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10 DIENSTAG, 27. MAI

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Ein weißer Saab bahnte sich von Malmö aus seinen Weg durch zunehmend schmalere und leerere Landstraßen in Richtung Göinge. Gunnel saß am Steuer, Max neben ihr, und Birger döste auf dem Rücksitz. Es war halb zwei Uhr nachmittags und das Wetter strahlend. Sie waren auf dem Weg nach Röshult.

Es waren Max’ Ansprüche in der Erbfrage, die den Stein ins Rollen gebracht hatten. Alle betroffenen Parteien waren nun von Rechtsanwalt Rikard Magnusson zusammengerufen worden, der an Ort und Stelle die verwickelten Eigentumsverhältnisse klären sollte.

Birger, der gewisse Befürchtungen hegte, wohin sich die Sache entwickeln würde, hatte den Tag damit begonnen, vier Valiumtabletten aus der Handtasche seiner Frau zu stibitzen. Zwei hatte er zum Frühstück eingenommen, die anderen beiden wollte er bei ihrer Ankunft schlucken. Ein zäher Nebel hatte sich seines Gehirns bemächtigt. Die Lider wollten ihm zufallen, und er war nahe daran, ihrer Schwere nachzugeben.

Nachdem Max ausgiebig die Landschaft kommentiert und Gunnel zahlreiche Ratschläge erteilt hatte, was ihre Fahrweise betraf, drehte er sich nach hinten um und richtete seine Aufmerksamkeit auf Birger.

»Sag mal, schläfst du etwa?«

Birger verneinte.

»Dann rappel dich auf«, sagte Max aufmunternd. »Wir sind gleich da, und du weißt, worum es geht. Wir müssen zusammenhalten.«

Birger verzog das Gesicht zu einer folgsamen Grimasse. Es war stets am einfachsten, allem zuzustimmen, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen, die Aufmerksamkeit von sich selbst abzulenken, sich zurückzuhalten und gute Miene zu machen. Seine Überlebensmethode in allen Notlagen.

»Ja, klar«, sagte er.

»Verdammtes Glück, dass du so eine clevere Frau hast«, sagte Max.

Birger gab ihm Recht.

»Und mach dir keine Sorgen wegen Gertrud. Um die kümmere ich mich schon.«

Eine erwartungsvolle Schadenfreude mischte sich in die bösen Ahnungen. Es würde interessant werden zu beobachten, wie Max sich um Gertrud kümmern würde.

Als sie sich der Abzweigung zum alten Hof näherten, wollte Max, dass Gunnel kurz anhielt.

Er schaute sich neugierig die Einfahrt an. »Unglaublich, wie zugewachsen hier alles ist«, sagte er. »Man kann ja nicht mal mehr das Sommerhaus von hier aus sehen.«

»Du hast doch bestimmt gehört, dass sie den alten Hof verkauft haben«, sagte Gunnel.

Das versonnene Lächeln auf Max’ Lippen erstarb. Er hatte offenbar nichts davon gehört.

»Was zum Teufel . . . Haben sie etwa den Hof verkauft, auf dem ich geboren wurde?« Er schaute Birger fragend an. »Wusstest du das?«

»Birger hat es von diesem Juristen erfahren, mit dem ihr gesprochen habt«, erklärte Gunnel. »Er und seine Frau haben den Hof gekauft.«

»Ach, das hatte ich ganz vergessen zu erzählen«, verteidigte Birger sich matt.

»Hast du überhaupt eine Ahnung, was dieser Hof für mich bedeutet?«, fragte Max.

»Ja . . . äh, du bist schließlich da geboren.«

»Der Hof ist die letzte Verbindung zwischen mir und meiner Mutter.«

»Ich dachte mir, es wäre gut, wenn sie schon mal ein bisschen Geld lockermachen«, warf Gunnel unbekümmert ein.

Mit finsterer Miene betrachtete Max die Naturschönheit um ihn herum, die er eben noch in vollen Zügen genossen hatte.

»Kein Wunder, warum sie es mit dem Verkauf so eilig hatten«, brummte er. »Sie wollen meine Wurzeln kappen. Aber jetzt kann mich nichts mehr aufhalten. Ich will die Wahrheit wissen – und wenn ich jedes ihrer Geheimnisse persönlich ans Tageslicht befördern muss.«

Gunnel fragte nicht, was für eine Wahrheit und was für Geheimnisse er meinte. Sie hatte bereits gelernt, vorsichtig zu sein, wenn Max’ paranoide Seite zum Vorschein kam. Wenn man ihn in seinen Ansichten bestärkte, war er in der Regel nicht mehr aufzuhalten. Stattdessen ließ sie die Kupplung kommen und fuhr weiter, während sich Max ganz allgemein darüber ausließ, welch schreckliches Unrecht ihm im Leben geschehen sei. Birger kämpfte gegen einen zunehmenden Schwindel an.

Seit dieser rechthaberische und verschrobene Kerl aus Amerika in sein Leben getreten war, hatte sich alles verändert. Nicht genug, dass er nicht mehr an seine Fische herankam, er musste auch noch die Sticheleien seiner Familie ertragen. Doch wenn Gunnel am Abend hinter verschlossenen Türen ihre allzu voreilige Gastfreundschaft beklagte, konnte er mit mildem Spott reagieren. Denn an der Gastfreundschaft zumindest traf ihn keine Schuld, und im Gegensatz zu ihr hatte die Habgier nicht sein Urteilsvermögen außer Kraft gesetzt.

Wie dem auch sei, jetzt hatten sie ihn am Hals, und nichts deutete darauf hin, dass sie ihn so bald wieder loswürden. Er hatte es sich in ihrem Heim gemütlich gemacht und ihre Zeit in Beschlag genommen. Was auch immer bei den Erbstreitigkeiten herausspringen würde – es konnte die entstandenen Zumutungen niemals aufwiegen. Nach vier Wochen befand sich Gunnel am Rande des Nervenzusammenbruchs. Linus drohte mit seinem Auszug, und Birger badete in letzter Zeit ungewöhnlich oft und lange.

Doch nun hatten sie die Abzweigung zum neuen Röshult erreicht und begegneten dort dem Auto des Anwalts, das aus der anderen Richtung kam. Die beiden Autos krochen in würdiger Prozession langsam den gut erhaltenen Schotterweg hinauf.

Sie parkten ihre Wagen vor den Ställen, zwischen Leifs blauem Volvo und einem neuen, lindgrünen Traktor. Die Wagentüren wurden zugeschlagen, und alle streckten sich nach der langen Fahrt. Birger sah eine schmale, weiße Hand, die den karierten Küchenvorhang zur Seite hielt. Sie wurden beobachtet. Er tastete nach den beiden Tabletten in seiner Tasche. Es war an der Zeit, die Betäubung aufzufrischen. Der Anwalt gab ihnen nacheinander die Hand und achtete darauf, alle beim Namen zu nennen. Er war ein hoch aufgeschossener, kahlköpfiger Mann in den Sechzigern, der professionell und freundlich wirkte. Als er der Haustür zustrebte, hefteten sich die anderen wie auf Kommando an seine Fersen. Doch mussten sie eine ganze Weile warten, bis Gertrud auf der Schwelle erschien.

Die geschmeidige Höflichkeit des Anwalts war indes vergeblich. Sie trat mürrisch einen Schritt zur Seite, wobei die Art, wie sie ihre dünnen Lippen verzog, keinen Zweifel erlaubte, was sie von seinesgleichen hielt. Für Max hatte sie nur einen eisigen Blick übrig, und als die Reihe an Birger und Gunnel kam, die die Nachhut bildeten, maulte sie: »Ist ja interessant, dass es doch etwas gibt, das euch hierher bringt.«

Leif hielt sich im Hintergrund und brütete dumpf vor sich hin.

Im Salon zog Gertrud einen der harten Stühle mit den geraden Lehnen unter dem glänzenden Mahagonitisch hervor, um von vornherein klar zu machen, dass die Verhandlungen für niemanden bequem würden. Doch sie hatten noch nicht Platz genommen, als Max auch schon mit lauter Stimme eine Erklärung für den Verkauf des alten Hofs verlangte.

»Ihr habt kein Recht, den Hof, auf dem ich geboren wurde, ohne meine Zustimmung zu verkaufen!«, polterte er los.

Gertruds ohnehin blasses Gesicht wurde noch eine Spur weißer.

»Aber das Geld willst du haben!«, gab sie mit unterdrücktem Zorn zurück. »Und woher, meinst du, sollen wir es nehmen, wenn wir nichts verkaufen?«

»Ach, Geld habt ihr doch mehr als genug«, erwiderte Max.

Diese Behauptung ließ sie verstummen und Leif aufheulen wie ein verwundetes Tier.

»Dass du keine Scham im Leib hast, habe ich schon immer gewusst«, schrie sie schrill. »Aber dass du die Unverschämtheit besitzt, hierher zu kommen und über alles bestimmen zu wollen . . .«

»Man sollte dir eins auf die Fresse hauen!«, brummte Leif unterstützend.

Das fängt ja gut an, dachte Birger.

Max’ Stimme zitterte vor Erregung. »War es etwa nicht so geplant, dass ich den alten Hof bekomme und Leif diesen hier?«

Gertrud lachte schrill auf. »Du hast ihn ja auch wirklich hervorragend in Schuss gehalten.«

Nun schaltete sich der Anwalt ein, um der Auseinandersetzung einen juristischen Rahmen zu geben. »Es ist richtig, dass Leif Rösling den kleineren Teil des Grundbesitzes abgetrennt und verkauft hat«, bestätigte er. »Der Kaufvertrag wurde von ihm und dem Käufer unterzeichnet. Der Verkauf geschah in der Absicht, die Teilung des Erbes zu erleichtern. Daher nehme ich an, dass gegen diesen Vorgang keiner etwas einzuwenden hat. Damit aber der Käufer als rechtmäßiger Besitzer im Grundbuch eingetragen werden kann, müssen die übrigen Erbberechtigten Leif im Nachhinein Vollmacht erteilen. Ich habe eine solche vorbereitet, sodass wir diesen Punkt sogleich erledigen können.«

Max hielt sich mit theatralischer Geste die Hand vor das Herz. Es sah aus, als zähle er ängstlich dessen Schläge. Doch nachdem er sich vergewissert hatte, dass es nicht stehen blieb, überraschte er alle mit einer Kehrtwendung.

»Wenn ich richtig darüber nachdenke, ist es nur gut, dass der Hof verkauft wird«, sagte er. »Dann habt ihr da drüben nichts mehr zu schaffen. Das wird mir die Nachforschungen erleichtern.«

»Welche Nachforschungen?«, fragte Gertrud misstrauisch.

»Ja, das willst du wohl wissen«, entgegnete Max geheimnisvoll.

Gertrud blickte sich fragend um. »Was ist das für ein Geschwätz? Kann mir das jemand erklären?«

Ihr Blick fiel auf Birger, der sich instinktiv hinter Gunnel versteckte. Doch Max’ Worte sollten bis auf weiteres ein Rätsel bleiben, denn jetzt insistierte er nachdrücklich darauf, dass die besagte Vollmacht auf der Stelle von allen unterzeichnet wurde.

Kraft seiner beruflichen Autorität gelang es dem Anwalt, dass sich alle um den Tisch, an dem Birger so viele Sonntagsbraten durchlitten hatte, versammelten und schließlich in einigermaßen geregelter Form die Vollmacht unterzeichneten. Nachdem dieser Punkt also erledigt war, zog er weitere Papiere aus seiner Aktentasche, legte sorgsam einen Stift vor sich auf den Tisch und ergriff das Wort.

»Wie Sie alle wissen, bin ich vom Amtsgericht als Testamentsvollstrecker des Erbes von Henning Rösling eingesetzt worden. Ich werde Ihnen zunächst die Rechtslage erläutern und Sie dann fragen, ob Sie bestimmte Wünsche oder Vorschläge haben, wie in der Angelegenheit zu verfahren ist.«

»Ja, wir haben so einige Vorschläge«, warf Gertrud ein, indem sie Max giftig anblickte.

Leif fasste dies als Signal zur eigentlichen Auseinandersetzung auf und streckte den Kopf vor.

»Wenn wir hier unsere Meinung äußern sollen, dann habe ich eine ganze Menge zu sagen . . .«

Der Anwalt hob beschwichtigend die Hände. »Dazu kommen wir später«, sagte er. »Nachdem ich mir all Ihre Standpunkte angehört habe, werde ich Ihnen einen Vorschlag unterbreiten, wie die Teilung vonstatten gehen könnte. Doch zunächst möchte ich mich vergewissern, dass ich richtig über Ihre Familienverhältnisse informiert bin.«

Über seine Brillengläser hinweg musterte er die drei Männer der Reihe nach. »Sie alle sind Söhne von Henning Rösling?«

Obwohl sie oft genug Anlass gehabt hatten, diesen Umstand zu beklagen, bejahten alle.

»Henning Rösling starb im Jahr 1952«, las der Mann von seinen Papieren ab. »Sein Nachlass ist nicht geteilt worden, daher sitzen wir heute hier. Doch gibt es noch weitere Aspekte, die bei der Teilung des Erbes zu berücksichtigen sind. Wenn ich richtig unterrichtet bin, ging Henning Rösling im Jahr 1927 die Ehe mit seiner Frau Anna ein, die 1940 verstarb, äh, verschwand, entschuldigen Sie, und 1951 für tot erklärt wurde.«

Max’ Hand fiel schwer auf die Tischplatte, und Birger erkannte nur zu gut das irre Flackern in seinen Augen wieder.

»Es stimmt, dass sie verschwunden ist. Aber sie tat es verdammt noch mal nicht freiwillig«, verkündete Max, während er seinen unheilschwangeren Blick um den Tisch wandern ließ. »Wer das behauptet, der lügt. Obwohl die Sache ja niemals richtig untersucht wurde.«

»Wie es sich mit so alten Vorkommnissen verhält, ist für die heutige Situation nicht von Belang«, wandte der Anwalt ein.

Gertrud schoss die Röte ins Gesicht. »Ach, du legst es also auf eine Schlammschlacht an!«, giftete sie. »Na, dann kannst du uns ja auch gleich erzählen, wie damals Hennings Unfall passiert ist. Das weiß nämlich nach wie vor niemand so gut wie du.«

»Ihr habt kein Recht, sie als geistesgestört hinzustellen, nur weil sie damals weggelaufen ist. Sie hat es nicht freiwillig getan . . .«

»Aber du bist einfach abgehauen, konnte dir ja gar nicht schnell genug gehen«, fauchte Gertrud.

Der Anwalt, der den Faden nicht verlieren wollte, fuhr unbeirrt fort: »Sie wurde also 1951 für tot erklärt, und aus dieser Ehe ist nur der Sohn Max hervorgegangen?«

»Nein, nein!«, widersprach Max. »Anna bekam einen weiteren Sohn namens Johan.«

Nun schaute sich der Anwalt erstaunt um, als erwarte er, dass jeden Moment ein vierter Sohn zur Tür hereinspaziert käme. Doch das Erstaunen des Anwalts war nichts gegen das von Gertrud und Leif. Es dauerte mehrere Sekunden, bis Gertrud ihre Fassung wiedererlangt hatte.

»Was redet der da für einen Unsinn!«, rief sie aufgebracht. »Ich habe niemals von irgendeinem Johan gehört.«

»Es ist ja nicht gesagt, dass du alles weißt«, sagte Max. »Vielleicht gab es das eine oder andere, worüber Henning mit dir nie geredet hat.«

Der Anwalt wandte sich stirnrunzelnd seinen Papieren zu. »Henning Rösling hatte also einen weiteren Sohn?«

»Ja«, antwortete Max.

»Nein«, sagte Gertrud.

»Er ist tot«, sagte Birger, der in Max’ bizarre Vorstellungswelt eingeweiht war.

»Von wem redet ihr, verdammt noch mal?«, rief Leif.

Der Anwalt tippte irritiert mit seinem Stift auf die Tischplatte.

»Wann ist er gestorben?«, fragte er.

»Er wurde 1933 von seinem Vater ermordet«, teilte Max mit.

Gertrud lachte hysterisch auf. »Ich wusste zwar, dass du verrückt bist, aber dass es so schlimm um dich steht, hätte ich nicht gedacht«, schnaubte sie.

Max schlug mit der Faust auf den Tisch. »Er wurde ertränkt, und er war erst drei Jahre alt. Ich habe selbst gesehen, wie mein Vater ihn unter Wasser drückte.«

Diese Abschweifung schien selbst den Anwalt aus dem Konzept zu bringen. Er warf Max einen erneuten Blick zu, als hätte er eben erst den Streithammel der Familie identifiziert, schob seine Brille nach oben und machte sich eine Notiz.

»Vorfälle, die so weit zurückliegen, können absolut keinen Einfluss auf die Erbteilung haben«, wiederholte er mit Nachdruck.

Er las aus seinen Unterlagen vor: »Nachdem die erste Ehefrau für tot erklärt worden war, ging Henning eine Ehe mit Gertrud ein, mit der er bereits die beiden Söhne Leif und Birger hatte. Für keine der beiden Ehen bestand ein Ehevertrag. Und eine Erbteilung kam früher nie in Betracht.« Er hob den Kopf. »Ist das richtig?«

Bevor irgendjemand weitere Einwände vorbringen konnte, sprach er rasch weiter: »Das bedeutet, dass der Hof mit dem Tod von Henning zu gleichen Teilen auf Hennings und Annas Erben überging. Annas Alleinerbe ist Max, und nachdem Gertrud ihren Pflichtteil bekommen hat, wird der Rest des väterlichen Erbes unter den drei Brüdern aufgeteilt. Irgendwelche Einwände?«

Nun war der Moment gekommen, in dem Leif seinem verletzten Herzen endlich Luft machen konnte. Man hörte ein schrilles Quietschen, als er seinen Stuhl zurückschob, abrupt aufstand und seine geballten Fäuste auf die Tischplatte stützte.

»Soll es etwa gar nichts bedeuten, dass ich den Hof in all den Jahren bewirtschaftet habe?«, bellte er. »Das muss mir doch irgendwie angerechnet werden!« Er hatte schnaubend den Kopf zwischen die Schultern sinken lassen und schaute sich streitlustig um.

Fahr zur Hölle, dachte Birger, der sich mittlerweile hinter seinem Valiumnebel sicher verschanzt hatte.

»Da hat man sich vierzig Jahre lang abgerackert, hat den Hof instand gehalten und auf Vordermann gebracht, und dann kommen diese beiden da . . .«, er spuckte die Worte förmlich aus und warf seinen Kopf zu der Seite, wo seine beiden gierigen Brüder saßen, ». . . die in all den Jahren keinen Finger gerührt haben und jetzt alles an sich reißen wollen, was ich mir im Schweiße meines Angesichts erarbeitet habe. Ach, zum Teufel mit euren Gesetzen. Es gibt keine Gerechtigkeit . . .«

Gertrud schaute ihren Sohn wohlgefällig an, als sei sie stolz auf seine Leistung, so lange und zusammenhängend gesprochen zu haben. Sie nickte zustimmend. »Nein, Gerechtigkeit können wir uns offenbar nicht erwarten«, fügte sie bitter hinzu.

Falls der Anwalt ein Herz hatte, so schien es durch diese Auftritt nicht berührt worden zu sein, denn er entgegnete trocken: »Aber Sie haben in diesen Jahren doch sicher auch einen Gewinn erwirtschaftet, der Ihnen zugute kam.«

»Was für einen Gewinn?«, brüllte Leif. »Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie es heutzutage zugeht? Sie glauben doch wohl nicht ernsthaft, dass man als Bauer Profit machen kann!«

Gertrud versuchte ihn wieder auf den Stuhl hinunterzuziehen. »Leif will sagen, dass wir gezwungen waren, große Summen für die Pflege und Modernisierung des Hofes aufzuwenden«, verdeutlichte sie.

»Nun, wenn Sie den Wert des Hofes nicht nur erhalten, sondern gesteigert haben, wird Ihnen das bei der Erbteilung natürlich angerechnet«, sagte der Anwalt. »Können Sie eine Wertsteigerung denn belegen?«

»Das können wir sicher«, antwortete Gertrud. »Aber auf die Schnelle geht das nicht. Das müssen wir in aller Ruhe ausrechnen.«

Als wittere Max Betrug, stieß er einen unbestimmten Laut aus, doch der Anwalt ließ ihn mit einem Löwenbändigerblick verstummen und fasste rasch zusammen: »Also gehen wir von einer proportionalen Erbteilung aus, bei der eine eventuelle Wertsteigerung des Hofs zu berücksichtigen ist. Steht noch die Frage aus, in welcher Form die Teilung vonstatten gehen soll. Wollen Sie, Leif, den Hof weiter bewirtschaften und Ihre Mitbesitzer auszahlen?«

Leif starrte vor sich hin, als wäre ihm der Glaube an eine gerechte Welt abhanden gekommen.

»Was bleibt mir denn anderes übrig«, antwortete er dumpf. »Das ist mein Hof, den ich seit über vierzig Jahren betreibe. Ich kann nicht anders, also muss ich mich wohl oder übel fügen. Aber ich habe keine Ahnung, wie ich die beiden auszahlen soll.«

Darauf reagierte der Anwalt mit einer Kaltblütigkeit, die Anwälte in Anbetracht irrelevanter Äußerungen an den Tag zu legen pflegen. »Das ist natürlich das Sinnvollste«, murmelte er zerstreut und machte sich Notizen. »Noch weitere Wünsche oder Fragen?«, wollte er wissen.

Gunnel, die es gewohnt war, dass ihr Mann nicht den Mund aufmachte, schaute zu Birger hinüber, dessen Interessen gewahrt werden mussten. Mit ihrem Sinn fürs Wesentliche steuerte sie direkt auf die Kernfrage zu.

»Wir haben noch gar nicht erfahren, um welchen Wert es sich handelt, wie hoch die Summe ist und wann sie ausgezahlt werden kann.«

Der Anwalt schaute sie dankbar an. Endlich einmal jemand, der sachlich blieb. »Ich werde unverzüglich einen Gutachter bestellen, der den Wert des Hofes bestimmt und auch eine mögliche Wertsteigerung in Betracht ziehen wird«, antwortete er verbindlich. »Die Höhe des Nachlasses bemisst sich nach den bestehenden Vermögenswerten, also dem Hof und etwaigen weiteren Immobilien, abzüglich der Verbindlichkeiten, zum Beispiel Hypothekenbelastungen. Sobald mir alle Zahlen vorliegen, werde ich einen Vorschlag für die Erbteilung unterbreiten, und wenn sich alle mit diesem einverstanden erklären, können wir den Vorgang vielleicht noch in diesem Jahr zum Abschluss bringen.«

Die Enttäuschung stand Gunnel ins Gesicht geschrieben.

»So lange . . .? Aber wenn Leif den Hof übernehmen will, dann muss er uns doch auszahlen.«

»Wieso übernehmen?«, knurrte Leif. »Ich habe ihn jetzt seit fünfundvierzig Jahren, verdammt noch mal!«

»Natürlich, das muss er«, bestätigte der Anwalt. »Zunächst muss natürlich geprüft werden, inwieweit Bargeld mobilisiert werden kann. Das könnte durch eine vertretbare Erhöhung der Hypothek auf die Immobilie geschehen oder durch die Veräußerung anderer Vermögenswerte, womit durch den Verkauf des alten Hofs sowie unrentabler Anbauflächen ja bereits begonnen wurde. Für den Rest müssen zunächst Schuldscheine ausgestellt werden.«

»Schuldscheine?«, protestierte Max. »Von denen kann man nicht leben. Ich bin schon alt und kann nicht ewig warten.«

»Und was sollen wir deiner Meinung nach tun?«, keifte Gertrud. »Euch vielleicht aushalten?«

Der Anwalt blickte auf die Uhr und ließ seine Unterlagen rasch wieder in der Aktentasche verschwinden. Er sah ein wenig erschöpft aus.

Beim Geräusch der Stühle, die quietschend zurückgeschoben wurden, kam Birger zu sich. Doch die Freiheit war noch nicht in Reichweite. Gertrud postierte sich mit einer Miene vor der Haustür, als habe sie noch einen Trumpf im Ärmel. Mit Blick auf Max zeigte sie auf eine große Reisetasche, die unter der Hutablage stand.

»Du willst doch bestimmt deine Tasche wiederhaben, die du vergessen hast, als du mitten in der Nacht aus dem Fenster gesprungen bist.«

»Ja, natürlich«, murmelte er verlegen und versuchte an ihr vorbeizukommen. Doch sie rührte sich nicht vom Fleck.

»Es reicht dir wohl nicht, uns bis auf das letzte Hemd auszuplündern«, sagte sie, »du willst uns auch noch in Verruf bringen.«

Da diese Aussage einer Erklärung bedurfte, wandte sie sich an die anderen, die im Eingansbereich stehen geblieben waren: »Unsere Gastfreundschaft hat er gern in Anspruch genommen, als er ohne Ankündigung am späten Abend bei uns auftauchte und anfing, über das Erbe zu streiten. Ich habe ihm sogar etwas zu essen gemacht und Birgers altes Zimmer für ihn hergerichtet. Und dann springt er mitten in der Nacht einfach aus dem Fenster, läuft zu Brogrens Hof, poltert dort gegen die Tür, veranstaltet einen Heidenspektakel und will, dass sie ihm ein Taxi rufen. Sie waren zu Tode erschrocken, und es grenzt an ein Wunder, dass sie nicht die Polizei gerufen haben.«

»Was wäre denn passiert, wenn ich hier geblieben wäre?«, fragte Max düster. »Wenn ich in dem verdammten Bett geschlafen hätte. Kannst du mir das sagen?«

»Du hättest am nächsten Morgen ein Frühstück bekommen, das ist alles.«

»Ja, falls ich wieder aufgewacht wäre. Aber daran glaube ich nicht. Und das Frühstück wäre ein Mund voll Erde gewesen.«

Gertrud verdrehte die Augen. »Wovon redest du eigentlich?«

Darauf wollte Max nicht näher eingehen. Er riss Tasche und Mantel an sich und drängte sich an ihr vorbei nach draußen.

Gertrud zog die Tür hinter sich zu und führte eine ihrer berühmten Verwandlungsnummern vor.

Sie warf dem Anwalt einen flehenden Blick zu und schüttelte betrübt den Kopf. »Das ist doch nicht normal«, sagte sie bekümmert. »Der ist richtig gefährlich mit seinen Fantasien. Sollte er nicht für unmündig erklärt werden? In seinem eigenen Interesse, meine ich.«

Auch der Anwalt wollte entkommen, doch versperrte sie immer noch den Weg. »Das ist eine Frage, die außerhalb meiner Kompetenz liegt«, murmelte er.

»Zurzeit kümmern sich ja mein jüngster Sohn und meine Schwiegertochter um ihn«, fuhr Gertrud unbeirrt fort. »Aber auf die Dauer ist ihnen das einfach nicht zuzumuten. Und man kann ihm auf keinen Fall eine größere Geldsumme anvertrauen. Man sollte einen Vormund für ihn bestellen. An wen kann ich mich in dieser Angelegenheit wenden?«

Der Anwalt sah aus, als litte er unter einem klaustrophobischen Anfall. »Einen Antrag auf Unmündigkeit können Sie im Prinzip beim Amtsgericht stellen. Aber dazu benötigen Sie natürlich ein ärztliches Attest und eine Stellungnahme des Sozialamts«, haspelte er und unternahm einen halbherzigen Versuch, ins Freie zu gelangen.

»Kann ich mich auch direkt ans Sozialamt wenden?«, fragte sie interessiert.

»Ja, warum nicht«, antwortete er vage. Dann machte er einen beherzten Schritt nach vorn und sah so aus, als wolle er schlimmstenfalls durch sie hindurchgehen.

»Dann werde ich Ihren Rat beherzigen und mich ans Sozialamt wenden«, sagte sie und gab endlich die Tür frei.

Birger und Gunnel traten ebenfalls die Flucht an und traten ihm fast in die Hacken, aus Angst, womöglich im Haus zurückbleiben zu müssen.

Die Ruhe vor dem Sturm - Schweden-Krimi

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