Читать книгу Das Alphabet der Kindheit - Helge-Ulrike Hyams - Страница 11

ABC-Lernen

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»Und ich bin froh, dass der alte Mann schläft, dass er nicht gesehen hat, wie rot ich geworden bin. Mir scheint, dass er nicht von dem heißen Tee eingeschlafen ist, sondern vor Kummer, dass wir so schlecht lernen. Er ist ein so stiller Mann, er möchte uns so gern das Alphabet lehren, uns so weit bringen, dass wir wenigstens eine Seite in der Bibel lesen können, wie er immer sagt.«

Bella Chagall

Viele Erwachsene, und vor allem die älteren unter ihnen, besinnen sich der Tränen, die sie beim Erlernen des ABC vergossen haben. Wie kann es sein, dass Schullehrer die Kinder damals zum Schönschreiben zwangen, jene aber später keine Spur von Schönheit erinnern? Sie erleben die fremden Buchstaben nicht selten wie feindselige Soldaten, gerade und stramm, keine Abweichung nach rechts oder links, kein Straucheln unter die Linie. Kinderkrämpfe.

Dabei ist doch das Schreibenlernen, dieser Moment, in dem das Kind erstmals in die Geheimnisse der Schrift eingeführt wird, es sein erstes A, sein erstes O malen darf, ein magischer und einzigartig kostbarer Moment. Hier macht das Kind den bedeutungsvollen Schritt, den die Menschheit als Kollektiv schon lange vor ihm vollzogen hat: den Übergang von der schriftlosen in die Schriftzeit, von einer Zeit vorher in eine nachher.

Vorher, das ist die Zeit, in der das Kind, und ursprünglich die Menschheit als Ganzes, die Dinge um sich herum ausschließlich direkt-sinnlich in sich aufnahm, wohl auch beim Namen nannte, jedoch nicht schriftlich fixierte. Dass ein Ding, ein Mensch, die Sonne, der Mond, das Wasser oder die Tiere aber zum Zeichen werden kann, zu einer in sich verdichteten Hieroglyphe, liegt für das Kind vor dem Schulbeginn noch ganz außerhalb seines Vorstellungsvermögens. Sicher hat das Kind jetzt auch noch kein wirkliches Begehren10, danach zu suchen und diese fremden Zeichen in ihrem tieferen Sinn zu verstehen.

Und dann, eines Tages, unter der Anleitung eines guten Lehrers, und auch aus einem Impuls heraus, will das Kind die Zeichen enträtseln. Es beginnt von sich aus zu begreifen, dass ein einziger Laut, zu einem Buchstaben geronnen, das Tor zu den unterschiedlichsten Wirklichkeiten eröffnen kann. Das W zu Wasser und Welle. Das K zu Karamell und Kamel. Das M zu Mama und Makkaroni. Und das P zu Papa und Puppe, Popo und Pipi, Parmesan und Pups. Diese Worteinfälle stammen sämtlich von einem siebenjährigen Mädchen, das gerade das P zu schreiben gelernt hat. Dass auch Popo, Pipi und Pups darunter sind – direkt neben Papa und Parmesan –, ist für das Kind glaubwürdig und faszinierend zugleich. Und lustig! In diesem Alter gibt es zum Glück noch keine Hierarchie der Werte – und der Worte.

Das Heranführen an die Schrift ist eigentlich ein Mysterium, und es tut dem Kind gut, wenn es die Einführung in dieses Mysterium bewusst durchleben darf. Im Judentum war traditionell Brauch, dass der Lehrer am ersten Schultag die Buchstaben mit Honig an die Tafel malte. Die Kinder gingen an die Tafel und schleckten mit ihren Fingern den Honig ab. Die Lehrer der Montessori-Schulen lassen ihre Kinder die Buchstaben aus Pappe und anderen Materialien ausschneiden und mit ihnen spielen. In den Waldorfschulen erwächst jeder Buchstabe aus einem Bild, einer Geste oder einer Geschichte heraus, er wird farbig gemalt und nimmt so lebendig Gestalt an. Auf diese Weise haben die Kinder das Gefühl, dass die Buchstaben aus ihren eigenen Händen heraus entstehen, dass sie selbst deren Schöpfer sind.

Die allermeisten Kinder, die in unseren Schulen heute schreiben lernen, erleben dieses große Mysterium nicht. Sie erleben nicht das Glück, die Dinge der Welt in Zeichen zu verzaubern – und umgekehrt die Zeichen zurückzuversetzen in Realität. Die allermeisten Kinder schlucken die Buchstaben wie Medizin, die man ihnen reicht, einen nach dem anderen, in schön ordentlicher Reihenfolge. Sie kritzeln sie auf Linien, und dabei ist es fast belanglos, ob sie ein A oder ein I, ein L oder N schreiben. Kein Buchstabe schillert für sie. Keiner spricht wirklich zu ihnen.

Hören beziehungsweise lesen wir, was der französische Schriftsteller und langjährige Lehrer Daniel Pennac aus seiner Kindheit erinnert. Ich muss erwähnen, dass Pennac als Schulkind ein cancre war, ein Krebs, wie die Franzosen ihre schlechten Schüler gnadenlos bezeichnen. Pennac hatte, als er schreiben lernen sollte, eigentlich nur eines im Sinn: weglaufen! Er berichtet in seinem Buch »Schulkummer«: »Zweifellos ist diese Lust, davonzulaufen, auch der Grund für das seltsame Schreiben, dem ich mich hingab, ehe ich schreiben konnte. Statt Buchstaben malte ich kleine Männchen, die an den Rand flohen, wo sie sich zu einer Bande zusammenschlossen. Obwohl ich mir anfangs immer Mühe gab. Ich pinselte die Buchstaben des Alphabets so gut es ging, aber nach und nach verwandelten sie sich von allein in diese kleinen davonhüpfenden und sich fröhlich anderswo tummelnden Wesen. Noch heute verwende ich diese Männchen in meinen Widmungen. Ich hänge an ihnen. Sie sind mein Band aus der Kindheit, dem ich die Treu halte.«11

Wenn man Daniel Pennac mit seinem Männchen-Malen genau anschaut – und in seinem Buch findet man sie gezeichnet –, dann entdeckt man, dass er damit den Prozess der Schreib-Zivilisation gleichsam umkehrt, rückgängig macht. Er verwandelt die Buchstaben in das, was sie ursprünglich einmal waren, nämlich lebendige Wesen, Männchen, Menschen, vielleicht auch Tiere.12 Auf jeden Fall mussten es kleine Gestalten sein, die weglaufen konnten.

Pennac spielt auf seine fantastisch-poetische Weise mit den Buchstaben. Dabei ahnen wir, dass ihm als Schriftsteller das Thema heilig ist, so wie es auch uns heilig sein sollte. Die Einführung in die Schrift ist für das kleine Kind der zentrale Moment der Initiation in die geistige Welt. Wenn das Kind erst einmal all die kleinen Strichzeichen, die kompliziert zusammengefügten Geraden und Krummen, die Häkchen und Pünktchen beherrscht, dann steht ihm alles Wissen der Welt offen. Und nicht nur das gegenwärtige Weltwissen. Das Kind kann mittels des geschriebenen Wortes auch die Vergangenheit aufschlüsseln und auf diese Weise »mit Hilfe des Aufgezeichneten am kollektiven Gedächtnis teilhaben«.13 Und es kann auch die Worte Morgen und Zukunft schreiben und damit seine Identität auf Papier, auf einer Baumrinde oder im Sand einritzen.

Das Alphabet der Kindheit

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