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Archetyp Kind

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»Kleiner als klein, doch größer als groß.«

C. G. Jung

Die meisten von uns leben auf irgendeine Weise real mit Kindern. Wir sehen sie, hören sie, unterrichten oder heilen sie und freuen uns an ihnen. Einige haben aber Gründe, keine Kinder um sich haben zu wollen und stattdessen mit Hunden, Katzen oder Vögeln oder ganz allein zu leben. All das ist möglich – doch niemand kann auf die Kinder in seiner Umgebung nicht reagieren.

Daneben aber – weit über dies Reale hinaus – tragen wir alle ein Bild vom Kind in uns, welches oft wenig bewusst und mitunter sogar ganz unbekannt ist. Dieses Bild existiert völlig unabhängig von unseren eigenen individuellen Kindheitserfahrungen – als Urbild, als Archetypus vom Kind.

Der Begriff Archetypus stammt von Carl Gustav Jung und ist ein Grundpfeiler seiner Tiefen-Psychologie.28 Und in die zeitlichräumliche Tiefe führt dieses Denken tatsächlich. Nach Jung tragen wir Menschen nämlich nicht nur die Nachwirkungen unseres eigenen, individuellen Erlebens in uns – und dies ist schon viel –, sondern wir haben darüber hinaus menschheitsgeschichtliche Ablagerungen gespeichert. Wie die Ringe alter Bäume tragen wir die Erinnerungsspuren unendlich vieler vorhergehender Generationen in uns. Die Sprache dieser Erinnerungsspuren zu entschlüsseln fällt uns nicht leicht. Aber die alten Bilder leben in uns und werden wirksam in unseren Träumen, in Ängsten und Visionen und in Momenten besonderer seelischer Wachsamkeit.29

Der Kindarchetypus birgt viele Aspekte. Am aufregendsten erscheint mir das Motiv »kleiner als klein, doch größer als groß«, wie Jung es benennt, jene krasse Polarität und die dazugehörige gefahrvolle und gleichzeitig lustvolle Bewegung zwischen diesen beiden Seinszuständen.

Das neugeborene und gar das ungeborene Kind: Ist es nicht kleiner als klein? Ist es nicht unendlich fragil und bedroht von Anfang an? Und gleicht es nicht einem Wunder, wenn es trotz dieser Bedrohtheit und durch sie hindurch überlebt und seinen Weg findet? Das Wunder ist tatsächlich so groß, dass wir es kaum angemessen in Sprache fassen können. Wie matt sind Worte, wenn es um das Überleben geht, das den meisten von uns als selbstverständlich erscheint.

Deshalb brauchen wir starke Bilder, die über Worte hinausreichen. Deshalb brauchen wir Mythen und Märchen, die das Wunder des Großwerdens unter Gefahren immer wieder neu beschwören und die den Segen betonen, der darin liegt, heil daraus hervorgegangen zu sein. Da wird ein Kind als Däumling geboren, als Dummling oder gar als Tier (»kleiner als klein«), und es wächst doch heran, allen Widrigkeiten zum Trotz wird es doch »größer als groß«: Es wird zum Menschen. Das im Korb ausgesetzte und todgeweihte Moses-Kind wird zum Befreier seines Volkes. Die Söhne und Töchter von Bauersleuten, also kleiner Leute im Sinne der sozialen Hierarchie, bestehen Prüfungen und werden zu Königen und Königinnen erhoben und damit doch »größer als groß«.

Der Archetypus meidet das mittlere Maß. Er liebt die Extreme. Und er schöpft aus dem tiefen Brunnen der menschlichen Erfahrung: Die Bedrohung des Lebens und die darauf folgende Errettung ist wohl die dramatischste existenzielle Erfahrung, die ein Mensch durchleben kann, zumal wenn sie (s)einem Kind widerfährt.

Was den Archetypus des Kindes für uns so faszinierend, gleichwohl so schwer fassbar macht, ist seine Offenheit nach allen Seiten hin. Offen hinsichtlich der zeitlichen Dimension umfasst der Kindarchetypus alles Vergangene, alles Gegenwärtige und alles Zukünftige. Kindheit ist ein fließender Strom, darin kreuzen sich Kinderschicksale millionenfach, und auch zukünftig werden Kinder die Erde bevölkern und ihr menschliches Potential entfalten. Dabei unterstreicht Jung vor allem den Zukunftscharakter des Kindarchetypus, wenn er sagt: »Das Kind ist potentielle Zukunft.«30 Vielleicht ist dies überhaupt der für uns kostbarste Aspekt des Kindarchetypus, das Kind als Repräsentant von Zukunft und damit Hoffnung – und für manche sogar Heil (»Denn euch ist heute der Heiland geboren«).

Offen ist der Kindarchetypus auch hinsichtlich der menschlichen Möglichkeiten, denn diese sind gewissermaßen unendlich. Das neugeborene Kind trägt alle Möglichkeiten in sich: Es kann Briefträger werden, Mathematiker, Raumfahrer oder Opernsänger. Im Kindarchetypus ist dieses unendliche Potential voll existent; letztlich entscheidet die Biografie darüber, wie das Kind es in seinem Leben umsetzt.

Was wir soeben über den Archetypus sagten, seine Verknüpfung mit menschheitsgeschichtlichen Erinnerungsspuren, seine Zukunftsbezogenheit und sein Alternieren zwischen den Polen »kleiner als klein« und »größer als groß« – all dies sind innere Bilder. Wir sollten sie als solche begreifen und wertschätzen und ihnen großzügig Raum in uns geben. Leben ist Leben. Bilder sind Bilder. Und Archetypen sind Archetypen. Und dennoch: Alles ist eins.

Das Alphabet der Kindheit

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