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Ein Beschwerdebrief an die Regierung

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Der nächste Sonntag kam. Alle vier Jungen hatten sich zum Bolzen (Fußballspielen) verabredet. Es war schon seit Jahren so, dass die Jungen aus der Siedlung am Sonntag gegen die aus der „Kantine“ und den „weißen Häusern“ Fußball spielten. Die „Kantine“ war ein langgestreckter Barackenbau, aus Stein gemauert, aber mit einem geteerten Pappdach. Es gab zehn Eingänge, rechts und links im Eingang wohnte später je eine Familie mit mehreren Kindern.

Die Kantine war ursprünglich die erste Unterkunft für ankommende Arbeiter, die in den Betrieben der Braunkohle Arbeit gefunden hatten. Ähnlich wie der Wandelhof in Schwarzheide. Die Arbeiter wurden hier auch mit Essen versorgt, weiter es gab einen Laden mit Gebrauchsgütern, die diese Arbeiter brauchten.

Daher stammte der Name Kantine.

Nach und nach kamen die Ehefrauen mit den Kindern und richteten in den Baracken Wohnungen mit mehreren Zimmern ein. Die Versorgung wurde nun von den Ehefrauen übernommen, um Geld zu sparen. Die betriebliche Versorgung war nicht mehr nötig und auch der Gebrauchtwarenladen wurde aufgelöst. Der Name „Kantine“ blieb aber bis zur jüngsten Zeit erhalten.

Ähnlich war es mit den „Weißen Häusern“. Hier handelte es sich aber nicht um ein Barackengebäude, sondern um große Betonklötze in denen jeweils in drei Etagen sechs Familien wohnten. Im Unterschied zur Kantine bekam hier sofort die ganze Familie eine Wohnung.

Die Bergbaudirektion war bemüht, qualifizierte Arbeiter im Betrieb zu halten, ihre Familien nachkommen zu lassen, um ihre Arbeiter so bodenständig und sesshaft zu machen. Aus diesem Grunde gehörten auch zu jeder Wohnung ein kleiner Garten und ein Stallgebäude, in denen Schweine, Ziegen, Kaninchen und auch Hühner gehalten werden konnten.

Arbeit suchende Männer kamen aus aller Herren Länder in das Braunkohlegebiet. Nicht nur an der Sprache, auch an den Namen konnte das festgestellt werden.

Da wohnten neben Müllers, Lisiekis, neben Mütze Kowalschik und Katschmarek, Sklorz und Huworeck vervollständigten das Völkergemisch in enger Nachbarschaft mit Weber, Hartmann oder Sander. Die Männer arbeiteten zusammen in der Grube, in der Brikettfabrik oder in der Werkstatt und die Frauen lernten sich während der Gartenarbeit, beim Einkaufen im Ort oder bei der Betreuung der Kinder kennen. Eine gute Nachbarschaft mit gegenseitiger Hilfe und Unterstützung entwickelte sich und über die Kinder wuchsen sogar Freundschaften.

Die Mutter von Hans rief ihn ins Haus. Kartoffeln mussten aus dem Keller geholt werden. Das war gar nicht so einfach, denn der Keller stand unter Wasser. Schon Wochen vorher war Grundwasser in den Keller eingedrungen und hatte alles unter Wasser gesetzt. Der Vater hatte ein Gestell für 60 Zentner Kartoffeln bauen müssen. Auch Einweckgläser mit Obst aus dem Garten und mit Wurst und Fleisch vom letzten Schlachtfest mussten gerettet und höher gestellt werden. Einige Gläser standen schon unter Wasser, hoffentlich blieben sie zu, war eine Sorge der Mutter. Das Wasser war zwischenzeitlich so hoch gestiegen, das es in die Gummistiefel schwappte. Also wurde aus alten Eisenbahnschwellen, die eigentlich als Feuerholz gedacht waren, ein Floß gebaut, um damit die benötigten Lebensmittel ans Tageslicht zu bringen. Hans schwang sich also – der Not gehorchend und nicht dem eigenen Triebe – auf das Floß, um die Kartoffeln heran zu schaffen.

Seine Freunde murrten. Eigentlich waren sie ja zum Fußball spielen gekommen und wie schon die Sonntage vorher musste Hans noch Dinge für den Haushalt erledigen.

Das mit dem Wasser in den Kellern der Siedlung war eine Schweinerei, stellten die Freunde fest. Nicht nur, das Hans zusätzlich Aufgaben in der Familie übernehmen musste und darum immer weniger Zeit zum Spielen blieb und Lebensmittel umkamen, litten auch die erst kürzlich fertig gestellten Häuser in der Bausubstanz. Die Nässe zog an den Wänden hoch, Putz und Farbe begannen abzubröckeln.

Das Grundwasser musste abgesenkt werden, aber wie? Ohne Hilfe schafften das die Siedler nicht mehr.

Fritz schlug vor, als Hans seine Kartoffeln abgeliefert hatte, einen Brief an die Regierung zu schreiben mit der Bitte um Hilfe.

Aber vorher wollten sie auf dem Hof der Kantine bolzen gehen, denn der Rest der Mannschaft war schon vor Minuten mit Gejohle in Richtung Kantine an ihnen vorbei gezogen.

An der Kantine angekommen war alles still, kein Fußballspieler war zu sehen. Dafür flatterte Wäsche an im Hof aufgespannten Leinen lustig im Wind. Ein kleines Mädchen klärte sie auf, die Wäschefrauen hätten die Jungs vom Hof gejagt und die wollten zur Kullerwiese gehen, um dort zu spielen.

An der Kullerwiese angekommen, waren nur zwei Jungen dabei, Heuschrecken als Hühnerfutter zu fangen. Kein Fußballspieler war zu sehen. Ein richtig verkorkster Sonntag und alles wegen der Kahnfahrt im Keller von Hans.

Sie setzten sich in den Schatten der Bäume an der Kullerwiese, die vor Jahren eine Sandgrube mit abgeschrägten Rändern war, um zu überlegen, wie der heutige Tag weiter gehen könne. Sie beschlossen, als Freunde Hans zu helfen und gemeinsam den Brief an die Regierung zu schreiben.

Ein paar herausgerissene Seiten aus einem Schulheft und auch Bleistifte fanden sich schnell in den Hosentaschen und dann sollte es losgehen. Aber das Dilemma begann schon bei der Adresse.

Was hatte die Regierung für eine Adresse, wo war ihr Sitz? Alois fand den Ausweg, wir schreiben einfach an die Regierung von Deutschland in Berlin. Das kommt auf jeden Fall an, war er überzeugt, denn es gibt ja nur eine Regierung und die Post in Berlin wird auch wissen wo die zu finden ist.

Das wurde akzeptiert, aber wie reden wir die Leute dort an. Wenn wir einen Brief aus den Ferien nach Hause schrieben, hieß es einfach „liebe Mama und Papa“ , aber so konnte doch die Regierung nicht angesprochen werden.

Hans wollte schon aufgeben, was soll denn dabei herauskommen? Also, so einfach, wie wir uns das vorgestellt hatten, einen Brief an die Regierung zu schreiben, war es gar nicht. Die lachen sich höchstens über die Dämlacks in der Niederlausitz tot.

„Nein, nein“, protestierten Fritz, Alois und Paul. „Gemeinsam werden wir es doch schaffen, die Regierung auf Missstände aufmerksam zu machen. Und was viel wichtiger ist, um Abhilfe zu bitten. Unsere Eltern schaffen das allein nicht mehr.“

„Wer schreibt denn den Brief?“, wagte Hans noch zögerlich einen Einwand.

„Natürlich du“, antworteten sofort alle drei Freunde wie im Chor. „Du bist der Leidtragende. Wir helfen dir, weil wir nicht mit ansehen können, wie ihr euch geschunden habt und nun alles kaputtgeht.“

„Na gut, ich schreibe“, versprach Hans, „aber wie fangen wir an?“

Alois wusste Rat, er hatte zu Hause Geschäftsbriefe von seinen Eltern gesehen. Wir oder du schreiben einfach:

Werte Herren der Regierung!

Das wurde für gut befunden und flott diktierte Alois weiter.

„In großer Sorge wende ich mich an Sie, um die Häuser unserer Siedlung in Lauchhammer Richthofenstrasse zu retten. Seit zwei Jahren stehen hier die Keller voll Wasser, auch wenn es nicht geregnet hat. An den Wänden kriecht die Nässe hoch, so dass der Putz schon abfällt und die Wände brüchig werden, obwohl die Häuser der Siedlung erst vor drei Jahren gebaut wurden. Es ist das Grundwasser, das nun schon die ganze Zeit steigt und steigt. Gummistiefel reichen schon nicht mehr aus, weil das Wasser zu hoch ist. Die geernteten Kartoffeln und das Gemüse schwimmen im Wasser, wenn sie nicht höher gelagert werden und auch die Einweckgläser vom Schlachten mussten in Sicherheit gebracht werden, damit sie nicht verderben.

Um das Land zu entwässern reicht die Kraft der Siedler aber nicht aus. Ich bitte Sie, helfen sie uns, denn was wir nicht können das kann doch die Regierung machen oder wenigstens veranlassen.

Mit herzlichen Grüßen“

Hans

Nach vielem Hin und Her wurde der Text von allen vier Jungs gebilligt. Jeder hatte mit überlegt, gestritten und formuliert.

Den letzten Satz von Fritz vorgeschlagen fanden alle besonders gut. Da haben wir denen aber Honig ums Maul geschmiert, die müssten sich doch jetzt auf die Brust schlagen und sagen: „Na, da wollen wir mal helfen.“

Hans war nicht ganz so optimistisch, aber als Paul vorschlug, eine Briefmarke zu besorgen und Alois einen Briefumschlag am Mittwoch vorbeibringen wollte, erklärte er sich bereit, bis Mittwoch diesen Text säuberlich auf ordentliches Papier zu bringen.

Es war Abend geworden, der Sonntag war ohne Fußballspiel vorbei. Alle waren aber doch befriedigt. Sie hatten etwas Gutes ganz spontan geschaffen, um einem Freund in dessen Not zu helfen. Irgendwie waren sie stolz auf sich, auf ihr vierblättriges Kleeblatt.

Der Mittwoch kam und wie versprochen trudelten gegen Abend Paul mit der Briefmarke und Alois mit dem Briefumschlag ein. Die Adresse und der Absender von Hans waren schnell auf das Briefkuvert geschrieben. Nun zog Paul die Briefmarke aus seiner Geldbörse, um sie seinerseits auf den Umschlag zu kleben.

Alois sah das, streckte ruckartig beide Hände in Abwehrhaltung aus und schrie Paul an: „Bist du verrückt? Doch nicht diese Marke! Sie ist eine Sondermarke, die ich schon lange für meine Sammlung suche. Wo hast du die überhaupt her?“



Paul war erschrocken über diese Reaktion von Alois. Dass er Briefmarkensammler war, das wussten die Freunde schon, dass er aber beim Anblick einer alten, schäbigen Briefmarke so reagierte und fast in Ohnmacht fiel, kannten sie bis dahin noch nicht.

„Die Briefmarke lag im obersten Fach unseres Küchenschrankes, von keinem beachtet oder gebraucht. Die wird keiner vermissen, dachte ich mir und hab sie halt deswegen hergebracht.“

Alois bat darum, ihm die Marke zu geben, er wollte zu Hause eine Sechser mit Hindenburg draufkleben und dann den Brief auch in den Postkasten werfen. Alle waren damit zufrieden, die Hauptsache war doch, dass der Brief in den Kasten kam und nach Berlin auf die Reise geschickt wurde. Nun schlug das Herz von Hans doch etwas schneller, denn er war gespannt, wie sich die Sache weiterentwickeln würde und was aus diesem Brief an die Regierung noch alles werden könnte. Es war ihm auch recht, dass Alois den Brief in den Kasten stecken wollte, so konnte er sich einen Weg ersparen.

***

Es vergingen drei Wochen als es an der Haustür klingelte. Die Mutter öffnete die Tür. Zwei gut angezogene Herren verlangten, Hans zu sprechen.

Die Mutter bekam einen Schreck. „Hat er was ausgefressen?“, war ihre erste Reaktion.

„Wieso ausgefressen?“, wurde geantwortet. „Können wir uns mit ihm unterhalten?“

„Natürlich“, beeilte sich die Mutter zu sagen, „ich hole ihn gleich her.“

Die Herren wunderten sich, dass kurz darauf ein Knabe vor ihnen stand.

„Du hast also einen Brief an die Regierung des großdeutschen Reiches geschrieben?“

Die Mutter, die das hörte, schlug die Hände über den Kopf zusammen. „Um Himmels Willen, was hast du da schon wieder ausgefressen?“, schluchzte sie.

„Beruhigen sie sich! Und du zeige uns doch mal euren Keller.“

Die Mutter verstand nun gar nichts mehr. Hans führte die Herren in den Keller, der wie immer unter Wasser stand und am Treppenabgang das am Geländer angebundene Floß.

„Ist das bei den Nachbarn auch so?“, wurde er gefragt.

„Natürlich“, antwortete Hans, „und nicht nur bei den Nachbarn. In allen Häusern auf der linken Straßenseite stehen die Keller im Wasser.“

„Na, da wollen wir uns das doch auch mal ansehen.“

Mit diesen Worten verabschiedeten sich die Herren, um die Nachbarhäuser aufzusuchen.

Nach 14 Tagen rückten Bagger an, um hinter den Gärten der Grundstücke einen tiefen Graben zu ziehen, in dem sich sofort Wasser sammelte. Damit wurden endlich die Keller wieder wasserfrei. Die Menschen wunderten sich, dass hier ohne viel Aufhebens Abhilfe geschaffen worden war.

Jahrgang 1928 - Erinnerungen

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