen. Die abgekühlte Nussfüllung hineingeben. Den restlichen Teig ausrollen und die Füllung damit abdecken. Den Deckel mehrmals mit einer Gabel einstechen. Bei 175 Grad circa 60 Minuten backen.
Die Spina war auch Versammlungsplatz für die zum Teil in aller Welt verstreuten Teile der Familie meiner Mutter und meines Vaters. Dort besuchte uns die Schwester meines Vaters, die den amerikanischen Soldaten Bob geheiratet hatte und zunächst in Indien, später dann in Alabama lebte. Sie brachte nicht nur ihre fünf Töchter, meine Cousinen, mit, sondern auch einen amerikanischen Grill – ein schwarzes Monstrum aus Gusseisen, das heute noch in Funktion ist und auf dem Bob meine ersten Hamburger zubereitete.
Diese fünf Cousinen haben sich ebenso fleißig fortgepflanzt wie ihre Eltern: wenn mein Bruder Andreas, der Pianist, heute irgendwo in Amerika ein Konzert gibt, kann er sicher sein, dass ein Nachfahre dieses Familienzweigs am Ende des Abends auf ihn wartet.
Und immer bei uns auf der Spina war natürlich die Mutter meiner Mutter, meine Dorli. Sie nahm mich auf ihre Wanderungen mit, die nicht nur mit einem Picknick belohnt wurden, sondern es wurde auch immer in einem kleinen Kocher Tee zubereitet. Sobald ein Bach zu hören war, wusste ich, es kann nicht mehr lange bis zur ersehnten Rast dauern.
So ist es meinen Eltern dank ihrer Gastfreundschaft gelungen, dass wir trotz der großen räumlichen Distanz einen Bezug zu unserer eigentlichen Heimat und Familie behielten.
Mein erstes Kochbuch – handgeschrieben von meiner Mutter