Читать книгу Die Ruhe vor dem Sturm - Schweden-Krimi - Helena Brink - Страница 6
2 AM SELBEN ABEND
ОглавлениеKajsas betrunkener Blick verlor sich im Gewimmel der Menschen auf der Jagd nach dem Mann, den sie an diesem Abend eigentlich vollständig ignorieren wollte. Es gab ihr einen kleinen Stich, als sie bemerkte, dass er sich keineswegs vernachlässigt fühlen musste. Seine schönen dunkelbraunen Augen, die eigentlich auf ihr ruhen sollten, waren gerade in ein graues Augenpaar versunken, das zu einer unbekannten Frau mit gefräßiger Miene gehörte. Nicht dass Kajsa eifersüchtig gewesen wäre, doch offensichtlich hatten sie sich eine Menge zu sagen, die beiden, und das schon seit geraumer Zeit . . .
Entschlossen leerte sie ihr Weinglas in einem Zug und mischte sich unter die Leute. Dem Abend zur Ehre hatte sie sich richtig in Schale geworfen, das heißt, sie war tief dekolletiert und sowohl oben wie unten äußerst spärlich bekleidet. Auch mit ihrem allseitigen Lächeln geizte sie nicht und war sich über den spektakulären Anblick, den sie bot, sehr wohl im Klaren. Sie redete sich mit Entschiedenheit ein, dass sie sich glänzend amüsierte.
Eine Maßnahme, die davon ablenken sollte, dass ihr Innenleben eine Katastrophe war. Doch für einen Abend sollte es ihr gelingen, gewisse hoffnungslose Umstände zu vergessen. Ihr Leben nämlich, das ihr in ihrem vom Wein berauschten Zustand wie eine verkapselte Bombe vorkam, die bei nächster Gelegenheit hochgehen konnte.
Patrik der Maler, von seinen Freunden auch PM genannt, wurde fünfzig. In seinem Atelier, eigentlich für langes, intensives Arbeiten an der Staffelei gedacht und normalerweise von unumstößlichen Regeln und absoluter Ruhe geprägt, drängten sich die Leute. Fort waren die großen Ölgemälde, die sonst an den Wänden lehnten. Staffeleien und Arbeitstische waren hinausgetragen und durch lange Tischplatten ersetzt worden, die auf Böcken ruhten. Eine Ansammlung bunt zusammengewürfelter Stühle vollendete das Interieur.
Das Abendessen war längst verspeist, ungezählte Flaschen Wein und Spirituosen waren getrunken und verschiedene Reden gehalten worden. Nur die Reste einiger geplünderter Torten standen noch auf den ramponierten Papierdecken. Wo Platz war, wurde zu Jimi Hendrix und Janis Joplin getanzt, deren Musik abwechselnd aus den Lautsprechern dröhnte.
Allgegenwärtig und offenbar tückischen Windböen ausgesetzt, segelte der Mass der Party durch die Gästeschar. Bei seinem Anblick wäre niemand auf die Idee gekommen, dass diesem Spektakel große Seelenqualen und Selbstzweifel vorausgegangen waren.
In ihrer Eigenschaft als Vertraute seiner Ehefrau Katharina wusste Kajsa zur Genüge von PMs schlaflosen Nächten und seinen düsteren Tiraden über die völlige Sinnlosigkeit und quälende Vergänglichkeit des Lebens. Tiraden, die auch Katharina wiederholt um ihren Schlaf gebracht hatten. Verbittert hatte er ihren bescheidenen Vorschlag zurückgewiesen, in aller Einfachheit ein paar Freunde zu sich nach Hause einzuladen, um den ebenso tragischen wie schmerzlichen Anlass seines fünfzigsten Geburtstags zu feiern. Nein, er wollte an irgendeinen gottverlassenen Ort fliehen, um allein über sein kurzes Erdendasein nachzugrübeln. Katharina war natürlich bereit gewesen, sich seinen Wünschen zu beugen, doch als der unheilschwangere Tag näher rückte, hatte er plötzlich darauf insistiert, ein rauschendes Fest zu feiern.
Kajsa als ihre ständige Beschwerdestelle hatte Katharina zum Streik aufgefordert. Doch darauf hatte diese erwidert, dass es gerade Patriks Unmäßigkeit war, in die sie sich einst verliebt hatte und in die sie im Grunde immer noch vernarrt war. Wenn er etwas fürchte, so hatte sie gesagt, dann sei es, angemessen und maßvoll zu handeln. Entweder wolle er einen einsamen und deprimierenden Geburtstag in einem heruntergekommenen Hotelzimmer in Tranås erleben oder der Mittelpunkt einer rauschenden Party sein, die sie in den Ruin stürzen werde. Wenn sie wählen dürfe, entscheide sie sich für Letzteres.
Doch Katharinas blendender Erscheinung war natürlich nicht die geringste Spur ihrer geplagten Nächte anzumerken. Strahlend und angemessen beschwipst kam sie souverän ihren Gastgeberpflichten nach. Ein angeheitertes Gesicht nahm Kajsa plötzlich die Sicht, worauf sich zwei schwitzige Hände auf ihre nackten Schultern legten. Es war ein Kerl, mit dem sie am früheren Abend arglos geflirtet hatte. Sein betäubender Atem bereitete ihrer guten Laune ein rasches Ende. Sie spürte, dass der Charme des Abends aufgebraucht war, und der Angetrunkene bekam einen Ellbogen in die Seite, bevor sie die Flucht ergriff.
Der Erste, dem sie in die Arme lief, war Roffe Stenberg, Polizeidirektor in Christiansholm, einer der ältesten Freunde des Gastgebers und zugleich ihr Cousin. Sie hakte sich ein und zog ihn in eine ruhige Ecke.
»Mit dir wollte ich schon den ganzen Abend reden«, sagte sie.
»Ja, man kann nicht zwei Schritte machen, ehe man wieder in ein Gespräch verwickelt wird«, klagte er gutmütig.
»Du siehst etwas mitgenommen aus«, sagte sie, indem sie seinen Arm drückte. »Wie lange wirst du es hier noch aushalten?«
Roffe verzog gequält das Gesicht. »Nicht mehr lange, glaube ich. Diese Lautstärke bringt mich noch um.«
Kajsa drückte ihn auf einen Stuhl und nahm neben ihm Platz. »Hat dich jemand zum Tanzen genötigt?«, fragte sie.
»Ja, mir ist wirklich nichts erspart geblieben.« Er betrachtete das Gewimmel der Leute um sich herum. »Ich frage mich ernsthaft, wo PM all die Gäste aufgetrieben hat. Manche sehen aus, als seien sie einem experimentellen Film entsprungen – oder dem Polizeiarchiv.«
Kajsa lachte. »Du bist provinzgeschädigt und hast völlig vergessen, wie es in der großen, weiten Welt zugeht, fern von Christiansholm. Die meisten sehen doch ganz normal unnormal aus. Abgesehen von der Frau da drüben, mit der Olle gerade redet. Ich könnte wetten, die war früher mal Schlangenbeschwörerin.«
Roffe wischte sich mit einem großen Taschentuch über das Gesicht und schnäuzte sich hörbar.
»Ach, ich glaube, ich bin nur ein wenig gereizt«, sagte er. »So wie ein übermüdetes Kind. Um diese Zeit schlafe ich normalerweise. Wo ist eigentlich Joakim?«
»Der war den Trubel leid. Er sitzt im Wohnzimmer und schaut sich einen Actionfilm an.«
»Hört sich nett an. Vielleicht sollte ich ihm Gesellschaft leisten.«
»Bitte lass mich nicht allein«, sagte sie. »Du musst mich vor einem hoffnungslosen Typ beschützen, der es auf mich abgesehen hat.«
»Was ist mit Olle?«
»Der hat genug mit der Schlangenbeschwörerin zu tun.«
»Tja, und meine Begleiterin wird von einem kuriosen Kerl belagert, der mit ihr über Schamanismus und Totemtiere diskutieren will.«
»Interessierst du dich etwa nicht für Totemtiere?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Das solltest du aber. Man darf bei seinen Interessen nicht zu einseitig werden.«
Roffe streckte sich gähnend. »Was ist mit euch? Wollt ihr den Sommer auf Röshult verbringen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, mit dem Ferienhaus ist es wohl vorbei.«
»Warum das?«
»Der letzte Sommer war nicht gerade von Erfolg gekrönt. Olle war insgesamt eine Woche bei uns, und für den Rest der Ferien leistete mir nur Joakim Gesellschaft. Es ist schon etwas unheimlich, gemeinsam mit einem Elfjährigen in einem einsamen Haus mitten im Wald zu wohnen. Außerdem hat es reingeregnet, aber unser Vermieter, der alte Geizhals, hat sich geweigert, das Dach reparieren zu lassen.«
Roffe schaute sie nachdenklich an. »Was ist eigentlich los mit Olle?«, fragte er.
Ihre Warnlampen begannen zu blinken, auch wenn ihr das nicht anzusehen war.
Roffe fuhr unbekümmert fort: »Ich habe mich vorhin mit ihm unterhalten. Er wirkte so geistesabwesend – hat er irgendwelche Sorgen?«
Sie schaute starr vor sich hin. »Ja, wahrscheinlich. Wann hat er das nicht. Aber frag mich bloß nicht, worum es sich handelt. Wir sehen uns ja fast nie.«
Roffe sah erstaunt aus. »Ihr seht euch fast nie? Aber ihr seid doch miteinander verheiratet.«
»Danke, dass du mich daran erinnerst«, entgegnete sie spitz.
Doch ihre Stimme hörte sich brüchig an, und als sie in Roffes großes, freundliches Gesicht schaute, das ein wenig gerötet war, gab sie die Verstellung auf.
»Ach, was soll das ganze Theater«, sagte sie. »Mein Leben ist die Hölle.«
Er sah aufrichtig schockiert aus. Das reichte, um ihre sorgsam errichtete Fassade zum Einsturz zu bringen. Während sie den unpassenden Augenblick verfluchte, spürte sie, wie ihr Zwerchfell sich zusammenzog und ihr Mund sich in einem plötzlichen Weinkrampf verzerrte. Hinter einem Tränenschleier floss ihre Umgebung zu einer wogenden, farbigen Masse zusammen, und bevor sie kapitulierte und ihren Kopf an Roffes Brust sinken ließ, murmelte sie: »Verdammt, jetzt verläuft mir die ganze Schminke!« Sie schluchzte unkontrolliert, und Roffe, der anfangs völlig perplex gewesen war, legte ihr unbeholfen den Arm um die Schultern.
»Vielleicht sollten wir irgendwo hingehen, wo es etwas ruhiger ist«, schlug er vor.
Bevor sie das Atelier verließen, warf Roffe einen besorgten Blick dorthin, wo er zuletzt seine Begleiterin gesehen hatte. Sie wurde immer noch von dem exzentrischen Schamanen belagert, was ihn in gewisser Weise beruhigte. Dass er mit einer Frau im Arm eilig den Raum verließ, konnte ja durchaus missverstanden werden.
Er lotste Kajsa in die Küche, aber dort gab es keine Sitzgelegenheiten mehr, da alle Stühle ins Atelier gewandert waren. Kajsa ließ sich auf den Boden sinken und lehnte den Rücken gegen die Schranktüren unter der zugestellten Spüle. Ehe sich Roffe etwas ungelenk neben sie kniete, schnappte er sich eine Küchenrolle von der Arbeitsplatte.
»Jetzt habe ich dein Hemd völlig durchnässt«, schniefte sie, während er ihr ein Blatt von der Rolle reichte. »Ich hatte wirklich nicht vor, mich so zu benehmen.«
»Ach, was soll’s«, sagte er leichthin. »Das Hemd trocknet schon wieder, und so überrascht bin ich nun auch wieder nicht. Keine Ahnung, woran es liegt, aber Frauen brechen ständig in Tränen aus, wenn ich in der Nähe bin.«
»Ach, wirklich. Wie unangenehm für dich«, sagte sie und schnäuzte sich.
»So unangenehm ist das gar nicht«, versicherte er.
Während sie sich den Nachwirkungen ihres Gefühlsausbruchs widmete, beobachtete er aufmerksam ihr gebeugtes Profil, um sie gegebenenfalls mit weiteren Papiertüchern versorgen zu können.
Er hatte sie stets gemocht, auch wenn ihre Impulsivität ihn manchmal erschreckte. Hin und wieder hatte ihr Verhalten ihn auch irritiert. Sie hatte die Eigenart, ihre Überzeugungen mit größtem Nachdruck zu vertreten, selbst wenn er sie ziemlich schlecht begründet fand. Deshalb waren sie schon so manches Mal aneinander geraten, auch wenn es ihren Auseinandersetzungen nie an gegenseitiger Zuneigung und Humor gefehlt hatte.
Ihre Mütter waren Schwestern mit einem Altersunterschied von dreizehn Jahren. Seine Mutter war die Ältere, und so war es nicht verwunderlich, dass zwischen ihm und Kajsa fünfzehn Jahre lagen. Doch war dies nicht der einzige Grund dafür, dass er sich in ihrer Gesellschaft wie ein alter Knacker vorkam. Es war etwas an ihrer Persönlichkeit – etwas Bewegliches und Quecksilberartiges –, das ihm das Gefühl vermittelte, hoffnungslos den Anschluss verpasst zu haben, ja, regelrecht hinter dem Mond zu leben.
Außerdem sah sie trotz ihrer fünfunddreißig Jahre bedeutend jünger aus. Das lag vielleicht an ihrer kurzen, ein wenig breiten Nase, über deren Sattel sich ein Streifen heller Sommersprossen zog, oder an den großen blauen Augen, die so rasch ihren Ausdruck wechseln konnten.
Ihr kindlicher Mund zitterte immer noch. Im Grunde war sie keine Schönheit im üblichen Sinn, doch insgesamt wirkte sie fraglos interessant und attraktiv. Ihre rotblonden Haare erinnerten ihn an seine Mutter. Sie waren lockig und immer ein wenig zerzaust, und genau wie seine Mutter war sie von kleiner und zarter Gestalt. Sah man sie zusammen mit ihrer Freundin Katharina, die groß gewachsen, dunkel und üppig war, hätte der Kontrast nicht größer sein können.
Kajsa stieß einen tiefen Seufzer aus und streckte den Rücken. »Es ist wie verhext«, sagte sie.
»Wieso?«
»Wir waren mitten in einem Streit, bevor wir hierher fuhren. Aber schließlich wollten wir PMs fünfzigsten Geburtstag nicht verpassen, also haben wir beschlossen, die Sache aufzuschieben, bis wir wieder zu Hause sind.«
»So was ist ziemlich riskant.«
»Ja, im Grunde war der ganze Abend schrecklich für mich. Wie Olle das empfindet, weiß ich nicht. Er tut so, als würden wir uns nicht kennen.«
»So ein Mistkerl!«, sagte Roffe solidarisch.
Ihre Unterlippe begann erneut zu zittern. »Obwohl ich mich genauso benommen habe.«
»Aha, dann bist du also keinen Deut besser?«
»Nein . . .«
Er reichte ihr rasch ein weiteres Blatt von der Küchenrolle.
»Wir werden uns scheiden lassen!«, verkündete sie mit plötzlicher Entschlossenheit.
»Auf einmal . . . Ich meine . . .?«
Sie warf ihm einen raschen Blick zu. »Schon wieder, denkst du jetzt sicher.«
»Meinst du? Okay, das stimmt.«
»Aber diesmal steht es fest.«
»Stand es nicht vor einem Jahr auch schon fest?«
Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine irritierte Falte. »Schon möglich. Aber jetzt kann ich mich einfach nicht länger damit abfinden.«
»Ist etwas Besonderes passiert?«
Sie stieß ein verlorenes Lachen aus, das melodramatisch in der chaotischen Küche widerhallte. »Das ist es ja gerade. Bei uns passiert nie etwas Besonderes.«
»Was meinst du damit?«, fragte er.
Sie schaute ihn prüfend an, als überlege sie, ob sie ihn ins Vertrauen ziehen sollte.
»Unsere Ehe ist ziemlich platonisch geworden. Wir führen sie hauptsächlich über das Telefon, und das war ja schließlich nicht das, was ich mir bei unserer Hochzeit erträumt hatte.«
»Und ihr seht euch nach wie vor nur am Wochenende?«
Er riss geistesabwesend weitere Stücke von der Papierrolle ab und faltete sie sorgsam zu kleinen Vierecken, als wappne er sich erneut gegen eine Sturzflut von Tränen.
»Wenn überhaupt. Aber wir kommen einander nicht nah, ehe er wieder nach Malmö aufbrechen muss. So ist es ihm offenbar am liebsten. Da braucht er keine Angst vor einer wirklichen Begegnung zu haben.«
»Vielleicht habe ich da etwas nicht mitbekommen, aber hat er nicht auf eine Versetzung nach Christiansholm gewartet?«
»Darauf wartet er schon ewig, aber in den nächsten zehn Jahren wird das sicherlich nicht passieren. Und er tut auch nichts dafür, dass es passiert. Ich glaube, eigentlich will er gar nicht versetzt werden.«
»Und du willst natürlich auch nicht nach Malmö zurückziehen.«
»Nie im Leben. Ich habe schließlich einen Job hier, und Joakim geht in die Schule.«
»Dann scheint die Sache ja ziemlich ausweglos zu sein.«
»Ja.«
Er suchte nach einer neuen Perspektive, aus der man die Sache hätte betrachten können, doch leider fand er keine. Da seine eigene Scheidung schon lange zurücklag und er im Begriff war, eine neue Beziehung aufzubauen, fiel es ihm schwer zu verstehen, wie zwei Menschen sich nur dauernd in den Haaren liegen konnten. Außerdem war er müde und benommen von all dem Wein. Am liebsten hätte er Monica und sich selbst in ein Taxi verfrachtet, um nach Hause zu fahren und sich mit ihr ins Bett zu legen, ehe all seine Energie aufgebraucht war.
Ein wenig zu rasch – vor allem, um seiner angedeuteten Erfahrung mit weinenden Frauen gerecht zu werden – entgegnete er: »Das kommt schon alles wieder ins Lot, du wirst sehen. Ein Kerl, der so mit einer Geige umgeht wie Olle, kann doch kein völlig hoffnungsloser Fall sein.«
»Genau diesen Standpunkt habe ich von dir erwartet«, sagte sie gereizt.
»Ich meine doch nur, dass gewisse Voraussetzungen bestehen . . .«
»Soll ich dir sagen, worüber wir gestritten haben?«, fragte sie beleidigt. »Ich habe gerade erfahren, was für ein Heuchler er ist. Er hat nämlich tatsächlich die Chance auf einen fantastischen Job hier in Christiansholm. Doch nicht genug, dass er keinen Gedanken daran verschwendet, ihn anzunehmen, er hat mir gegenüber kein Wort davon gesagt.«
»Wie hast du es dann erfahren?«
»Von einer zuverlässigen Quelle, die den Mund nicht halten konnte. Olle weiß nicht, dass ich es weiß.«
»Wie ist es euch gelungen, über etwas zu streiten, wovon du offiziell gar nichts weißt?«, fragte Roffe interessiert.
»Wir haben uns über prinzipielle Dinge gestritten, wie darüber, dass er sich nicht voll und ganz auf unsere Beziehung einlässt. Dass er sich mit kurzen Momenten begnügt, während sein wirkliches Leben woanders stattfindet. Weißt du, dass er eine Menge Freunde in Malmö hat, die ich noch nie kennen gelernt habe?«
»Was ist das für ein Job, den er nicht haben wollte?«
»Hugo Rahmén, ein Anwalt hier in der Stadt, hat ihm eine Stelle in seiner Kanzlei angeboten. Sie haben sich in Zusammenhang mit irgendeiner Schadensregulierung mehrmals in Malmö getroffen. Nach so einer Gelegenheit hat er doch jahrelang gesucht. Aber glaubst du etwa, er packt sie beim Schopf? Ach was! Jetzt tut er so, als wäre es sein Herzenswunsch, sich weiter für diese Versicherungsgesellschaft abzuplagen, die ihm verhasst ist und nicht einmal ein angemessenes Gehalt bezahlt. Für solch ein Verhalten gibt es doch wohl nur eine Erklärung . . .«
Sie wurde von dem Geräusch sich nähernder Schritte unterbrochen, worauf der Gegenstand ihres Zorns in der Küchentür erschien.
Roffe fühlte sich ertappt und rappelte sich mühsam auf.
»Kajsa hat mir gerade ihr Herz ausgeschüttet«, sagte er freimütig.
Falls diese Mitteilung ihren Mann in irgendeiner Form interessierte, zeigte er es nicht. Ohne seiner Frau in die Augen zu blicken, entgegnete er steif: »Es ist schon nach zwei, und ich bin total fertig. Joakim schläft in seinem Sessel. Vielleicht sollten wir jetzt nach Hause fahren.«
»Gute Idee«, sagte Roffe freundlich. »Monica und ich fahren jetzt auch. Dann können wir uns ein Taxi in die Stadt teilen.«
Eine Stunde später wurde der schlafende Joakim in einem Mietshaus im östlichen Christiansholm drei Treppen hinaufgetragen, auf sein Bett gelegt, ausgezogen und zugedeckt.
Seine Eltern blieben noch eine Weile vor dem Bett stehen und betrachteten sein entspanntes schmales Gesicht. Ihre Herzen flössen über vor Zärtlichkeit, und für einen Moment vergaßen sie ihre traurigen Streitigkeiten und tauschten ein stolzes Lächeln. Worauf Olle, der nach einem durchfeierten Abend keine Energie mehr hatte, seine Hälfte des Ehebetts einnahm und augenblicklich in tiefen Schlaf fiel.
Immer noch im Abendkleid kroch Kajsa im dunklen Wohnzimmer auf das Sofa, um über dies und jenes in ihrem fünfunddreißigjährigen Leben Klarheit zu gewinnen.
Wie konnte etwas, das so vielversprechend begonnen hatte, nur so scheitern? Womit sie automatisch an den entscheidenden Wendepunkt ihres Lebens gelangte: an den Frühling vor vierzehn Jahren.
Damals hatte sie kurze Zeit für ein Inkassobüro in Malmö gearbeitet. Jeden Morgen, bevor sie zu dieser widerlichen Institution aufbrach, war sie den Tränen nahe, während sie in einem möblierten Zimmer im Westend verzweifelt ihr Müsli kaute. Sie hatte Angst vor ihrem Vorgesetzten, fühlte sich dem übrigen Personal gegenüber wie eine Außerirdische und kannte sich im verhassten Malmö kaum aus. Sie war, kurz gesagt, der einsamste und unglücklichste Mensch auf Erden.
Gründe, warum sie in diese Situation geraten war, gab es mehrere. Eine gescheiterte Liebesgeschichte, deren Wunden nicht heilen wollten, endlose Streitigkeiten mit der Mutter, das allgemeine Gefühl, an einem viel zu festgelegten, viel zu eingeschränkten Leben zu ersticken. Mit einundzwanzig hatte sie also ihren Job, Freunde und Verwandte in Christiansholm aufgegeben, um die ungeahnten Möglichkeiten in einer anonymen Großstadt wahrzunehmen. Sie wollte sich ein Dasein schaffen, das besser ihren Bedürfnissen und heimlichen Hoffnungen entsprach. Von denen hatte sie damals so viele gehabt.
Später hatte sie die eigentliche Bedeutung von alldem begriffen. Denn hätte sie nicht beharrlich an ihrem verhassten Job festgehalten, hätte sie niemals Birgitta kennen gelernt, und Olles und ihr Leben wäre auch weiterhin öde und leer gewesen. Der bloße Gedanke an diese Möglichkeit ließ sie noch jahrelang erschaudern.
Birgitta war eine umsichtige Freundin mit einem großen Freundeskreis gewesen, die potenzielle Verehrer an Kajsa weiterleitete. Doch es wurde nie etwas daraus, denn Kajsa hatte sich aufgrund bitterer Erfahrungen einen Röntgenblick zugelegt, der jeden Verehrer in die Flucht schlug. Birgitta machte sich Sorgen. Das Reservoir war schließlich nicht unbegrenzt, und es musste doch Grenzen geben, wie anspruchsvoll man sein durfte. Kajsa verteidigte sich mit dem Argument, ihre Fantasie würde nicht ausreichend stimuliert. Sie war es nämlich, die anspruchsvoll war. Außerdem – doch dies sagte sie Birgitta nicht – hatte sie höhere Ziele, als sich um jeden Preis einen Typ zu angeln.
Dennoch hatte es zahlreiche Versuche gegeben, bevor sie Birgitta an jenem Abend – ohne den leisesten Windhauch vom Flügelschlag des Schicksals zu spüren – zu einer Probe des Orchesters begleitete, in dem die Freundin die zweite Geige spielte.
Auf dem Programm standen Lars-Erik Larsson und Rossini, und schon bald erblickte Kajsa, die nichts anderes zu tun hatte, als den zahlreichen Wiederholungen zu lauschen und die sich abmühenden Musiker zu beobachten, ein markantes Profil unter den ersten Geigen, das sie magnetisch anzog.
Es gehörte zu einem brünetten Mann mit halblangen, zurückgekämmten Haaren und brennendem Blick. Zumindest schien es ihr so, als brenne er, geheimnisvoll und beseelt – und dass er eine Geige unter dem Kinn hatte, gereichte ihm nicht zum Nachteil.
Ihre Fantasie erblühte, und zu der lyrischen Pastoralsuite, vom stets unzufriedenen, pedantischen Dirigenten in Stücke gehackt, verlor sie sich in Mutmaßungen über die interessante Herkunft des Geigers. Dass er kein Schwede war, schien ihr offensichtlich. Solch leidende Züge mussten einen südeuropäischen Ursprung haben. In rascher Folge ging sie die verschiedenen Möglichkeiten durch: Italiener, Grieche, vielleicht gar ein feuriger Ungar, um schließlich in noch größere Ferne zu schweifen. Warum nicht ein heißblütiger Südamerikaner mit ein paar Tropfen Indianerblut in den Adern?
Als Kajsa und Birgitta sich nach dem Ende der Probe ein paar Leuten anschlossen, die in die nächste Kneipe wollten, und Kajsa bemerkte, dass auch der Südamerikaner zu dieser Gruppe gehörte, bekam sie natürlich weiche Knie.
Doch der Abend hielt noch weitere Überraschungen parat. In der engen, lauten Kneipe, in der sie ihm zum ersten Mal näher kam, stellte sich nämlich heraus, dass er keineswegs Rodrigo oder Enrico hieß, sondern Olle, in Malmö geboren war und einen ausgeprägten Malmöer Dialekt sprach.
Kajsa gab die Sache jedoch nicht verloren. Ihre Fantasie war von der flexiblen Sorte. Mochte er auch kein Südamerikaner mit einem Schuss Indianerblut sein, so blieben doch sein anziehendes Profil und sein beseelter Blick – und an jeden Dialekt konnte man sich gewöhnen. Sie war verliebt, und alles andere würde sich schon fügen. Als er einen späten Spaziergang durch das frühlingshafte Malmö vorschlug, hatte sie sich natürlich eingebildet, dass ihrem Glück nichts mehr im Wege stand.
Kreuz und quer schlenderten sie durch die Straßen, und da sie sich in Malmö immer noch nicht auskannte, sah für sie alles gleich aus. Nachdem sie alle unverfänglichen Themen über das Leben im Allgemeinen abgearbeitet hatten und natürlich stets einer Meinung gewesen waren, gab es nicht mehr viel zu sagen. Doch ihr Schweigen war beredt genug gewesen. Und als er sie schließlich fragte, ob sie noch eine Runde im Kungspark drehen wollten, begriff sie, dass sie die erste Annäherungsphase bereits hinter sich hatten und zur zweiten übergehen konnten. Aber unter den Bäumen, am späten, hellen Frühlingsabend, küsste er sie nicht. Stattdessen eröffnete er ihr, er sei verheiratet, worauf sich ein Abgrund unter ihren Füßen auftat. Doch schon im nächsten Augenblick spürte sie wieder festen Boden unter sich, weil er rasch hinzufügte, er sei unglücklich verheiratet – so unglücklich, dass er kurz vor der Scheidung stehe. Und als er ihr im nächsten Atemzug mit einem tiefen Blick in die Augen gestand, sie habe ein echtes, tiefes Gefühl in ihm geweckt, das er längst verloren geglaubt hatte, dawäre sie vor Seligkeit fast in Ohnmacht gefallen.
Darauf waren sie gemächlich die sich windenden Kieswege entlanggeschlendert, um zwischendurch auf irgendwelchen Parkbänken zu landen, wo er sie von ausgewählten Details aus seinem Leben in Kenntnis setzte.
Genau wie sie geahnt hatte, war er eine empfindsame und facettenreiche Persönlichkeit – eine Künstlerseele, die von ihrer Umgebung nur unzureichend verstanden wurde.
Im Grunde war die Musik seine Bestimmung, doch als seine karriereorientierten Eltern einsahen, dass er kein Wunderkind war, das in Rekordtempo eine Weltkarriere als Geigenvirtuose in Angriff nehmen würde, hatten sie ihn mit subtilem Druck zu einem Jurastudium genötigt. Danach hatte er natürlich viel zu früh geheiratet, und der Kampf um das tägliche Brot hatte ihn nur noch weiter von sich selbst und seiner Musik entfernt.
Er war sieben Jahre älter als Kajsa und bereits spürbar gezeichnet und desillusioniert. Er war zu taktvoll, um sie mit intimeren Details seines Ehelebens zu behelligen. So behauptete er weder, sie nutze ihn aus, noch dass sie eine Hexe sei, die kein Gespür für seine Psyche habe, doch Kajsa konnte problemlos zwischen den Zeilen lesen. Und als er sie unter einer großen Trauerweide endlich küsste und der Boden unter ihren Füßen wankte, da wurde ihr klar, dass sie ihn in letzter Minute davor bewahrte, sein Leben zu verpfuschen.
Danach waren sie zu ihrem möblierten Zimmer gegangen, um das zu vollenden, was sie im Park begonnen hatten. Und immer noch glaubte sie, die Liebe sei eine unkomplizierte Sache, die nur sie und ihn etwas anginge.
Doch sehr bald – tatsächlich schon am nächsten Tag – wurden ihr einige unumstößliche Tatsachen bewusst, denn dieser einsame Mann, der ihren Weg gekreuzt hatte, war alles andere als das.
Es hätte sie im Grunde nicht schockieren dürfen, dass er innerhalb einer komplexen Struktur lebte, in der seine Frau, zwei Kinder, ein Meerschweinchen und das hypothekenbelastete Haus das Zentrum bildeten – um das wiederum eine despotische Mutter, kleinkarierte Schwiegereltern, Verwandte und Freunde wie Planeten ihre unabänderlichen Bahnen zogen. Die ganze empfindliche Konstellation würde ins Wanken geraten und wie ein zweiter Turm zu Babel mit ohrenbetäubendem Lärm einstürzen, wenn sie ihn an sich zog.
Kein Wunder, dass ihr im Nachhinein das Herz in die Hose rutschte und sie das Feld räumen wollte. In Wahrheit wollten beide das Feld räumen, doch niemals gleichzeitig. Daher wechselten sie sich damit ab, dem anderen einen gehörigen Schrecken einzujagen.
Während sie sich ihren wechselnden Fluchtversuchen und stürmischen Versöhnungsszenen hingaben, begann ihr Turm zu Babel wirklich in den Fugen zu ächzen. Doch er stürzte nicht ein, stattdessen wurden in aller Stille gewisse Umbauarbeiten und Verstärkungen vorgenommen. Und als schließlich der glückliche Tag kam, an dem sie einander das Ja-Wort gaben und den widerwilligen Segen der Umwelt erhielten, da stand er so stabil wie eh und je. Kajsa hatte das Gefühl, nicht nur Olle geheiratet zu haben, sondern auch seine frühere Familie, seine Mutter, seine ganze große Verwandtschaft und all seine Freunde.
Doch wäre es kleinlich von ihr gewesen, sich daran zu stören, da sie doch so glücklich, ihr Wunschkind bereits unterwegs und Olle ein so wunderbarer Mann war.
Damals verfügte sie ja schon über ein gewisses Maß an Menschenkenntnis und verlor nicht gleich die Fassung, wenn jemand vollkommen unerwartete Seiten offenbarte. Davon musste man ihrer Meinung nach sogar ausgehen, da der Mensch nun einmal ein kompliziertes Wesen mit einer empfindsamen Seele war. Auch geriet sie nicht umgehend in Panik, als Olle die Lust verlor, ihr göttliche Eigenschaften zuzusprechen. Sie schlug erst an jenem Tag hart in der Wirklichkeit auf, als sie zu der Einsicht gelangte, dass der faszinierende Mann mit der berückenden Tiefe sich auf rätselhafte Weise in einen überarbeiteten und mürrischen Versicherungsangestellten verwandelt hatte, der zu Furchtsamkeit und Pedanterie neigte.
So fiel es ihr nach und nach wie Schuppen von den Augen, dass sie mit einem Mann verheiratet war, der in einer völlig anderen Welt lebte als sie. In einer hektischen Welt ohne jeden Freiraum, die ihr keine Luft zum Atmen ließ. Und ausgerechnet sie hatte den gehetzten Blick in seinen schönen Augen vertreiben, hatte den gespannten Zug um seinen Mund einfach wegküssen wollen – Dinge, die auf so irritierende Weise den Blick auf seine wirklichen Qualitäten verstellten. Durch ihre Existenz hatte sie die Summe seiner Verpflichtungen gar noch erhöht und sich darüber hinaus in sein Verantwortungsgebiet eingemischt.
Vielleicht hätten sie auch diese Krise gemeistert, wenn sie nur in aller Ruhe ihre geplatzten Illusionen hätten verarbeiten können. Doch was ihre Ehe betraf, gab es so viele Gesichtspunkte zu beachten und zahlreiche Empfindlichkeiten zu berücksichtigen. Kajsa, die Kompromisse hasste, begriff, dass sie nichts anderes mehr tat, als Kompromisse zu schließen. Kein Wunder, dass sie Gefahr witterte. Nach schwedischem Maßstab war Malmö zwar eine Großstadt, doch nicht groß genug, um ihrer beider Vergangenheit zu bergen.
Hals über Kopf war sie mit dem dreijährigen Joakim nach Christiansholm zurückgezogen. Hatte eine Dreizimmerwohnung gemietet, Frieden mit ihrer Mutter geschlossen und den Kontakt zu ihren alten Freunden wieder aufgenommen. Umgehend bekam sie auch eine Anstellung an der städtischen Bibliothek.
Olle kam pflichtschuldig hinterher und begann zu pendeln. Doch schon bald wurde er dessen überdrüssig und besorgte sich eine Übernachtungsmöglichkeit in Malmö. Was eine Reihe neuer Probleme nach sich zog, die sie bei jeder ihre Begegnungen in Atem hielt.
Sie behauptete, das Leben in Malmö verschlinge ihn mit Haut und Haar. Für sie und Joakim interessiere er sich nur noch halbherzig. Was ihn veranlasste, sich über die unkontrollierbare Flut ihrer Freunde und Verwandten zu beschweren. Sie führte ins Feld, ihre Ehe sei ein ständiges Provisorium. Worauf er sie daran erinnerte, dass sie als Erste umgezogen war.
Hin und wieder liebten sie sich mit derselben Glut wie damals, als sie es beide allein mit der ganzen Welt aufgenommen hatten. In solch erhitzten Momenten war nichts unmöglich; dann geschah es sogar, dass ihre Vorstellungen vom Leben miteinander im Einklang standen.
Und so kehrten sie zu den ewigen Fragen zurück: Wie kam es nur, dass sie beide, die doch wie geschaffen füreinander waren, so starrsinnig in unterschiedliche Richtungen strebten? Obwohl sie doch so gern gemeinsam . . . Denn das wollten sie doch? Zumindest sie wollte das.
Jetzt wollte sie ins Bett gehen, denn sie war sehr müde. Aber dazu kam es nicht mehr, im Nu war sie auf dem Sofa eingeschlafen.
Das Letzte, was sie hörte, war das Rascheln auf der Türmatte, als die Christiansholmsposten durch den Türschlitz geworfen wurde.