Читать книгу Das Alphabet der Kindheit - Helge-Ulrike Hyams - Страница 14

Angst

Оглавление

»Als Kind: meine Liebe äußerte sich als Angst.«

Peter Handke

Ich muss damals neun gewesen sein. Meine Mutter hatte kurz vorher ein zweites Mal geheiratet, den Lehrer meines Bruders, und natürlich war dies ein aufregendes Ereignis für unsere Familie. Allerdings liegt all das, die Hochzeit, das Vorher und Nachher in meiner Erinnerung ganz im Dunkeln. Nicht aber die folgende zeitgleiche Szene: Meine Eltern besuchten mit meinem Bruder und mir einen Zirkus in einer nahe gelegenen Stadt. Spaßeshalber versteckten sich die drei ganz plötzlich hinter einem Zirkuswagen – und ich war wie verloren. Nie werde ich den Schrecken, diese Mischung aus Ohnmacht und Traurigkeit vergessen, wie ich mutterseelenallein inmitten des Zirkusgetümmels ins Leere schaute, nicht wissend, in welcher Richtung ich suchen sollte. Merkwürdig, viele meinen, dass es stets große, dramatische Ereignisse sind, die das Kind ängstigen. Dabei kann schon die geringste, scheinbar banale Begebenheit das Kind in Angst und Schrecken versetzen – nämlich wenn es sich allein gelassen fühlt. Dann verliert es den Boden unter sich.

Die Hauptangst des Kindes besteht darin verlassen, vergessen, ausgesetzt zu werden, also die (An-)Bindung zu denen, die es liebt, zu verlieren. Alles andere, was wir gemeinhin Kinderängste nennen, sind im Grunde nur unterschiedliche Grade und Erscheinungsweisen dieser Urform der Angst.

Zur menschlichen Grundausstattung gehört die Angst, sie begleitet uns von Beginn an und nicht selten bis zum letzten Atemzug. Angst ist nicht nur ein mentaler, sondern ein durch und durch körperlicher Zustand: Angst lässt uns in die Hose machen, sie lässt unser Herz rasen und reißt uns schweißnass aus dem Schlaf. Angst essen Seele auf, wie ein bekannter Filmtitel sagt.26

Das Grundmuster aller Ängste ist tatsächlich schon in der Geburt angelegt: Angst kommt von Enge, und beim Durchgang durch den Geburtskanal, getrieben von den mütterlichen Wehen, erfährt das Kind erstmals und im wahrsten Sinn des Wortes jenes Gemisch aus Enge und Angst. Gleichzeitig jedoch erlebt es – und dies ist das eigentliche Wunder der Geburt – die Auflösung der Enge, die Befreiung. Wir wissen nicht genau, wie weit die Erinnerungsspuren an dieses frühe Erlebnis heranreichen, aber ich bin überzeugt, dass diese ersten Angsterfahrungen körperlich in den Zellen gespeichert werden und uns lebenslang begleiten.27

Im Idealfall wird das neugeborene Kind sofort liebevoll aufgenommen, das Geburtstrauma durch Zuwendung, Wickeln und Muttermilch aufgefangen. Doch dies ist nicht immer gegeben. Auch heute noch sterben Kinder, weil sie medizinisch schlecht versorgt werden. Und in der Vergangenheit war es gang und gäbe, dass Kinder während der Geburt oder sofort danach starben. Ungewollte Kinder wurden (und werden auch heute noch) lieblos beiseite gelegt, niemand geht mit ihnen eine Bindung ein.

Neugeborene haben möglicherweise eine instinktive Ahnung davon, dass sie Glück haben, wenn sie bei der Geburt freundlich aufgenommen werden, wenn die Mutter sie bedingungslos annimmt. Und es ist ab sofort ihr Lebens- und Leitmotiv, diese Bindung zu erhalten. Die Allgegenwart der Mutter oder der Erwachsenen schlechthin schützt das Kind vor der Angst. Wo sie fehlt, ist das Kind bedroht. Krieg, Flucht, Zerstörung und andere Turbulenzen können die Kinder oft erstaunlich gut ertragen, solange sie die Hand von Vater oder Mutter halten und solange sie selbst gehalten werden. Sie sind zwar erschreckt und verwirrt, aber sie fühlen sich nie verloren. »Ich war während des Angriffs auf Dresden an der Hand meiner Mutter«, sagt eine Frau, »und erstaunlicherweise habe ich gar nicht geweint.« Geht der schützende Kontakt jedoch verloren, bricht Panik aus. Dann trägt nichts mehr, und das Kind wird von Angst überflutet.

Ängste kommen und gehen. Sie kommen angerollt wie Gewitter, sie treten auf in Gestalt von Hexen, Geistern oder Raubtieren, die das Kind angreifen und in Stücke zu zerreißen drohen. Doch verschwinden Ängste auch wieder und lösen sich wie böse Träume auf. Es nützt wenig, das Kind zu mahnen und seine Angst dumm oder peinlich zu nennen. Dann rächt sie sich, erscheint in anderem Gewand und will erst recht die kleine Seele aufessen.

Ja, Angst ist unsere Begleiterin, sie gehört wesensmäßig zu uns. Und sie ergibt manchmal sogar Sinn, dann nämlich, wenn sie uns vor drohenden Gefahren warnt. Vielleicht sollten wir ihr offener begegnen, wie einem Besucher aus einem fremden Land, der uns etwas zu sagen hat.

Das Alphabet der Kindheit

Подняться наверх