Читать книгу Die Ruhe vor dem Sturm - Schweden-Krimi - Helena Brink - Страница 12
8 SAMSTAG, 10. MAI
ОглавлениеOlle kam sich ungemein großmütig vor. Fünf Tage lang hatte er sich bemüht, den Stand der Dinge von einer höheren Warte aus zu betrachten. Natürlich war er dabei tatkräftig unterstützt worden. Die Telefondrähte glühten zwischen Malmö und Christiansholm. Die Verhandlungen hatten den Punkt erreicht, an dem er sich bereit fühlte, Kajsa ihren Seitensprung zu verzeihen und den Kauf des Hofes ernsthaft in Erwägung zu ziehen.
Mit dem Rechtsanwalt Hugo Rahmén aus Christiansholm – hoffentlich sein neuer Arbeitgeber – hatte er einen vorsichtigen Dialog begonnen. Das hatte er ohnehin vorgehabt, wenn auch nicht so rasch. Als er sich jetzt in den dichten Verkehr nördlich von Malmö einordnete, kam er nicht umhin, sich selbst auf die Schulter zu klopfen.
In zirka einer halben Stunde wollte er sich mit Kajsa und Petrus auf Röshult treffen. Kurz darauf sollte Leif Rösling sich einfinden. Richtig darauf freuen konnte er sich nicht. Im Grunde gab es eine ganze Reihe von Menschen, die er lieber in der Gesellschaft seiner Frau getroffen hätte als Petrus. Dass die schwer vorstellbare Begegnung wirklich vereinbart worden war, musste wohl Kajsas ausgeprägten Überredungskünsten zugeschrieben werden. Und seinem Entgegenkommen. Tatsache war, dass er Petrus einfach nicht ernsthaft böse sein konnte. Dennoch dachte er gerade darüber nach, was er tatsächlich von diesem Mann hielt.
Hätte ihn das jemand vor einer Woche gefragt, hätte er spontan nur Positives zu sagen gewusst. Wie hätte es auch anders sein sollen? Der nette und zuverlässige Petrus, den er seit beinahe zwölf Jahren kannte. Fast genauso lang wie Kajsa. Hatte er in diesen zwölf Jahren je Mass gehabt, sich über ihn zu ärgern? Nicht dass er wüsste.
Dennoch hatte Olle nur sehr vage Vorstellungen, warum Kajsa mit einem Mann befreundet war, der nicht nur neunzehn Jahre älter war als sie, sondern auch, zumindest von außen betrachtet, einen vollkommen anderen Lebensstil pflegte. Sie hatte es ihm bestimmt schon einmal erklärt. Er zweifelte daran, dass es irgendwas aus ihrem früheren Leben gab, das sie ihm nicht erzählt hatte. Nur war er manchmal ein schlechter Zuhörer gewesen.
Wie dem auch sei – Petrus Levin war die personifizierte Redlichkeit. An sich keine Eigenschaft, die Kajsa besonders hoch schätzte, doch was Petrus betraf, war sie sonderbar nachsichtig. Dass er Gründer und Inhaber von Levins Baumarkt war, einem stark expandierenden, am westlichen Stadtrand von Christiansholm gelegenen Unternehmen, hatte sie gelassen hingenommen. Auch störte es sie nicht, dass er ein umtriebiger Kommunalpolitiker – natürlich des bürgerlichen Lagers – war und seit mehreren Jahren für die Baubehörde arbeitete. Zu den vielen Tugenden des Mannes gesellte sich ein großes Engagement in Kultur- und Umweltfragen, eine liberale Einstellung in der Asylpolitik sowie eine Liebe zur Literatur, die er natürlich mit Kajsa teilte. Was dieses Wunderwerk von einem Mann für Einkünfte haben mochte, konnte man sich ausmalen.
Also keine Person, die zwingend zu Kajsas unspektakulärem Bekanntenkreis passte. Ein Umstand, der Olle schon manches Mal gestört hatte, war die unausgesprochene Regel, dass Petrus möglichst nicht von ihren übrigen Freunden behelligt werden sollte. Ob sie damit Petrus oder die anderen Freunde schonen wollte, hatte er nie herausbekommen. Doch es war offensichtlich, dass Petrus in ihrem Leben eine Sonderstellung einnahm.
Und was bedeutete Petrus ihm eigentlich persönlich? Er unterhielt sich gern mit ihm. Aber konnte er von sich behaupten, Petrus Levin zu kennen?
Wohl kaum. Was ihm eigentlich an dem Kerl gefiel, waren dessen Ruhe und Gelassenheit sowie sein wohlwollendes Interesse für ihre Familie. Ihm hatte zum Beispiel die Art gefallen, wie Petrus ihre Geburtstage würdigte, an Joakims Entwicklung teilnahm und Kajsa zu kulturellen Ereignissen einlud, von denen er gern verschont wurde.
Wenn Kajsa sich einbildete, er sei eifersüchtig gewesen, dann irrte sie. Die schwärmerische Ergebenheit, die der ältere Mann ihr entgegenbrachte, hatte ihn eher amüsiert. Er fand es vielmehr ganz natürlich, dass sie bei Männern solche Empfindungen weckte. Doch hätte er sich nicht träumen lassen, dass sie auf eine so abwegige Idee kommen könnte, mit dem Kerl ins Bett zu gehen. Das hatte all seine Vorstellungen auf den Kopf gestellt. Er hatte vorausgesetzt, dass Petrus eine Art Vaterfigur und daher in erotischer Hinsicht völlig uninteressant für sie war. Vielleicht war es etwas zu blauäugig gewesen, sich auf den großen Altersunterschied zu verlassen.
Ungefähr so weit waren seine Erwägungen gediehen, als er auf den holprigen Waldweg abbog. Ein leichter Nieselregen fiel aus den trüben Wolken auf die Windschutzscheibe, doch Bäume und Felder legten bereits ein grünes Kleid an – mehr war auch nicht nötig, um ein jährlich wiederkehrendes Gefühl der Begeisterung bei ihm auszulösen, das ihn stets auf Neue überraschte. Die bewaldete, hügelige Landschaft in dieser Gegend, die so vielfältig und unvorhersehbar war, weckte seine abgestumpften Lebensgeister.
Was hatten Kajsa und er eigentlich den ganzen Winter über getan, während sie sich in der Asphaltwüste der Stadt eingeigelt hatten? Sie hatten sich auf absurden Abwegen befunden und den Reichtum, der in ihrer Reichweite lag, aus den Augen verloren. Nun wurde er von einer heftigen Sehnsucht nach Kajsa und Joakim gepackt. Ja, und er sehnte sich auch nach ihrem Ferienhaus.
Der Weg schlängelte sich in scharfen Kurven durch die teils karge Landschaft. Eine Weile durchschnitt er einen dunklen Fichtenwald mit kleinen eingeschlossenen Ackerstreifen, um nach einer Anhöhe plötzlich eine unvergleichliche Aussicht über sanfte Hänge zu bieten, die sich bis zum Horizont erstreckten. Es war eine geheimnisvolle und eher unzugängliche Gegend. Sie hatten sie vor drei Jahren entdeckt und sich Hals über Kopf in sie verliebt.
Jetzt erinnerte er sich allerdings mit einem Anflug von Irritation, dass es Petrus war, der ihnen den Tipp gegeben hatte. Es war sein Sommerhaus gewesen, das sie in jenem Frühling bewohnten, als sie auf einem ihrer Streifzüge Röshult entdeckten. Er erinnerte sich auch daran, dass Petrus über ihren Entschluss, sich dort einzumieten, nicht sehr glücklich gewesen war. Schon damals hatte er vor jedem Kontakt zu Leif Rösling gewarnt, mit dem er offenbar nicht die besten Beziehungen pflegte. Leider hatten sie ihm Recht geben müssen. Leif war kein guter Vermieter. Das Haus hätte dringend renoviert werden müssen, doch wollte er nicht eine Öre lockermachen, um dessen Verfall zu stoppen. Verkaufen wollte er aber auch nicht, und schließlich waren sie es müde, Eimer und Bottiche aufstellen zu müssen, um das Regenwasser aufzufangen, das durch das löchrige Dach drang. Der vorige Sommer sollte ihr letzter auf Röshult gewesen sein.
Als Olle die wohlbekannte Zufahrt zu ihrem Sommerhaus erreichte, musste er schmunzeln. Als Weg konnte man sie kaum noch bezeichnen. Sie glich eher einem breiten Trampelpfad, der vom Gestrüpp vergilbter Vorjahresvegetation und schüchternem Frühlingsgrün nahezu vollständig überwuchert wurde. Außer Kajsa und ihm hatte offenbar niemand ein Interesse daran, ihn zu erhalten, und ihre Zeit und Mittel waren begrenzt gewesen. Als er letzten Herbst einmal hier gewesen war, hatte er zumindest alten Reifenspuren folgen können. Jetzt schaukelte er aufs Geratewohl vorwärts.
Nach zweihundert Metern erblickte er das Haus und den weiter unten liegenden Wendeplatz, den sie vor ein paar Jahren freigelegt hatten. Dort stand schon Petrus’ grüner Range Rover. Als er Petrus sah, wurde dem anschwellenden Frühlingsjubel in seiner Seele ein jähes Ende bereitet. Plötzlich wurde er sich seiner Gefühle für den Mann bewusst, der ihm dort gegenüberstand. Er betrachtete ihn eingehend, während er die letzten Meter auf ihn zurollte.
Petrus erwartete ihn mit zaghaftem Lächeln und brachte ein freundliches Winken zustande, doch Olle war allzu sehr in seinen Anblick vertieft, als dass er den Gruß hätte erwidern können. Trotz seines Alters war Petrus ein Prachtexemplar von einem Mann. Athletisch gebaut, mit breiten Schultern, ohne den geringsten Ansatz zur Korpulenz. Mit anderen Worten, glänzend in Form. Gut aussehend und den Umständen entsprechend sorgfältig gekleidet wie immer: offene, jagdgrüne Jacke, robustes graues Polohemd, Jeans und Gummistiefel. Die dunklen, lockigen Haare, die von wenigen grauen Strähnen durchzogen waren, kurz geschnitten, die Gesichtszüge entschieden und kraftvoll, der Blick intelligent und freundlich.
Olle wurde von einer fast unbändigen Lust gepackt, seine Faust in diese attraktive Visage zu schlagen.
Vermutlich stand ihm die Wut genauso deutlich ins Gesicht geschrieben, als hätte er sie herausgeschrien, denn Petrus’ Lächeln erstarb augenblicklich. Für einen Moment wirkte er ängstlich, zumindest verunsichert. Doch er brauchte keine Angst zu haben. Olle war ein zivilisierter Zeitgenosse, der in der Lage war, seine Aggressionen zu beherrschen. Er stellte den Motor ab, öffnete die Autotür und setzte einen Fuß auf die Erde.
Er fand selbst, dass er einen angemessenen Ton anschlug: »Hallo! Bist du etwa allein gekommen?«
Petrus steckte die Hände in die Taschen und versank ein wenig tiefer in seiner grünen Jacke, als sei ihm kalt.
»Nein, Kajsa und Joakim sind mitgefahren.« Er blickte sich suchend um. »Ich weiß nicht, wo Joakim geblieben ist. Eben war er noch da. Kajsa ist schon zum Hof vorgegangen; sie wollte dort einen Moment allein sein und meinte, ich solle hier auf dich warten.«
Olles gute Vorsätze von einem zivilisierten Auftreten gerieten ins Wanken. Er stieg aus dem Wagen und knallte die Fahrertür mit unnötiger Härte zu. Das war ja verdammt gut eingefädelt von ihr. Was bezweckte sie nur damit? Dass Petrus und er sich in aller Ruhe aussprachen? Vielleicht bildete sie sich das wirklich ein. Und was sollte er ihrer Meinung nach sagen? Etwa: »Ich habe gehört, dass ihr miteinander geschlafen habt. Also im Gegensatz zu dir gefällt mir das überhaupt nicht.« Oder: »Vergessen wir die ganze Geschichte. Versprich mir nur, dass sich das nicht wiederholt.«
Stattdessen sagte er mit einem Blick in den Himmel: »Ziemlich kalt heute.«
Petrus nickte. »Ja, besonders warm ist es nicht gerade.«
»Ich nehme an, es ist keine gute Idee, das letzte Stück mit dem Auto zu fahren«, sagte Olle.
»Nein, wir haben schon darüber gesprochen, aber ich glaube, da ist kein Durchkommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in den letzten dreißig Jahren mal jemand mit dem Auto versucht hat.«
Olle schaute an ihm vorbei und betrachtete den ansteigenden Pfad, der sich unter Blättern und Gestrüpp so eben erahnen ließ.
»Hier bräuchte man schon ein Kettenfahrzeug«, brummte er und begann dem Hof entgegenzustapfen.
Petrus schloss zu ihm auf und sagte zögerlich: »Leif Rösling kommt in ungefähr einer Stunde.«
»Ach so.«
»Wir können uns also erst mal in aller Ruhe umsehen.«
»Das ist gut.«
Petrus’ kurzer, oberflächlicher Atmung war zu entnehmen, dass ihm etwas auf der Seele lag. Olle presste die Kiefer aufeinander. Wenn der Typ es wagt, mit einer Entschuldigung zu kommen, hau ich ihm in die Fresse, dachte er und beschleunigte das Tempo. Petrus, der die kürzeren Beine hatte, konnte ihm nur mit Mühe folgen.
»Ich wollte . . . dir noch etwas sagen, bevor wir da sind«, begann er.
Olle ballte die Faust in der Tasche, ging aber mit unverminderter Geschwindigkeit weiter.
»Ich weiß nicht, ob du gehört hast, dass ich euch von der Sache abgeraten habe«, sagte er rasch. »Aber Kajsa ist das egal. Sie will partout diesen Hof haben, und meine Argumente können sie offenbar nicht davon abbringen. Deshalb wollte ich auch dir gegenüber noch einmal ausdrücklich betonen, dass ich den Kauf für keine gute Idee halte.«
Olle blieb so abrupt stehen, dass Petrus, der nur einen halben Schritt hinter ihm war, auf ihn auflief. Sie zuckten beide zusammen, als hätte der körperliche Kontakt ihnen einen Stromstoß versetzt. Olle warf Petrus einen, wie er hoffte, eiskalten Blick zu. Dass es ein schlechtes Geschäft sein würde, war doch sonnenklar. Das brauchte er ihm nicht auch noch auf die Nase zu binden.
»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«
»Tja . . . weil ich mich grundsätzlich davor hüten würde, mit Leif Rösling Geschäfte zu machen.«
Olle stieß ein grimmiges Lachen aus. »Hat er dich etwa irgendwann mal übers Ohr gehauen?«
Auf Petrus’ Wangen zeigte sich eine plötzliche Röte. »Das nicht – aber du weißt doch genauso gut wie ich, was das für einer ist.«
»Nicht so gut wie du. Ich weiß, dass er ein alter Geizkragen ist, aber von offenkundigen Betrügereien habe ich nichts gehört.«
»Kajsa hat mir gesagt, der Verkauf hinge mit einer Erbteilung zusammen. Ist Leif wirklich berechtigt, den Verkauf vorzunehmen?«
Olle war verärgert. Was für eine arrogante Attitüde! Er brauchte sich nicht über Selbstverständlichkeiten belehren zu lassen. Sein eigener Ton grenzte indessen an Feindseligkeit.
»Ich bin sehr wohl in der Lage, selbst zu entscheiden, mit wem ich Geschäfte abschließe. Formell geht es wohl um den Nachlass des Vaters, gegen dessen Verkauf die Miteigentümer sicher nichts einzuwenden haben. Also reicht mir bis auf weiteres Leifs Unterschrift.«
Petrus wollte zu einer Entgegnung ansetzen, doch Olle gab einem spontanen Impuls nach und fügte hinzu: »Außerdem müsstest du selbst am besten wissen, wie riskant es ist, jemanden von außen zu beurteilen. Wie leicht kann man sich in jemandem täuschen . . .«
Er jubelte im Stillen, denn es gab keinen Zweifel, dass er einen Volltreffer gelandet hatte. Der Schreck stand Petrus für eine Zehntelsekunde ins Gesicht geschrieben, bevor die Pupillen sich wieder zusammenzogen und sich seine Lippen zu einem befreienden Lachen weiteten. Olle lachte mit. In diesem Augenblick lief ihnen Joakim entgegen. Olle umarmte ihn, und während sie fröhlich miteinander sprachen, gingen sie Seite an Seite dem Hof entgegen. Petrus folgte ihnen mit ein paar Metern Abstand.