Читать книгу Die Ruhe vor dem Sturm - Schweden-Krimi - Helena Brink - Страница 13
9 AM SELBEN TAG
ОглавлениеEs hatte etwas mit der Stille hier oben auf sich, dachte Kajsa. Sie meinte nicht nur die gegenwärtige Stille wahrzunehmen, sondern auch die der Vergangenheit, die seit Anbeginn der Zeiten herrschte. Als beträte man eine zeitlose Welt, in der andere, unergründliche Regeln herrschten.
Ihre weichen Sohlen erzeugten kaum einen Laut, als sie behutsam über das unkrautüberwucherte Steinpflaster der Hofeinfahrt schritt. Zunächst setzte sie sich auf den halbrunden Treppenabsatz vor der Haustür und betrachtete die altertümlichen Gebäude, die den rechteckigen Hofplatz umgaben. Doch die Kälte drang durch ihre Jeans und ließ sie rasch wieder aufstehen. Sie versuchte durch die zugewachsenen Fensterscheiben zu schauen, blickte aber nur in ein graues Halbdunkel, in dem nichts zu erkennen war.
Die Haustür war durch einen Eisenriegel mit Vorhängeschloss gesichert, doch sie wusste, dass es ein Kinderspiel war, vom Stall aus ins Wohngebäude zu gelangen. An den Türen der Wirtschaftsgebäude befanden sich nur gewöhnliche Haken, und obwohl es gar nicht so leicht war, sich durch das Gerümpel des dunklen Stalls seinen Weg zu bahnen, hatten sie es bereits einmal getan. An einer denkwürdigen Mittsommernacht vor zwei Jahren, die sie als verzauberte Nacht in Erinnerung behalten hatte.
Es war im Morgengrauen nach einer Liebesnacht gewesen. Die Nachtigallen sangen aus voller Kehle. Von einer unerklärlichen Energie gepackt, mussten sie einfach aufstehen und sich den Sonnenaufgang anschauen. Sie warfen sich lediglich ein paar Kleider über, zogen ihre Stiefel an, machten jedoch zu viel Lärm dabei. Joakim wachte auf und wollte auch mit. Also nahmen sie ihn in die Mitte und stapften durch hohes, taufeuchtes Gras, kletterten über moosbewachsene Steinmauern und überquerten verwunschenes Weideland, über dem immer noch der Nebel waberte. Schließlich gelangten sie an einen Abhang, von dem aus sie freie Sicht auf den östlichen Himmel hatten. Die Morgenröte breitete sich rasch über den Fichtenwipfeln aus. Da sahen sie plötzlich den verlassenen, kreisförmig angelegten Hof vor sich, der beinahe auf der Kuppe einer Anhöhe lag. Natürlich hatten sie ihn schon früher gesehen – mit seinem uralten Charme und doch beklagenswert verfallen. Aber an diesem Morgen, von der rosafarbenen Glasur des klaren Morgenlichts überzogen, sah er alles andere als beklagenswert aus. Die narbige Bretterverkleidung glühte hinter frisch erblühtem sahneweißem Wiesenkerbel. Eine knotige Eiche streckte ihre grünen Arme schützend über das moosbesetzte Dach. Wie die Illustration aus einem Märchenbuch, hatte sie gedacht.
Doch in dem alten Hof schien immer noch Leben zu sein. Er hielt sich standhaft aufrecht, als hätte er dem Zahn der Zeit schon ewig getrotzt und beabsichtige dies auch noch die nächsten Jahrhunderte zu tun. Das ganze Abenteuer erinnerte an einen Traum.
Kurz darauf hatte Olle eine der knarrenden Türen der Wirtschaftsgebäude einen Spaltbreit geöffnet, und sie hätten sich nicht gewundert, wenn plötzlich ein alter, vergessener Hoftroll herausgesprungen wäre und sie angefaucht hätte.
Sie tappten durch den dunklen Stall, bis sie eine halb geöffnete Tür erreichten, die in eine hellere Melkkammer führte. Auf einer Bank sahen sie neben einem verbeulten Eimer ein paar Milchkannen aus Blech, die auf dem Kopf standen, als wären sie gerade ausgespült worden. Wie viele Jahre mochten sie dort schon gestanden haben? Die breiten Fußbodenbretter waren von Rattenkot übersät, dazwischen lagen die Reste von Rattengiftpackungen.
Von der Milchkammer führte eine schmale knarrende Tür zu einer geräumigen Speisekammer, auf deren fleckigen Regalen rostige Keksdosen und beschlagene Konservengläser standen. Fehlte nur noch die Küche, die neue Überraschungen für sie bereithielt. Staunend hatten sie die alten Schrankbetten betrachtet, den großen Herd mit Backofen und die an den Wänden befestigten Bänke.
Olle hatte alles unter die Lupe genommen und den Gutachter gespielt, hatte an die Wände geklopft, sein Taschenmesser zwischen die Dielenbretter gesteckt und in den Rauchfang geblickt. Alles in allem war er recht zufrieden gewesen und hatte nur die Fensterrahmen beanstanden müssen. Das Holz war völlig morsch, und es war nur eine Frage der Zeit, bis die Scheiben herausfallen würden. Sie selbst hatte die Tapetenschichten gezählt und die brüchigen Tüllgardinen befühlt, die mit Fliegendreck und alten Spinnweben imprägniert waren. Sie hatte alle Winkel und Kammern untersucht und sogar die Schrankbetten ausprobiert, in denen bucklige, nach Schimmel stinkende Matratzen lagen. Währenddessen hatte sich Joakim auf den Dachboden verzogen und sie beinahe zu Tode erschreckt, als das Haus plötzlich einen klagenden Laut von sich gab, den sie unmittelbar über ihren Köpfen, hinter den verzogenen Deckenbalken, gehört hatten.
Sie hatten damals nur Spaß gemacht, doch insgeheim hatte sie der Gedanke nicht mehr losgelassen, den Hof eines Tages zu besitzen. Sie wusste, dass sie ihre Träume hier verwirklichen könnte.
Doch heute enthüllte das trübe Nachmittagslicht weniger ansprechende Seiten des Hauses, das abgenutzt und verkommen wirkte. Einem Großteil der Farbe hatten Wetter und Wind über Jahrzehnte den Garaus gemacht. Die Wände als rot zu bezeichnen erforderte schon viel guten Willen. An einigen Stellen waren sie bis zu einer Höhe von einem halben Meter vollkommen morsch. Hier und da türmten sich ramponierte Dachziegel und Eisenschrott zu kleinen Haufen, die in einem Matsch nasser, verwelkter Blätter lagen. Mit einem Gefühl, das zwischen Entzücken und Entsetzen schwankte, sah sie ein, dass es einer gigantischen Anstrengung bedurfte, um dies alles instand zu setzen.
»Pfui Teufel, wie sieht’s denn hier aus!«, rief Olle, als sie den Hofplatz erreichten. Doch betrachtete er den Verfall mit demselben Wohlwollen, mit dem er Kajsa betrachtete. Joakim brauchte nur eine Minute, um einen möglichen Dachsbau unter dem Stall aufzuspüren. Petrus lächelte unbestimmt und schwieg.
Sie ging davon aus, dass die Begegnung der beiden Männer gut verlaufen war. Es war bestimmt die richtige Strategie gewesen, zunächst allein hierher zu kommen. Olle hätte falsche Schlüsse ziehen können, hätte er sie bei seiner Ankunft zusammen mit Petrus gesehen. Sie musste heute behutsam vorgehen, ihre Zunge hüten und sich auf das Wesentliche konzentrieren: dass der Hof ihrer würde.
Gemeinsam drehten sie ein paar Runden, begnügten sich damit, sich umzusehen und mit den Händen zu ertasten, ob eine Heilung der Altersbeschwerden noch möglich war. Petrus war der Sachverständige unter ihnen, dessen Wort das größte Gewicht haben sollte. Doch seine Aufgabe war schwierig. Kajsa kannte seine Einstellung und wusste, dass er zwischen tiefem Misstrauen und dem Wunsch, ihr gefällig zu sein, hin und her gerissen war. So äußerte er sich maßvoll zu den Krankheitssymptomen und hob optimistisch alle Anzeichen für eine mögliche Genesung hervor. Sicher kam ihm seine politische Begabung zu Hilfe, vermutete sie, denn er klang gleichermaßen kompetent wie unparteiisch. Im Großen und Ganzen verlief die Besichtigung so, wie sie gehofft hatte. Sie blieben von unliebsamen Überraschungen verschont, und Olle sah nicht allzu widerwillig aus.
Doch die wirkliche Auseinandersetzung, die den ökonomischen Wert der gesamten Anlage betraf, sollte natürlich erst stattfinden, wenn Leif Rösling auf der Bildfläche erschien. Und das tat er zur verabredeten Zeit, mit an Arroganz grenzendem Selbstbewusstsein, als sei es das Unbedeutendste des gesamten Familienbesitzes, das er hier zum Verkauf anbot.
Kajsa hegte wenig Sympathie für den Mann, und dass er ein harter Verhandlungspartner war, wusste sie aufgrund ihrer bisherigen Bekanntschaft. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, dass er unehrlich war. Er hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er ein grober Klotz war. Seine Äußerungen ließen mitunter darauf schließen, dass er eine bornierte Intoleranz gegenüber allem besaß, was außerhalb seines Horizonts lag. Das war vielleicht nichts Ungewöhnliches, doch Leif Rösling strahlte einen gewissen Despotismus aus, der sie veranlasste, sich zu distanzieren. Dennoch hatte er etwas Unbeirrbares. Sie war sicher, dass er in einer langen Tradition rechtschaffener Bauern stand, die beharrlich ihrer Arbeit nachgingen und sich jede Einmischung von außen verbaten.
Er war ein wortkarger Mann, der sich nicht mit dem Austausch von Belanglosigkeiten abgab. Nach einem kurzen Nicken, das der ganzen Gesellschaft galt, sowie einem misstrauischen Seitenblick auf Petrus murmelte er: »Werd mal schauen, wo ich den richtigen Schlüssel hab.«
Er zog einen gewaltigen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche, und nach langem Suchen und Probieren gelang es ihm schließlich, das Vorhängeschloss zu öffnen. Die Tür protestierte knarrend, als sie aufgestemmt wurde. Ein nasskalter Luftzug schlug ihnen entgegen, gemischt mit abgestandenen Gerüchen von Dingen, die einer vielfältigen Verwandlung unterworfen waren.
Der Eingangsbereich bestand fast nur aus Türen. Geradeaus führte eine Treppe zum Dachboden hinauf. Darunter befand sich die Tür zu einer Abstellkammer. Hinter der niedrigen, breiten Tür zur Rechten lag der Raum mit den vielen Tapetenschichten, das wusste sie, und dahinter waren zwei Giebelzimmer, die sie jetzt schon als ihre zukünftigen Schlafzimmer betrachtete. Die Tür zur Linken führte in die Küche. Die Männer mussten die Köpfe einziehen, wenn sie durch die niedrigen Türrahmen gingen.
Am Ende der Küche gab es zwei weitere Türen. Hinter der einen lag die geräumige Speisekammer, deren Hintertür wiederum zur Melkkammer führte, von der aus man in den Stall gelangte. Hinter der anderen Tür, auf der Giebelseite des Hauses, befand sich noch ein kleines Zimmer.
Da sie so tun mussten, als sähen sie alles zum ersten Mal, zeigte sich Kajsa äußerst überrascht über die Schrankbetten, die Einbausschränke und breiten Dielen. Joakim hatte sie eingeimpft, seine Zunge im Zaum zu halten. Olle bemühte sich um eine professionelle Miene, die ein wenig gelangweilt und äußerst skeptisch ausfiel.
Während sie schweigend den Raum in Augenschein nahmen, rasselte Leif mit dem Schlüsselbund, als sei er es leid, irgendwelchen Interessenten dieses pittoreske Kleinod anzubieten.
Nachdem sich alle am Wohnhaus satt gesehen hatten, kamen die anderen Gebäude an die Reihe. Der voll gestopfte Stall, der seine Geheimnisse bislang für sich behalten hatte, erwies sich als wahre Schatzkammer.
Sobald Leif das aufgetürmte Gerümpel ein wenig zur Seite geräumt hatte, sickerte ein trübes Licht durch die zugewachsenen Fenster. Kajsa warf nur einen flüchtigen Blick auf die Boxen für die Kühe. Ihre ganze Konzentration galt dem Gerümpel, das ihr nicht uninteressant erschien. Es dauerte nicht lange, da hatte sie bereits Kopf- und Fußteil eines verschnörkelten Eisenbetts entdeckt, die an der Wand lehnten, sowie eine hohe Kommode mit hübschen Beschlägen, auf der sich interessante Bilderrahmen stapelten. Sie sah ein Büfett, auf dessen glatter Oberfläche noch die Reste einer Bauernmalerei zu erkennen waren, einen abgeblätterten Küchenschrank sowie einige ramponierte Stühle, alles von ehrwürdigem Alter. Wunderbare Dinge, deren sie sich annehmen wollte. Als Leif im nächsten Augenblick hilfsbereit anmerkte, man könne den ganzen Schrott ja einfach rausschmeißen und abfackeln, hätte sie vor Schreck beinahe einen Schluckauf bekommen. Warte nur, bis der Vertrag unterschrieben ist, dachte sie empört, dann darfst du diese Dinge nicht mal mehr ansehen.
Nachdem auch Scheune, Schweine- und Hühnerstall sowie eine verwirrende Menge von Kammern, die sie nicht eindeutig zuordnen konnte, begutachtet worden waren und er all ihre Fragen knapp, aber höflich beantwortet hatte, waren ihre Nerven zum Zerreißen gespannt.
Olle hatte verlangt, dass er die Verhandlungen allein führte und sie sich in keiner Weise einmischte, doch sie bereute bereits, darauf eingegangen zu sein. Denn eines war sicher: Olle würde auf keinen Fall die geforderte Summe bezahlen wollen. Sie sah harten Verhandlungen entgegen.
Durch unangenehme Versicherungsstreitigkeiten gestählt und den Umgang mit durchtriebenen Kunden gewohnt, unterließ er es nicht, jeden Mangel, den er sah, einzeln zur Sprache zu bringen. Außerdem machte er hinreichend deutlich, dass er im Grunde gar kein Interesse an dem Hof habe. Und da auch Leif überhaupt kein Interesse an einem Verkauf zeigte und nicht einmal versuchte, die Qualität seiner Ware zu verteidigen, tat sie es an seiner Stelle, da sie fürchtete, Leif könne ansonsten die Geduld verlieren und sein Angebot zurückziehen. Dafür erntete sie einen tödlichen Blick von Olle, den sie wütend erwiderte. Petrus hielt sich demonstrativ zurück, während Joakim überall herumsprang, als gehöre der Hof bereits ihnen.
Zu den konkreten Verhandlungen waren sie in die Küche zurückgekehrt. Zunächst herrschte eine bedrückende Stille, und als Olle schließlich zu reden begann, tat er es in einem Ton, als müsse er sich überwinden, einen so hoffnungslosen Fall überhaupt zu erörtern.
»Tja, ich weiß nicht, was ich sagen soll . . .«
Leif starrte in die Luft, als wisse er es auch nicht.
Dann stieß Olle einen Seufzer aus, der offenbar bedeuten sollte, dass er entsetzt über den Zustand des Hofes war. »Es gibt ja ungeheuer viel zu tun, ehe man überhaupt einen Gedanken daran verschwenden könnte, hier einzuziehen. Vor allem der Verfall des Wohnhauses ist äußerst weit fortgeschritten.«
Leif enthielt sich einer Antwort. Vielleicht sollte sein leichtes Achselzucken heißen, dass dies ja nicht seine Sorge sei.
»Unter diesen Umständen bin ich allenfalls bereit, zweihundertfünfzigtausend zu zahlen«, schloss Olle.
Kajsa schoss die Röte ins Gesicht, doch Leif bleib ganz ruhig. Er schüttelte bedächtig den Kopf und sah fast amüsiert aus.
»Ein solcher Preis kommt natürlich überhaupt nicht in Frage«, entgegnete er lapidar. »Ich hatte dreihundertfünfzigtausend gefordert, und in Anbetracht des großen Grundstücks ist das auch nicht zu viel verlangt.« Er steckte die Hände in die Taschen, wippte auf und ab und studierte die dunklen Deckenbalken.
Auch Olle musterte die Decke. »Dreihundertfünfzigtausend ist ausgeschlossen«, stellte er fest.
Leif schien diese Aussage nicht zu interessieren.
»Zweihundertfünfundsiebzigtausend und keine Öre mehr. Das ist unser letztes Wort«, sagte Olle.
Kajsa litt. Da standen sie und stritten über Formalitäten, während sie in Wahrheit um ihre Träume feilschten. Sie war wütend auf Olle, der alles aufs Spiel setzte.
Leif gab ein leises Schnauben von sich, doch erst nachdem er sich erneut eingehend dem Studium des Gebälks gewidmet hatte, entgegnete er: »Ich könnte mir vorstellen, um fünfundzwanzigtausend herunterzugehen, da wir ja sozusagen alte Bekannte sind.«
Kajsas flehentlichen Blick ignorierend, hielt Olle die Spannung aufrecht, indem er gründlich über das Angebot nachdachte.
»Dann schlage ich vor, wir treffen uns in der Mitte«, sagte er schließlich. »Dreihunderttausend – und wir können noch heute den Vertrag unterschreiben.«
Leif wandte endlich den Blick von der Decke ab und schaute Olle neugierig an. »Heute?«
»Ich habe alle Papiere dabei.«
Leif zögerte nur wenige Sekunden. »Abgemacht.«
Er streckte die Hand aus und Olle schlug ein.
Nachdem die finanzielle Seite geregelt und der Vertrag unterschrieben war, holte Leif den Schlüsselbund wieder hervor. Mit großer Geste löste er den Schlüssel für das Vorhängeschloss und überreichte ihn Kajsa mit fast galantem Lächeln. Doch die Wärme, die sie zunächst verspürt hatte, verflüchtigte sich rasch, nachdem er gegangen war. Ihr gefiel die Art und Weise nicht, wie er sich noch einmal umgeschaut hatte. Sein Gesichtsausdruck verriet nichts als Verachtung für den alten Hof, die in noch größerem Maß denjenigen galt, die dumm genug waren, ihn zu kaufen.