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6 MONTAG, 5. MAI

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Kajsa legte den Telefonhörer so behutsam auf, als sei er aus zerbrechlichem Glas, und ließ sich wieder in die Kissen sinken. Mit geschlossenen Augen und pochenden Schläfen versuchte sie ein wenig nachzudenken. Das war nicht ganz einfach, denn ihr machte eine akute Erkältung zu schaffen. Dennoch begriff sie nach und nach, wovon ihr Gespräch gehandelt hatte, und konnte unmöglich noch länger im Bett liegen bleiben. Sie warf die Decke zur Seite und machte ein paar wacklige Schritte.

Zuerst musste sie den Kopfschmerz loswerden, danach würde sie weitersehen. Sie stakste in die Küche und spülte ein paar Tabletten hinunter. Dann stellte sie sich ans Fenster, hielt ihre heiße Stirn gegen die kühle Scheibe und schaute auf den asphaltierten, feucht glänzenden Hof.

Der Himmel lastete nicht mehr so drohend über der Stadt. Nachdem es tagelang wie aus Eimern geschüttet hatte, waren die Regenwolken weitergezogen. Anstelle des monotonen Prasselns war eine wohltuende Stille getreten.

Ihr starrer Blick fiel zufällig auf ein paar kleine Kinder, die mit beiden Füßen gleichzeitig in die Pfützen sprangen. Doch in Gedanken befand sie sich mindestens dreißig Kilometer entfernt, und was sie vor ihrem geistigen Auge sah, war ein viereckiger, sonnenbeschienener Hof mit abgewetztem Kopfsteinpflaster, zwischen dessen Steinen Moos und junges, helles Gras wuchsen. Der Hof war von alten, niedrigen, einst rostroten Wirtschaftsgebäuden umgeben, die im Lauf der Jahre einen hellroten, seidigen Glanz angenommen hatten. Nirgends fanden sich gerade Linien oder rechte Winkel, alles war ein wenig schief und zusammengesunken. Türen und Fenster wirkten verschoben, als hätten die Gebäude mit der Zeit eine bequeme und entspannte Stellung angenommen. Um die kleinen Sprossenfenster herum wuchsen blauer Rittersporn, rosa Pfingstrosen und weiße Margeriten. An der Wand des Wohnhauses, die nach Süden zeigte, standen eine Holzbank sowie ein Gartentisch. Nur das träge Summen von Hummeln und Bienen war zu hören. Die Haustür zum Wohnhaus stand offen und ermöglichte einen Blick in das warme Dunkel – man konnte gelbliches Kiefernparkett erahnen, farbige Wände, ein Büfett, eine alte Brauttruhe . . .

Unter einem breiten Torbogen auf der gegenüberliegenden Seite des Hofplatzes ging das Kopfsteinpflaster in eine grasbewachsene, von robusten Ahornbäumen gesäumte Einfahrt über, die von tiefen Reifenspuren gezeichnet war. Hinter dem Torbogen lag eine fruchtbare, grüne Welt, und in weiter Entfernung sah sie den blauen Himmel über dem Wald . . .

Es war nur eine Vision, die Illustration einer Hoffnung, die sie nie aufgegeben hatte. Das Konzentrat ihrer Vorstellungen von einem sinnvollen Leben. Unrealistisch – vielleicht. Durch äußere Veränderungen löste man keine Probleme. Doch sie hatte diese diffuse Sehnsucht so lange genährt, und jetzt bot sich vielleicht eine Gelegenheit, sie zu verwirklichen. Allerdings wusste sie, dass noch mächtige Hindernisse aus dem Weg geräumt werden mussten.

Eben noch hatte sie verschnupft im Bett gelegen und keine großen Hoffnungen mehr in das Leben gesetzt. Da sie von Natur aus ehrgeizig war, hatte sie bereits bei den ersten Anzeichen einer herannahenden Erkältung verschiedene Ratgeber von der Arbeit mit nach Hause genommen. Daher stapelten sich auf ihrem Nachttisch Bücher wie: Nett sein reicht nicht, Die Wut der Frauen, Das Exfrau-Syndrom oder Finde deine innere Ruhe. Doch schon die Inhaltsverzeichnisse hatten ihr sämtliche Kraft geraubt, sodass sie allenfalls in der Lage war, die Botschaften ihrer Lifestyle-Zeitschriften zur Kenntnis zu nehmen. Die meiste Zeit döste sie vor sich hin, um hin und wieder mit dröhnendem Kopfschmerz aufzuwachen und daran erinnert zu werden, dass ihr Leben in Trümmern lag. Sie schwankte zwischen gerechtem Zorn und unbarmherziger Selbstbefragung; beides endete in einer Flut von Tränen.

Zwei Tage stand sie auf diese Weise durch. Dann hatte das Telefon geklingelt.

Jetzt ging sie ins Schlafzimmer zurück und begann die Vorwahl von Malmö zu wählen. Doch sie überlegte es sich anders und legte auf. Es war keine gute Idee, Olle jetzt anzurufen. Er würde ja doch nur abwiegeln. Zuerst musste sie ihre Argumentation vervollkommnen. Vielleicht den Rat eines guten Freundes einholen. Sie schwankte zwischen zwei Personen. Katharina würde ihr zweifellos all die Aufmerksamkeit und Unterstützung widmen, die sie brauchte, aber sie war bei der Arbeit und sollte nicht gestört werden. Auch Petrus war bei der Arbeit, doch ihn durfte sie stören. Darum war er in diesem Moment der Geeignetere.

Er war sofort am Apparat und die Fürsorglichkeit selbst, sobald er ihre belegte Stimme hörte. Fragte, wie es ihr gehe. Ob er etwas für sie tun könne. Kajsa beschönigte die Wirklichkeit: Es ginge ihr bereits viel besser, und sie sei schon wieder auf den Beinen. Ob er sehr viel zu tun hätte? Sie brauche seinen Rat in einer gewissen Angelegenheit. Ob er auch wirklich Zeit hätte? Die Frage sei nun wirklich überflüssig, meinte er. Habe er nicht stets Zeit für sie gehabt? Und da sie mit keiner anderen Antwort gerechnet hatte, kam sie sofort zur Sache.

»Ich habe heute ein merkwürdiges Angebot bekommen«, begann sie. »Leif Rösling hat mich vorhin angerufen und gefragt, ob Olle und ich Interesse hätten, den alten Hof auf Röshult zu kaufen. Die Kate soll mit dazugehören.«

Für ein paar Sekunden blieb es stumm in der Leitung, dann kam die überraschende Entgegnung: »Ich hoffe, ihr nehmt das Angebot nicht an.«

»Warum?«

»Das kann doch kein gutes Geschäft sein!« Er klang erregt, was sie verwunderte.

»Warum nicht?«, wiederholte sie.

»Weil das eine alte Bruchbude ist. Soviel ich weiß, ist für den Erhalt des Hofs seit vierzig Jahren kein Finger krumm gemacht worden. Wie viel wollte er denn haben?«

»Es gehören doch einige Felder dazu, und die Kate haben sie uns, wie gesagt, gleich mit angeboten. Er wollte dreihundertfünfzigtausend.«

»Ich kann euch nur abraten. Die wollen euch übers Ohr hauen.«

»Jetzt übertreibst du aber.« Es fiel ihr schwer, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Wie kannst du behaupten, dass der Preis viel zu hoch ist, wenn allein die Felder . . .«

»Ich rate ab!« Seine Stimme klang mit einem Mal so brüsk, als sei er persönlich angegriffen worden.

Sie war irritiert. »Es geht doch nicht allein um den objektiven Wert, Petrus. Ich liebe diesen alten Hof. Du weißt, dass ich schon so oft dort war und ihn mir angesehen habe. Natürlich sind die Gebäude etwas heruntergekommen, wie sollte es anders sein. Doch für ihr Alter sind sie noch erstaunlich gut in Schuss.«

»Warum will er plötzlich verkaufen?«

»Keine Ahnung. Letzten Sommer habe ich ihn aus Spaß mal darauf angesprochen, um zu sehen, wie er reagiert. Aber da wollte er nichts davon wissen. Ich weiß nicht, warum er seine Meinung geändert hat, aber die Versuchung ist schon sehr groß – ach was, ich bin Feuer und Flamme, also versuch ja nicht, mich zurück auf den Boden der Tatsachen zu holen.«

»Als dein Freund muss ich dich warnen.«

Sie biss sich auf die Lippe. Was für ein Ton! Der war ja noch schlimmer als der von Olle. »Wovor?«, fragte sie.

»Vor einem miserablen Geschäft.«

»Ist ja gut, ich habe deine Meinung gehört.«

»Die wolltest du doch schließlich haben.«

»Ich hatte vielleicht gehofft, dass sie etwas differenzierter ausfällt.«

»Was sagt Olle dazu?«

»Der weiß noch nichts davon. Wir haben nicht miteinander gesprochen, seit . . . du und ich . . . Er glaubt immer noch, dass ich die Scheidung will.«

»Und das willst du nicht?«

»Nein, das habe ich doch gesagt.«

»Ich verstehe.«

Das Zittern in seiner Stimme zeugte von schmerzhaft begrabenen Hoffnungen. Sie stieß einen unterdrückten Seufzer aus. Sie bereute, dass sie überhaupt angerufen hatte. Doch am besten, sie brachte es jetzt sofort hinter sich.

»Wir haben doch ausführlich über all diese Dinge geredet. Ich dachte, du hättest das verstanden. Ich liebe diesen Kerl einfach.«

Petrus schwieg.

»Das mag sich für dich albern anhören, aber ich betrachte dieses Angebot als Wink des Schicksals – als Möglichkeit für Olle und mich, noch mal von vorn anzufangen. Und wenn er mich wirklich haben will, dann wird er den Wink verstehen. Wenn nicht, dann kann er zur Hölle fahren.«

Die Stille in der Leitung war bedrückend.

»Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, einfach wieder gute Freunde zu sein, so wie früher«, sagte sie flehentlich. »Du bist doch mein bester Freund.«

»Habe ich eine Wahl, wenn ich den Kontakt zu dir halten will?«

Nein, das hast du nicht, dachte sie, sagte jedoch: »Wenn wir davon absehen, dass es dir am liebsten wäre, ich würde Olle aufgeben, wozu ich absolut nicht bereit bin, dann wäre ich für dein unvoreingenommenes Urteil als Geschäftsmann sehr dankbar. Könntest du mich nicht irgendwann nach Röshult begleiten? Ich würde gern wissen, wie du den Wert des Hofes beurteilst und inwiefern man ihn wieder auf Vordermann bringen könnte, ohne dass es ein Vermögen kostet. Ich weiß, dass er nicht so verfallen ist, wie du glaubst.«

»Du weiß gar nicht, um was du mich da bittest«, sagte er.

»Schon möglich, aber du könntest doch einfach mit Ja oder Nein antworten.«

»Dass ich dir von dem Kauf abrate, hat nicht nur mit meiner Eifersucht zu tun.«

»Nicht?«

»Ich habe ein ungutes Gefühl, was diesen Hof angeht. Außerdem würde ich meinem ärgsten Feind davon abraten, mit Leif Rösling Geschäfte zu machen.«

Ihr Zorn wuchs. »Was soll das heißen, ungutes Gefühl? Willst du mir etwa Angst machen? Ich hasse solche vagen Andeutungen.«

»Entschuldige, wenn ich mich ungeschickt ausgedrückt habe. Ich traue diesem Kerl einfach nicht über den Weg, was mit Dingen zu tun, die schon weit zurückliegen. Das ist alles.«

»Ich wusste gar nicht, dass ihr euch näher kennt. Willst du mir davon erzählen?«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen, und so gut kennen wir uns nun auch wieder nicht. Er hat mich bestimmt längst vergessen.«

»Was hat er denn getan?«

»Nichts Bestimmtes. Mit gewissen Menschen kann man eben nichts anfangen. Vergiss das Ganze. Und ich schau mir gern mit dir zusammen den Hof an. Hast du schon einen Termin im Kopf?«

»Ich dachte, irgendwann in den nächsten Tagen, aber zuerst muss ich mit Olle reden. Vielleicht könnten wir ja zu dritt dorthin fahren.«

»Zu dritt?« Er klang schockiert.

»Bleib ganz ruhig«, sagte sie. »Er wird das sicher verstehen – unter den gegebenen Umständen ist die Sache doch verzeihlich, oder?«

»Ja, vielleicht«, sagte er ohne Überzeugung.

Sie beendeten ihr Gespräch, und ohne groß nachzudenken, wählte sie rasch die Nummer von Olles Büro. Während sie darauf wartete, dass die Verbindung zustande kam, biss sie an ihren Nägeln. Seiner Stimme nach zu urteilen, schien er glänzender Laune zu sein. Erst als er begriff, wer am anderen Ende der Leitung war, verlor sie ihren optimistischen Klang. Mit bangem Herzen spürte sie, wie er sich hinter seinem üblichen Verteidigungswall verschanzte.

»Hast du heute Abend schon was vor?«, fragte sie.

»Nein, warum?«

»Ich dachte, ich komm einfach bei dir vorbei.«

»Heute Abend?« Sein erschrockener Tonfall war nicht gerade schmeichelhaft.

»Es gibt ein paar Dinge, über die ich mit dir reden möchte.«

»Haben wir nicht schon genug diskutiert?«

»Ach, diskutieren will ich gar nicht«, sagte sie. »Es geht um ganz andere Dinge. Kann ich dich um fünf von der Arbeit abholen?«

»Joakim hat gesagt, du wärst erkältet. Geht’s dir besser?«

»Viel besser.«

»Ach . . . kommt Joakim auch mit?«

An Joakim hatte sie in der Eile gar nicht gedacht. »Nein . . . äh . . . ich glaube nicht. Er hat bei Fredrik übernachtet, weil ich krank war. Das will er nächste Nacht bestimmt auch noch.«

»Worum geht’s denn eigentlich?«

»Darüber will ich nicht am Telefon sprechen.«

»Vielleicht gibst du mir einen kleinen Wink?«

»Nein, du musst dich schon gedulden«, sagte sie. »Wir sehen uns in ein paar Stunden.«

Sie ging ins Badezimmer und ließ sich ein heißes Bad ein. Ein Blick in den Spiegel verriet, dass ihre Augen unschön geschwollen waren. Ihre Nase war wund und das Haar völlig zerzaust. Dennoch gestattete sie sich ein optimistisches Lächeln. Vielleicht war sie im Moment nicht ganz auf der Höhe, doch in ihre Augen war Leben zurückgekehrt, und angesichts der Tatsache, dass sie noch vor einer Stunde wie ein nasser Sack im Bett gelegen hatte, stand es gar nicht so schlecht um sie.

Als sie wenige Stunden später in ihrem alten Volvo Amazon auf der E 22 in Richtung Malmö unterwegs war, hatten ihre Bedenken wieder die Oberhand gewonnen.

So sauste sie also mit mulmigem Gefühl ihrem gekränkten Ehemann entgegen, um im Handumdrehen alles ins Reine zu bringen und schon mit dem nächsten Atemzug die revolutionären Pläne für ihr gemeinsames Leben vor ihm auszubreiten. Dass sie ihr Mahl mit einem peinlichen Geständnis würzen musste, machte die Sache weiß Gott nicht einfacher. Die Hindernisse schienen ihr plötzlich unüberwindlich. Sie war ihm zweifellos einige Erklärungen schuldig. Doch manches ließ sich nicht so einfach erklären. Als hätten sie nicht schon genug Probleme gehabt, hatte sie ihrer Beziehung ein weiteres namens Petrus hinzugefügt, der sich in Windeseile von einem Freund der Familie zu . . . ja, eben zu einem echten Problem entwickelt hatte.

Wenn er keine Vernunft annahm, musste sie entsprechende Konsequenzen ziehen, und das wollte sie nicht. Sie wollte den alten Petrus zurückhaben. Ihren Vertrauten, dem sie alles sagen konnte, zumindest fast alles. Der ihr stets seine ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt hatte und mit klugen Einsichten zu ihrem komplizierten Leben zur Stelle war. Aber so ging es eben, wenn man seinen spontanen Impulsen nachgab. Sie hätte das wissen müssen, da sie in dieser Hinsicht über bittere Erfahrungen verfügte. Ihr Fehler war, dass sie sich so leicht von der Stimmung des Augenblicks hinreißen ließ und sich auch in den schwierigsten Situationen immer noch einbildete, alles unter Kontrolle zu haben.

Jener Abend vor zwei Wochen war für solch einen Irrtum wie geschaffen gewesen. Olle und sie hatten gerade ihre große Abrechnung gehabt und sich gezielt Wahrheiten an den Kopf geworfen, ehe er nach Malmö verschwunden war, um seine Wunden zu lecken. Joakim war glücklicherweise bei seiner Großmutter gewesen, und so konnte sie sich ungehemmt ihrer abgrundtiefen Verzweiflung hingeben.

In diesen Situationen war Petrus eine unschätzbare Hilfe gewesen. Er brauchte nur ihre erregte Stimme am Telefon zu hören – schon ließ er alles stehen und liegen, um ihr seine Schulter und sein stets offenes Ohr anzubieten.

Um sie auf andere Gedanken zu bringen, hatten sie sich an jenem Tag einige viel diskutierte Kunstinstallationen unter freiem Himmel angesehen. Es war ihre Idee gewesen, doch sie war nicht unbedingt von Erfolg gekrönt. Bei schneidendem Wind waren sie zwischen den befremdlichen Objekten herumgelaufen, während sich Petrus tapfer ihre Klagen anhörte. Danach waren sie zurück in die Stadt gefahren und hatten ein neu eröffnetes griechisches Restaurant besucht, in dem er viele kluge Dinge gesagt, vor allem jedoch weiterhin zugehört hatte. Nach einem langen, windigen Spaziergang am Kanal entlang gingen sie zu ihm nach Hause, um sich mit einem Whisky zu stärken. Neues Material hatte sie zwar nicht mehr zu bieten, doch sein Verständnis, seine Sympathie und nicht zuletzt der Whisky hatten sie bis in die Seele hinein gewärmt.

Arglos bettete sie ihre verfrorenen Füße in seinen Schoß, nachdem er ihr ritterlich eine wärmende Massage angeboten hatte. Und in diesem Augenblick nahezu heimtückischer Klarsicht sah sie ein, dass ihre lange Freundschaft an einem entscheidenden Punkt angelangt war. Besser gesagt: Ein Kreis hatte sich geschlossen. Denn in grauer Vorzeit, lange bevor sie Olle kennen gelernt hatte, war sie heimlich vernarrt gewesen in diesen älteren Mann, der später ihr Freund wurde.

Vielleicht lag es an der Bach-Fuge, die aus den Lautsprechern seiner Stereoanlage drang, oder an den beruhigenden, warmen Händen, die so willig ihre Füße kneteten und bei ihr ein wohliges Gefühl der Entspannung auslösten, das sich auch auf andere Körperteile übertrug. Jedenfalls hatte sie alle Bedenken über Bord geworfen.

Wie abzusehen, ging die Fußmassage mehr und mehr in heißblütige, forschende und zunehmend forderndere Zärtlichkeiten über, die sie willig erwiderte. Und wie ebenfalls abzusehen war, hatten sie bald damit begonnen, sich gegenseitig die Kleider vom Leib zu reißen. Als sie wankend und keuchend vom unbequemen Sofa auf den weichen Flokati übersiedelten, war ihr zwar der Gedanke an die spätere Reue gekommen, aber es war ein kraftloser Gedanke gewesen – und danach hatte sie ganz einfach aufgehört zu denken.

Später hatte Petrus sie auf die Stirn geküsst und in ein Taxi gesetzt, doch zu diesem Zeitpunkt hatten sie sich, von kurzen Erfrischungspausen abgesehen, schon eine geraume Zeit auf seinem Teppich getummelt.

Sie konnte nun wirklich nicht behaupten, verführt worden zu sein. Blieb eher die Frage, ob sie nicht bereits beschlossen hatte, sich an ihn heranzumachen, während sie zwischen den schrecklichen Installationen herumgeirrt waren. Eigentlich hatte sie ihm keine Chance gelassen.

Am nächsten Morgen war sie mit einem fürchterlichen Kater aufgewacht – in jeder Hinsicht. Herrgott, was hatte sie nur getan? Wie hatte sie Olle nur betrügen können? War sie so tief gesunken? Und was würde sich Petrus nach den Ausschweifungen der vergangenen Nacht bloß einbilden?

Natürlich war sie immer noch wütend auf ihren abtrünnigen Ehemann. Außerdem war sie es, die die Scheidung verlangt hatte. Doch jetzt war sie zu weit gegangen. Der bloße Gedanke, dass sie etwas getan hatte, das ihre stürmische Ehe gefährden konnte, machte ihr Angst.

Von bösen Ahnungen erfüllt, rief sie Petrus an, um die Vorfälle der letzten Nacht bestätigt zu bekommen. Er klang furchtbar verliebt und schien drauf und dran zu sein, ihren baldigen Einzug in sein großes Haus zu planen. Da hatte sie den Kopf verloren und sich in ein Taxi geworfen, um ihn bei Tageslicht zur Räson zu bringen. Vielleicht war es hoffnungslos naiv zu glauben, die Ereignisse der Nacht ungeschehen machen zu können, indem man sie nüchtern analysierte. Und natürlich hatte sie die Kräfte unterschätzt, die sie in Bewegung gesetzt hatte. Ihr kläglicher Versuch, die Sache richtig zu stellen, hielt seiner neu entfachten Leidenschaft nicht stand. Kaum war sie zur Tür hereingekommen, als sie schon wieder auf dem Flokati lagen.

Die Erinnerung jagte ihr heiße Schauer durch den Körper und löste akute Schuldgefühle aus, wenn sie daran dachte, zu wem sie gerade unterwegs war.

Auch konnte sie nicht behaupten, über Petrus’ Gefühle im Unklaren gewesen zu sein. Seit Jahren war er heimlich in sie verliebt gewesen. Als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, hatte sie sich an seiner aussichtslosen Anbetung gewärmt. Und nun hatte sie aus bloßer Unachtsamkeit die Schleusen geöffnet und eine Leidenschaft entfesselt, die sie nicht zügeln konnte.

Jedenfalls hatte sie ihre Lehren aus dem zweiten Besuch gezogen und vermied eine weitere Wiederholung. Es half ihr, dass Joakim nach Hause gekommen war. Der Umgang mit Petrus beschränkte sich auf nächtliche Telefongespräche im Flüsterton, in denen sie versuchte, ihre Position durch vernünftiges Argumentieren zu verteidigen, wofür er nicht viel übrig hatte.

Olle glänzte durch Abwesenheit und weigerte sich hartnäckig, den ersten Schritt zur Versöhnung zu machen. Wenn er anrief, tat er es nur, um mit Joakim zu sprechen. Sie selbst war genauso starrköpfig, obwohl sie heimlich weinte vor Angst, ihn zu verlieren.

Doch dann hatte Leif Rösling angerufen und war ihr wie ein Sendbote des Schicksals erschienen. In ihrem tiefen Elend glaubte sie, den richtigen Weg zu erkennen. Einen vielversprechenden Weg zumindest, doch ob Olle diese Ansicht teilte, war äußerst zweifelhaft. Es würde ein hartes Stück Arbeit werden, ihn davon zu überzeugen, und sie war nicht gerade in Topform. Doch einen Versuch war es wert. Sie musste es probieren.

Mit aufkeimendem Optimismus setzte sie den eingeschlagenen Weg fort.

Die Ruhe vor dem Sturm - Schweden-Krimi

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