Читать книгу Kein Frieden für Palästina - Helga Baumgarten - Страница 18
Apartheid-Staat
ОглавлениеEs mutet überraschend an, dass Israel zuerst durch den südafrikanischen Premierminister Hendrik Verwoerd 1961 als Apartheid-Staat bezeichnet wurde: »Israel, like South Africa, is an apartheid state«. Allerdings verstand Verwoerd dies nicht als Kritik, sondern als Kompliment.
Die scharfe Kritik der palästinensischen Linken Anfang der 1970er-Jahre an Israels Bantustan-Strategie basierte auf der Analogie zwischen dem Apartheid-Staat Südafrika und Palästina. In der israelischen Diskussion, von Uri Davis bis Meron Benvenisti, wird immer wieder angeprangert, dass Israel die Palästinenser wie der Apartheidstaat die Schwarzen in Südafrika unterdrückt. Eine ganze Serie von internationalen Berichten charakterisiert Israel als Apartheidstaat, angefangen mit dem Bericht von John Dugard 2007 (»Legal consequences of a prolonged occupation with features of colonialism and apartheid«) über eine Studie aus Südafrika aus dem Jahre 2009: »Die von Israel praktizierte Politik in den besetzten palästinensischen Gebieten stimmt fast vollständig überein mit der Definition von Apartheid, wie sie in Art. 2 der Int. Konvention über die Bekämpfung und Bestrafung des Verbrechens der Apartheid eingeführt wird«, bis hin zum ESCWA Report 2017. Dieser wird von Rima Khalaf, Executive Director of ESCWA, eben dahingehend interpretiert: »Der Bericht kommt klar und eindeutig zum Ergebnis, dass Israel ein rassistischer Staat ist, der ein Apartheid-System etabliert hat, mit dem das palästinensische Volk verfolgt wird.«
Mehrere Menschenrechtsorganisationen schließlich, zwischen 2020 und 2021, charakterisieren Israel seit 1948 als Apartheid-Staat, also nicht nur in den seit 1967 besetzten Gebieten, sondern auf dem gesamten Territorium zwischen Mittelmeer und Jordan und seit der Gründung des Staates Israel 1948. Dazu gehört auch die Yesh-Din-Studie von 2020. Mehr internationale Aufmerksamkeit erhielten die Berichte von B’tselem und Human Rights Watch aus dem Januar bzw. April 2021.
Es befremdet, dass erst die Publikationen von Human Rights Watch und B’Tselem die Bezeichnung Israels als Apartheid-Staat international akzeptabel machten. Die mindestens ebenso in die Tiefe gehende und ausführliche Studie des Human Science Research Council aus Südafrika: »Occupation, Colonialism, Apartheid? A re-assessment ot Israel’s practices in the occupied Palestinian Territories under international law« aus dem Jahre 200931 wurde in der internationalen akademischen Diskussion und im öffentlichen Diskurs schlicht übergangen, soweit das heute ersichtlich ist. Es müssen offensichtlich immer westliche Publikationen sein, die einen paradigmatischen Wechsel, sei es akademisch oder politisch, möglich machen. Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen dem südafrikanischen Bericht, an dem auch palästinensische Menschenrechtsorganisationen als volle Partner mitarbeiteten, und den Berichten von Human Rights Watch und B’Tselem: die letzteren bezeichnen als erste in ihren Berichten das gesamte Israel vom Mittelmeer bis zum Jordanfluss als Apartheid-Staat.
Im politischen Widerstand der Palästinenser 1948−1967 spielten diese konzeptionellen und theoretischen Anstrengungen, die ja in der Mehrzahl erst nach 1967 unternommen wurden, keine Rolle. Bei diesem Widerstand ging es zuerst und vor allem um eine neue Bestimmung der Identität der Palästinenser und um die Möglichkeiten direkter politischer Aktion.
Wie relevant sind diese Theorien heute? Geht es um ein besseres Verständnis der Realität, mit der die Palästinenser konfrontiert sind, heute und seit 1948? Oder geht es eher um die Mobilisierung von Solidarität, im Anschluss an die weltweite Solidarität für Südafrika und den Kampf des ANC gegen die Apartheid?
Für den Wissenschaftler jedenfalls ist mit diesen Theorien die Möglichkeit des Vergleichs stark verbessert. Gleichzeitig kann vermieden werden, dass Palästina und Israel lediglich als Ausnahmefälle und nur sui generis analysiert werden.
Politisch, aber auch in der wissenschaftlichen Analyse, die den politischen Widerstand stärken möchte, wird es möglich, hinter den einzelnen Aktionen von Armee, Verwaltung und Politik das große Bild zu erkennen: nämlich einen systematischen Prozess der Vertreibung und Eliminierung, der 1948 begonnen hat und in den verschiedensten Formen bis heute anhält, wie nicht zuletzt die israelische Politik in Scheikh Jarrah und Silwan zeigt. Die Arbeiten von Nadera Shalhoub-Kevorkian sind vor allem für ein tieferes Verständnis der Folgen von Siedlerkolonialismus und ethnischer Säuberung in Jerusalem unerlässlich.32
Die jungen (und älteren) Aktivisten konfrontieren immer wieder Israels Versuch, sie zu vertreiben. Sie reagieren inzwischen mit absoluter Entschlossenheit: Wir wollen und wir werden uns nicht vertreiben lassen.33 In der Verbindung von 1948 bis heute wird damit die nakba als ein ununterbrochener Prozess erkennbar. Schon Patrick Wolfe hat klar herausgearbeitet, dass Siedlerkolonialismus kein einmaliges Ereignis ist, sondern nur als historisch-politischer Prozess adäquat verstanden werden kann.