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Atem

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»Die Atemzüge dieser Kinder, all dieser Kinder, und das soll uns nicht retten?«

Elias Canetti

»So können wir den kreativen Impuls als etwas Eigenständiges betrachten, das natürlich notwendig ist, wenn ein Künstler ein Kunstwerk erschafft, das aber auch bei jedem anderen vorhanden ist – sei es nun ein Kleinkind, ein Kind, ein Jugendlicher, ein Erwachsener oder ein Greis. Im augenblicksbezogenen Leben eines Kindes, das sich am Atem erfreut, ist es ebenso vorhanden wie in der Inspiration eines Architekten, dem plötzlich einfällt, wie er etwas bauen kann.«31 Dies schreibt Donald W. Winnicott in seinem Buch Vom Spiel zur Kreativität. Dass da jemand wie er, als gestandener Psychoanalytiker und Kinderarzt, den Atem nicht als passives Geschehen, sondern als »kreativen Impuls« eines Kindes deutet, ist, zumindest in unserer Kultur, außergewöhnlich.32 Wir nehmen den Atem des Kindes als derart selbstverständlich gegeben an, dass wir uns seiner Schönheit, seines Rhythmus, seines Klangs, seines Geruchs und seiner Vibrationen gar nicht wirklich gewärtig sind. Wir würden in Gesellschaft anderer Erwachsener leicht lächerlich erscheinen, wenn wir offenbarten, wie sehr uns der Atem unseres Kindes fasziniert. Stattdessen unterhalten wir unsere Mitmenschen – oder sie uns – mit Geschichten über PolypenOperationen und Zahnspangen.

Dabei ist doch gerade der Atem das Kostbarste und Wunderbarste, was das Kind in sich trägt. Ohne Atem kein Leben. Atem ist Leben, und das wissen wir (theoretisch) alle. Warum begegnen wir diesem Wunder so wenig achtsam?

Für den Atem fehlt uns, ebenso wie für die vielschichtigen Vorgänge des Körpers oder einzelner Organe im gesunden Zustand, meist die Sprache. Erst wenn ein Teil des Körpers aussetzt, wenn wir uns krank fühlen, finden wir Worte. Erst wenn der Atem spürbar schwer wird, wie beim Asthma, wenn er ins Stocken gerät oder wenn er zu rasen beginnt wie etwa in einem epileptischen Anfall, nehmen wir ihn bewusst wahr und können ihn benennen. Und erst wenn der Atem plötzlich versagt wie beim plötzlichen Kindstod, offenbart sich seine existenzielle Bedeutung.

Heute gibt es nur noch selten Hausärzte oder gar Mütter und Väter, die, den Kopf an den Leib des Kindes gepresst, seinen Atem abhorchen. Dabei wäre es aufschlussreich, etwas über die Atemtätigkeit des Kindes zu erfahren – nicht nur an kranken, sondern auch an gesunden Tagen. Oder in Momenten, in denen das Kind Stimmungen ausgesetzt ist, die es allein nicht mehr regulieren kann. Wie atmet eigentlich das erregte Kind? Oder gar das hyper-erregte? Wie atmet das traurige Kind oder das depressive? Wie atmet das Kind, das nicht in den Schlaf findet? Lässt sich über den Atem lenkend eingreifen, wenn das Pendel in die eine oder andere Richtung ausschlägt? Mit anderen Worten: Lässt sich der Atem besänftigen? Lässt sich der Atem – und damit das Kind – erheitern, lebendiger, mutiger machen?

Tatsache ist, dass bei Kindern, stärker noch als bei Erwachsenen, der Atem auf alle Handlungen und Seelenregungen sensibel reagiert und mitschwingt:

– ein Schock verschlägt dem Kind den Atem,

– aus Angst muss es den Atem anhalten,

– nach einer schweren Anstrengung muss es erst einmal tüchtig durchatmen,

– beim Lernen in der Schule braucht es immer wieder Atempausen

– und die Eltern verlangen von ihm, dass es, wenn es etwas gründlich lernen will (wie beispielsweise ein Musikinstrument), einen langen Atem haben muss.

Überall in der Menschwerdung ist der Atem präsent, ganz konkret und ebenso stark im übertragenen Sinne. Im antiken Mythos entspricht Atmung dem Akt der Zeugung selbst, eine Vorstellung, die sich gleichfalls in manchen Märchen widerspiegelt, wenn etwa der Atem eines Tieres ein junges Mädchen zu schwängern vermag.33 Auch der Wind hat Zeugungskraft, und so verschmelzen im Unbewussten der individuelle Atem mit dem großen Atem der Erde selbst. Wie recht hatten doch die alten Rabbiner im Talmud Sabbat, wenn sie davon sprachen, dass die Welt nur aus dem Hauch (ruach) der kleinen Kinder bestehe!

Das Alphabet der Kindheit

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