Читать книгу Die Ruhe vor dem Sturm - Schweden-Krimi - Helena Brink - Страница 9
5 FREITAG, 18. APRIL
ОглавлениеNach einer langen Diskussion über den Brandschaden an einer Maschine kämpfte sich Olle Linder durch den dichten Verkehr ins Zentrum von Malmö zurück. Eine Verabredung zum Mittagessen im Restaurant Casa Mia war der nächste Punkt auf der Tagesordnung. Eigentlich war er nicht in der richtigen Stimmung dafür. Seine Laune verlangte eher nach einer einsamen Insel oder zumindest der Einsamkeit hinter einer verschlossenen Tür.
Die allgemeinen Auflösungserscheinungen in seinem Inneren ließen keinen Platz für versöhnliche Gedanken. Sein Leben zerbrach, soweit etwas zerbrechen konnte, das nie heil gewesen war. Wie üblich wurde er von allen Seiten belagert und um Hilfe und Unterstützung gebeten. Und wie üblich sauste er unermüdlich durch die Gegend, um aller Welt zu Diensten zu sein. Aber wie sehr er sich auch abmühte, so war die Welt doch nie zufrieden und stellte ständig weitere Forderungen.
Gerade eben hatte ihn seine Exfrau auf dem Handy angerufen und ihn daran erinnert, dass ihre Tochter morgen ihren neunzehnten Geburtstag feierte. Was bedeutete, dass er sich schon heute irgendwann eine halbe Stunde freinehmen musste, um ein passendes Geschenk zu besorgen. Wo er diese halbe Stunde hernehmen und wie das Geschenk aussehen sollte, stand in den Sternen. Kurz zuvor hatte sich seine Mutter gemeldet, um ihm mitzuteilen, dass sie für heute Abend Onkel Todde und Tante Ester eingeladen hatte, damit er sich endlich um ihr Testament kümmern könne, was er schon seit Jahren versprochen habe. Die Sache ließe sich nicht länger aufschieben, da sie steinalt seien und jeder Tag ihr letzter sein könne.
Und dann noch das letzte Telefongespräch mit Kajsa, das einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen hatte. Das Einzige, das sich über den gegenwärtigen Zustand ihrer Ehe sagen ließ, war, dass sie vermutlich keine Zukunft hatte. Zumindest ein Punkt, in dem sie sich einig waren. Ihr Umgangston war spröde und kalt gewesen. Ihren Kontakt hielten sie am Telefon notdürftig aufrecht. Lange, trostlose Gespräche oder endlose Debatten, in denen keiner sein Gesicht verlieren wollte. Heute war es um die Scheidung gegangen.
Er hatte die letzte Nacht kaum ein Auge zugemacht. Sie konnte zur Hölle fahren mit ihren ewigen Beschuldigungen und ihren unmäßigen Ansprüchen. Wenn sie ihn nicht so nehmen wollte, wie er war, sollte sie sich eben auf die Suche nach ihrem Märchenprinzen machen, der ihre naiven Visionen teilte. Zum Teufel mit einer Frau, die einen ständig erziehen wollte. . .
Doch eigentlich hatte er Angst. Große Angst. Im Grunde wollte er sie um keinen Preis verlieren. Natürlich hatten sie sich bei ihren Auseinandersetzungen auch immer wieder über eine mögliche Scheidung unterhalten – so oft, dass er diese Möglichkeit schließlich ernsthaft in Betracht zog. Es gehörte irgendwie dazu, den anderen an einem gewissen Punkt mit der ultimativen Drohung zu konfrontieren; das Signal, dass ihre Beziehung den Tiefststand erreicht hatte. Später schlug dann meist die Stunde der Besinnung und Versöhnung. Doch diesmal war es anders gewesen. Es hatte ein ungewöhnlich scharfer und desillusionierter Ton geherrscht – zumindest von ihrer Seite aus.
Um seinem Herzen ein wenig Luft zu machen, beschimpfte er die Ampeln, die mit perfider Präzision jedes Mal auf Rot schalteten, wenn er sie erreicht hatte. Er hatte einen Mordshunger. Außerdem sollte er für eine warme Mahlzeit wieder mal die Probleme anderer Leute lösen, als hätte er selbst nicht schon genug um die Ohren.
Ansonsten hatte er nichts dagegen, dem rücksichtsvollen Fernsehhändler einen Rat zu geben. Er wartete vielmehr auf eine Gelegenheit, sich für Birger Röslings beharrliche, manchmal beinah lästige Großzügigkeit zu revanchieren.
Sie hatten sich vor zwei Jahren kennen gelernt.
Der Mediaring war ein Großkunde ihrer Versicherungsgesellschaft, und in die Filiale in der Amiralsgata, die von Birger Rösling geleitet wurde, war gerade eingebrochen worden. Während sich Olle mit der Schadensregulierung befasste, war ihm der Name Rösling aufgefallen. Und als Birger begriff, dass Olle und seine Frau ein zu Röshult gehörendes Sommerhaus zu mieten pflegten, bestätigte er, dass Leif Rösling sein älterer Bruder und der Hof Röshult sein Elternhaus war. Olle war erstaunt, wie verschieden die Brüder waren. Birger Rösling schien ein stiller, schüchterner Mann zu sein, hoch aufgeschossen, mit beginnender Glatze. Seine Augen hinter den Brillengläsern machten einen intelligenten, wenn auch ein wenig zaghaften Eindruck. Leif dagegen war ein schwarzhaariger Hüne mit fast animalischer Ausstrahlung.
Die an sich unbedeutende Begegnung mit dem Bruder von Leif Rösling zog weitere Gespräche nach sich, und als sie entdeckten, dass sie ein leidvolles Interesse an klassischer Musik teilten und Olle in freien Stunden außerdem noch Geige spielte, war der Fernsehhändler hellauf begeistert. Als ihm ferner klar wurde, dass Olles Möglichkeiten, die großen Werke auf CD zu genießen, aufgrund seiner veralteten Anlage sehr begrenzt waren, hatte er ihm uneigennützig äußerst günstige Rabatte für eine exzellente Hi-Fi-Anlage angeboten. So günstig, dass Olle angesichts seiner Position als Jurist einer Versicherungsgesellschaft ein wenig nervös wurde. Doch Birger wickelte das Geschäft so ordentlich und seriös ab, dass nicht einmal Olles sensibilisiertes Gewissen daran Anstoß nehmen konnte.
Ein paar Monate später, als Olle schon keinen Gedanken mehr an ihre Begegnung verschwendete, hatte der freundliche Fernsehhändler sich abermals in Erinnerung gebracht. Eines Tages rief er einfach an, um Olle zu fragen, ob dieser mit ihm ein Konzert besuchen wolle. Olle, der es nicht gewohnt war, von fremden Männern eingeladen zu werden, war überrascht und misstrauisch. Er bemühte sich um eine Ausrede, doch als der andere ängstlich versicherte, er habe eigentlich mit seiner Frau gehen wollen, der etwas dazwischengekommen sei, ließ er sich darauf ein.
Der Fernsehhändler benahm sich tadellos, das heißt, er schwieg während des Konzerts und versuchte nicht, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das Malmöer Symphonieorchester spielte als Höhepunkt des Abends die Zweite Symphonie von Gustav Mahler. Wie zu erwarten, wurde es eine glänzende Aufführung, und Olle hatte rasch vergessen, in wessen Begleitung er sich befand.
Nach dem Konzert wollte Birger ihn noch auf ein Bier einladen, und während sie an dem kühlen Herbstabend dem Zentrum entgegenschlenderten, beichtete er zu Olles Schrecken den wahren Sachverhalt. Zunächst räumte er ein, gelogen zu haben. Die zweite Eintrittskarte war niemals für seine Frau vorgesehen gewesen, die sich keinen Deut für klassische Musik interessierte. Die Sache sei die, erklärte er mit verlegenem Lachen, dass er so verflucht einsam sei. An Gesellschaft mangele es ihm zwar nicht – er sei stets von Frau und Sohn, Bekannten und Kollegen umgeben –, doch habe er nie jemanden gefunden, der das Gefühl der Einsamkeit verdrängt hätte. Er meinte, das läge daran, dass ihn niemand so sähe, wie er wirklich sei. Doch wer er sei, wisse er selbst nicht. Im Grunde wäre es nicht seine Art, solcherart die Initiative zu ergreifen – er könne auch nicht erklären, warum er es getan habe –, doch empfinde er für Olle unumwunden Sympathie. Vielleicht habe es an der Musik gelegen – er wisse es nicht –, doch habe er einfach Kontakt aufnehmen müssen.
Er hatte schnell gesprochen, als habe er Angst, unterbrochen zu werden, ehe alles gesagt war. Doch die Sorge war unbegründet; Olle hatte es die Sprache verschlagen. Und Birger war fortgefahren: Manchmal hege er die ernsthafte Befürchtung, mit ihm sei etwas nicht in Ordnung. Er habe nie richtig zu leben verstanden, sei stets von allem ausgeschlossen gewesen, ein unbeteiligter Zuschauer. Habe nie richtig verstanden, worum es gehe. Es mache ihm Angst, dass er inzwischen einundfünfzig Jahre alt sei und nichts anderes könne, als einigermaßen glaubhaft eine Person namens Birger Rösling darzustellen. Doch eigentlich sei alles Theater. Und dann sei ihm plötzlich der Gedanke gekommen, dass ein Großteil seines Lebens bereits vorüber war. Bald würde alles vorbei sein, und er frage sich, was für ein Gefühl es sei, sterben zu müssen, ohne gelebt zu haben. Vielleicht sei es zum Handeln zu spät. Außerdem wisse er auch gar nicht, was er dagegen tun könnte. Er fühle sich einsam und verlassen in einer Welt, die immer härter und unerklärlicher würde.
Olle konnte in der wirren Klage des Mannes keine Spur von mürrischem Selbstmitleid, sondern nur einen schüchternen Hilferuf sehen. Es war peinlich und erschreckend zugleich. Erschreckend, weil er ihm in vielen Punkten Recht geben musste. War es nicht genau das, was ihn in all den Jahren in Atem gehalten und vom wirklichen Leben abgehalten hatte? Sein Bemühen, den Olle Linder zu spielen, den er selbst in sich sehen wollte? Und peinlich war es, weil ihm noch nie ein Mann so intime Details aus seinem Privatleben anvertraut hatte.
Er fühlte sich bedrängt und unbeholfen, weil er offenbar als eine Art Erlöser betrachtet wurde. Was zum Teufel sollte er sagen? Vielleicht: »Geh zu einem Psychiater, oder such dir eine passende Religion! Du hast schon Recht, Kumpel, die Welt ist hart und unbegreiflich, und leider ist der Zug für dich bereits abgefahren. Jetzt lass uns ein Bier trinken gehen.«
Aber das hatte er nicht gesagt. Stattdessen hatte er sich – zuerst zögerlich, dann immer eifriger – in pseudophilosophische Betrachtungen verstrickt, die eigentlich jeder Grundlage entbehrten. Nach dem zweiten Bier hatte er sich sogar über »höhere und sublimere Realitäten« ausgelassen, während ein anderer Teil von ihm im Stillen in Hohngelächter ausbrach. Am nächsten Tag verzog er bei der Erinnerung an den vorangegangenen Abend angewidert das Gesicht.
Doch der Fernsehhändler hatte in seinen wirren Darlegungen offenbar einen gewissen Trost gefunden, denn er pflegte unverdrossen ihre Bekanntschaft, die er schon bald als Freundschaft bezeichnete. Er nutzte jede Gelegenheit, um Olle einen Gefallen zu tun, und trotz dessen lahmer Einwände glückte es ihm, sich auf jede nur erdenkliche Weise nützlich zu machen.
Olle wurde auch zu ihm nach Hause eingeladen, in sein Haus in Söderkulla, wo er seine an klassischer Musik desinteressierte Frau sowie ihren Sohn kennen lernte.
Gunnel Rösling war eine recht hübsche, wenn auch ein wenig anstrengende Frau, die mit mädchenhaftem Lachen und schmachtenden Blicken über ihre verflossene Jugend hinwegzutäuschen versuchte. Sie hatte ein wirklich erstklassiges Abendessen zubereitet, und es bestand kein Zweifel, dass sie stolz auf ihr Zuhause war, das man durchaus als geschmackvoll bezeichnen konnte. Doch hatte sie etwas zu lebhaft über den Kopf ihres Mannes hinweg diskutiert, und Olle wäre fast das Rinderfilet im Hals stecken geblieben, als sie plötzlich unter der Tischdecke über seinen Oberschenkel strich. Er brachte das Essen irgendwie hinter sich und wusste kaum, was er geredet oder gegessen hatte, denn sie war sehr zielstrebig, und Birger zuliebe wollte er keine Szene machen. Zu seiner Erleichterung wurde der Kaffee an einem niedrigen Couchtisch mit Glasplatte serviert, der zumindest physische Annäherungen verhinderte. Doch der weitere Verlauf des Abends machte beklemmend deutlich, dass der Hausherr nicht nur unter ihrem Pantoffel stand. Auch sein Sohn betrachtete ihn offenbar längst als hoffnungslosen Fall.
Das Casa Mia war mit plaudernden Mittagsgästen bereits voll besetzt. Die betörenden Duftschwaden, die durch das Lokal zogen, setzten ein erwartungsvolles Ziehen in seinen leeren Eingeweiden in Gang. Birger und der heimgekehrte Halbbruder saßen an einem Tisch am Fenster. Sie erhoben sich, als sie ihn sahen. Der Halbbruder erwies sich als robuster Riese, der seinen Anzug gut ausfüllte, ohne dick zu wirken. Olles Virtuosenhand ergriff ängstlich die ihm entgegengestreckte Pranke, Marke extra large, doch wurde sie nur leicht gedrückt. Das offenherzige Lachen des Riesen gehörte zu einem großen, makellosen Gesicht, das von erstaunlicher Glätte war und von einer vollen, silbernen Haarpracht umgeben wurde. Die hellblauen Augen blickten so lammfromm, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Max Rösling schien vor Gesundheit zu strotzen. Neben ihm wirkte Birger noch blasser und schmächtiger als sonst.
Nachdem sie sich vorgestellt hatten, übernahm Max mit der Autorität des großen Bruders die Initiative.
»Wie heißt das?«, fragte er und zeigte alles andere als diskret auf einen Nebentisch, an dem zwei Frauen etwas aßen, das wie Saltimbocca alla Romana aussah. Als der Kellner auf sein Winken nicht sofort reagierte, begann er mit den Fingern zu schnippen. Für einen Augenblick dachte Olle, er würde auch noch zu pfeifen beginnen. Birger machte ein gequältes Gesicht.
Doch als der Kellner schließlich an ihrem Tisch erschien, zeigte es sich, dass Max die Terminologie der italienischen Küche durchaus beherrschte. Er erkundigte sich ausführlich nach dem Kalbsfilet mit Parmaschinken und streute hin und wieder Ausdrücke in der melodiösen Muttersprache des Kellners ein. Während sie auf das Essen warteten, erhielten sie die Erklärung. Max hatte viele italienische Freunde over there gehabt. Die Firma, für die er gearbeitet hatte, war unter anderem auf italienische Sportwagen spezialisiert gewesen.
Dann wechselte Max plötzlich das Thema. Er legte seinem Bruder schützend den Arm um die Schultern und ging dazu über, ihr ergreifendes Wiedersehen sowie seine liebenswürdige Familie zu schildern, die ihn mit offenen Armen empfangen habe.
»Und nun will ich die Familienfinanzen etwas genauer unter die Lupe nehmen«, fügte er hinzu. »Birger hat in dieser Hinsicht ja nichts unternommen. Aber so ist das eben mit den Gutmütigen, die bestehen nicht auf ihrem Recht. Wie Sie sehen, bin ich der Ältere – zwischen uns liegen sechzehn Jahre.« Er schüttelte seinen Bruder wohlwollend an der Schulter, ehe er seinen Arm zurückzog. Und Birger, der gehörig durchgeschüttelt aussah, lächelte verlegen.
Als das Essen serviert wurde, entstand eine kurze Pause, doch sobald sich der Kellner entfernt hatte, nahm Olle den Gesprächsfaden wieder auf.
»Leider habe ich nur eine knappe Stunde Zeit, bis ich zu einer weiteren Verabredung muss«, sagte er entschuldigend und hoffte, sie würden ihr Anliegen rasch zur Sprache bringen.
»Dann kommen wir gleich zur Sache«, sagte Max und gab Birger einen leichten Knuff mit dem Ellbogen.
Birger räusperte sich. »Nun, wir benötigen ein paar Informationen in einer . . . Erbangelegenheit.«
»Ja, so habe ich das gestern am Telefon auch verstanden«, sagte Olle aufmunternd.
»Max hat die Frage aufgeworfen, wie es eigentlich mit der Verteilung des Erbes aussieht. Wir würden gern wissen, welche Rechte wir haben.«
»Über die Rechte bin ich mir im Klaren«, warf Max ein. »Es geht darum, wie wir die Sache schnellstmöglich auf den Weg bringen können.«
»Bevor ich mich dazu äußern kann, brauche ich ein paar nähere Informationen über die Familienverhältnisse«, sagte Olle. »Da Sie beide Rösling heißen, nehme ich an, dass Sie denselben Vater haben.«
»Das stimmt«, sagte Birger, der damit beschäftigt war, sein Fleisch zu schneiden. »Er war zweimal verheiratet.«
Max fügte unnötigerweise hinzu: »Ich stamme aus der ersten Ehe, Birger aus der zweiten.«
»Was ist mit Leif? Stammt er auch aus der zweiten Ehe?«
Max blickte erstaunt auf. »Kennen Sie Leif?«
»Hat Birger das nicht erzählt? Meine Frau und ich hatten in den letzten drei Jahren ein Sommerhaus auf Röshult gemietet.«
Birger beeilte sich, von dem seltsamen Anlass zu berichten, der Olle und ihn zusammengeführt hatte, und Max, der womöglich verborgene Loyalitäten gegenüber den Leuten auf Röshult witterte, äußerte in misstrauischem Ton: »Was für ein Zufall. Dann kennen Sie sicher auch Gertrud.«
»Nun ja, irgendjemanden von ihnen zu kennen wäre zu viel gesagt«, entgegnete Olle. »Das Sommerhaus liegt ja ungefähr drei Kilometer vom Hof entfernt, also sind wir uns nur selten über den Weg gelaufen.«
Doch Max ließ nicht locker. »Was aber halten Sie nun von Gertrud?«
Wäre Olle ehrlich gewesen, hätte er gesagt, dass er verdammt wenig von ihr hielt. Da sie aber Birgers Mutter war, ließ er Vorsicht walten. »Eine aufgeweckte und gesprächige Frau, soweit ich das beurteilen kann.«
Birger fühlte sich zu weiteren Erklärungen veranlasst. »Das Verhältnis zwischen Max und meiner Mutter ist ziemlich angespannt«, sagte er. Mit einem raschen Seitenblick auf seinen Bruder fügte er hinzu: »Äh, das Verhältnis zu Leif ja wohl ebenfalls . . .«
»Das kann man wohl sagen!«, schnaubte Max. »Die würden mir am liebsten den Hals durchschneiden.«
Olle fand ihn erfrischend, wenn auch widersprüchlich. Er konnte sich nicht entscheiden, ob der Kerl gerissen oder naiv war. Vielleicht beides. Einerseits hatte er etwas Ungekünsteltes und Kindliches an sich, andererseits wirkte er für einen Schweden außergewöhnlich hartgesotten.
»Gibt es noch weitere Geschwister, die aus den beiden Ehen hervorgegangen sind?«, fragte er.
»Nein, das Erbe müssen sich nur wir drei Brüder teilen – mit Gertrud«, sagte Max.
»Dann ist Ihre Mutter also gestorben, als Sie ein Teenager waren«, vermutete Olle. »Oder hat es eine Scheidung gegeben?«
Max ließ seinen Blick über die Gästeschar schweifen. Scheppernd ließ er das Besteck auf den Teller fallen und legte die Hände auf den Tisch.
»Nein, eine Scheidung hat es nicht gegeben«, kam es zögerlich. »Es heißt, sie sei gestorben . . . aber nicht auf normale Weise.«
»Nicht?«
Olle blickte verstohlen zu Birger, um einen Wink zu bekommen, doch dessen Gesichtsausdruck war unergründlich.
»Im Frühjahr 1940 ist sie verschwunden«, sagte Max. »Es gab Suchmeldungen im Radio. Es hieß damals, ihre Nerven wären nicht in Ordnung. Aber sie war nicht merkwürdiger als viele andere auch.«
»Was heißt das – verschwunden? Ist sie denn nie wieder aufgetaucht?«
Max schlug die Augen nieder und nestelte am Besteck. »Nein, sie wurde nie gefunden«, sagte er und ließ die unterschwellige Andeutung in der Luft hängen.
»Ich verstehe. . .«, sagte Olle, obwohl ihm die Sache weiterhin ein Rätsel war. »Und Ihr Vater hat später wieder geheiratet?«
»Er musste elf Jahre warten, bis sie für tot erklärt wurde. Obwohl Leif und Birger da schon beide auf der Welt waren.« Max stieß ein spöttisches Lachen aus. »Leif war schon auf dem Weg, bevor meine Mutter verschwand.«
»Und das Erbe Ihrer Mutter wurde nie aufgeteilt, nachdem sie für tot erklärt worden war?«
Max schüttelte energisch den Kopf. »Nein, ich weiß genau, dass davon niemals die Rede war.«
»Wann ist Ihr Vater gestorben?«
»1952. Er starb durch einen Arbeitsunfall im Wald.«
»Und auch sein Erbe wurde nicht aufgeteilt?«
»Nein. Als er starb, war ich bereits drauf und dran, nach Amerika zu gehen, und andere Vermögenswerte als den Hof gab es nicht. Einen Verkauf konnte ich nicht erzwingen. Es war schließlich ihr Zuhause, und Birger war ja erst acht Jahre alt, also ließ ich die Sache fürs Erste auf sich beruhen. . .«
»Das heißt also, Sie haben sich damals damit einverstanden erklärt, dass der Nachlass nicht aufgeteilt wird?«
»Heißt es das? Ich wollte doch schließlich nicht für alle Zeiten auf mein Erbe verzichten.«
»Richtig«, sagte Olle. »Dass der Nachlass nie aufgeteilt wurde, ist sogar die Voraussetzung dafür, dass Sie heute Ihre Ansprüche geltend machen können.«
Max war ganz Feuer und Flamme. So sehr, dass er fast seine Ellbogen auf den Teller gestemmt hätte, als er sich über den Tisch beugte und Olle gespannt ansah. »Es spielt also keine Rolle, dass die Sache so lange her ist?«
»Nicht, wenn es sich so verhält, wie Sie mir gesagt haben.«
Birger bekam einen weiteren Stoß in die Rippen. »Da siehst du’s!«, sagte Max.
Birger schien die Möglichkeit, Geld aus dem Familienhof zu schlagen, nicht aus der Reserve zu locken. Olle hatte ihn sogar im Verdacht, dass er lieber auf alles verzichten wollte.
»Sie haben versucht mir einzureden, dass bei einer Aufteilung des Erbes die damaligen Werte herangezogen werden«, sagte Max. »Aber entscheidend ist doch wohl, was der Hof heute wert ist.«
»Selbstverständlich«, bestätigte Olle.
»Hab ich also richtig vermutet!« Max’ Augen funkelten. »Wie hoch ist der Anteil, der mir zusteht?«
»Der dürfte erheblich sein. Als Alleinerbe Ihrer Mutter steht ihnen der halbe Hof zu. Über die weiteren Ansprüche kann ich Ihnen auf die Schnelle keine verlässliche Auskunft geben. Am besten, Sie wenden sich an das Amtsgericht. Dort beantragen Sie, dass Ihnen ein Nachlassverwalter zur Seite gestellt wird. Eine einvernehmliche Einigung scheint in Ihrem Fall wohl nicht möglich zu sein.«
»Die würden nie etwas freiwillig hergeben«, sagte Max.
Olle sah Birger an. »Was sagst du dazu?«
»Vermutlich hat Max Recht«, sagte er ohne Nachdruck.
Max rieb sich die Hände. »Wie lange wird die ganze Angelegenheit in Anspruch nehmen?«
»Schwer zu sagen. Das hängt davon ab, wie schnell man sich auf die Details einigen kann.«
»Details?«
Olle sah erschrocken auf die Uhr und spürte, wie jede weitere Minute ihn mehr unter Druck setzte.
»Was die Berechnungsgrundlage angeht, gibt es doch immer Streitereien«, murmelte er und schob den Teller von sich fort. »Leider muss ich jetzt gehen. Falls es noch offene Fragen gibt, sollten wir die am Telefon besprechen. Birger weiß, wo er mich erreichen kann.«
Olle stand auf, schüttelte erneut Max’ Riesenpranke und gab Birger einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, ehe er rasch zwischen den Tischen verschwand.
Während er im üblichen Eiltempo den Weg Richtung Stortorget und sein Büro einschlug, wo er bereits von einigen traurigen alten Männern erwartet wurde, fragte er sich, ob er Birger wirklich einen Gefallen getan hatte. Was Max betraf, herrschte in dieser Hinsicht kein Zweifel. Aber er dachte an den Ausdruck in Birgers Augen. Dieser ausweichende Blick hinter den Brillengläsern. Die Frage war, ob nicht sogar eine gewisse Angst in ihm gelegen hatte.