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Bindung

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Elliott: »E. T.! Bleib bei mir!

Bitte, bleib mit mir zusammen!«

Steven Spielberg

In Steven Spielbergs Film E. T. sucht ein kleiner Junge Freundschaft, Trost und Vertrauen bei einem Außerirdischen. Hier glaubt er das zu finden, was er in seiner eigenen Familie verzweifelt entbehrt: Bindung. Dieser Film aus dem Jahre 1982, ursprünglich als Kinderfilm konzipiert, hat seine erwachsenen Zuschauer nicht weniger angerührt als die jungen. Das lag sicher nicht nur an Spielbergs Regiekunst, vielmehr spürte jeder Kinobesucher, ob groß oder klein, dass die dramatische Geschichte um E. T. eine tiefe, universale Wahrheit vermittelt: Kein Kind auf Erden kann und will aus freien Stücken allein sein. Jedes Kind will zusammen sein, in Bindung sein: mit einem Menschen, mit einem Tier, mit seiner Facebook-Freundesschar – und notfalls mit einem Außerirdischen. Das ist die Botschaft des Films, und das hat die Menschen, als sie E. T. im Kino sahen, zum Weinen gebracht.44

Die Erklärung für diese Botschaft liegt nahe. Bindung ist, vom Anfang unseres Lebens an, eine absolute Notwendigkeit. Das Neugeborene muss vom ersten Augenblick an angenommen, gefüttert, gewärmt und versorgt werden, um zu überleben. In einem sensiblen, über Wochen und Monate währenden Einigungsdialog45 weben Mutter und Kind das erste Band, welches das Muster für alles spätere Bindungsverhalten abgibt.46 Im Normalfall sind die Mutter und auf seine Weise der Vater von sich aus auch gern bereit, diese Bindung mit dem Kind einzugehen, es zu nähren, zu schützen, und sie werden dafür reichlich belohnt.

Was ist das Wesen der Bindung? Wie können wir sie begreifen, fernab all der wissenschaftlichen Definitionen, in denen man sich so leicht verlieren kann? Vielleicht sollten wir beginnen mit dem, was Bindung nicht ist. Bindung ist nicht automatisch gleichzusetzen mit Liebe und Glück. Interessanterweise – oder sollten wir etwa sagen klugerweise? – bindet sich das Kind anfangs an jeden, der es versorgt und schützt, selbst wenn dies ohne Zeichen von Liebe geschieht und ihm dabei Leid oder Schmerz widerfährt. Es bindet sich auch an Tiere, wie die Geschichten der sogenannten Wolfskinder beweisen. Die Hauptsache ist, in Bindung zu sein, im Schutz und Teil einer Gruppe zu sein. Liebe, Glück und Wohlbehagen sind zwar die erfreulichen und auch häufigsten Beigaben, aber sie sind trotz allem nicht unerlässlich, nicht lebensnotwendig. (Dies ist übrigens der Grund, weshalb im Erwachsenenalter viele Menschen sich an Personen, Orte und Situationen klammern, selbst wenn sie ihnen schaden oder sie gar in Lebensgefahr bringen.)

Lebensnotwendig ist die Bindung selbst. Und da ist es sinnvoll zu unterscheiden zwischen jener Urbindung, der in der Mutter-Kind-Beziehung angelegten Matrix einerseits und dem daraus resultierenden Bindungsverhalten andererseits. Die Bindung ist für das Auge unsichtbar – wie farbloser Klebstoff –, aber höchst wirksam. Sichtbar ist hingegen das wechselnde Verhalten. Bindung erscheint in den unterschiedlichsten Gewändern, sie äußert sich in Sprache, in Gesten und in Taten.

Jede Bindung hat ihre Zeit. Und wenn diese Zeit vorbei ist, müssen alte Bindungen aufgelöst und durch neue eingetauscht werden – ein überaus empfindsamer Prozess für beide Seiten. In den seltensten Fällen geht die Auflösung eines bestehenden Arrangements reibungslos vor sich, ja, die Reibung ist geradezu ein Zeichen dafür, dass eine alte Bindung überholt ist. Wenn dieses seismografische Spüren versagt, wenn Bindungen nicht gelöst werden, kann dies lebenslange und sogar krankmachende Folgen haben.

Zum Glück ist das Kind auch selbst aktiv. Es fordert uns dauernd heraus. Und auch ohne die unmittelbare Gegenwart von Menschen kann es sich in Bindung einüben. Wenn man es lässt, erschafft es sich im Spiel und in der Fantasie ganz ungeahnte Formen von Bindung. Denken wir nur an Christopher Robin, der seinen Bären Pu schuf – mal ungeachtet der Tatsache, dass es der eigene Vater war, der die Geschichte niederschrieb.47 Oder an Anne Frank, die sich, allein und abgeschnitten von Vergangenheit und Zukunft, ihre Brieffreundin Kitty erdichtete, zu der sie in ihrem Amsterdamer Versteck die tiefste und offenherzigste Bindung pflegte. Dass Annes Tagebuch ein so überwältigender Erfolg war, verdankt es sicher nicht nur den tragischen Verhältnissen, unter denen es entstand, sondern vor allem dieser Kraft, gegen die Hoffnungslosigkeit anzuschreiben.48 Anne Frank wollte die Bindung zur Welt niemals aufgeben.

Vielleicht ist es uns jetzt auch leichter, Elliotts Sehnsucht nach seinem E. T. besser zu verstehen: »Bleib bei mir! Bitte, bleib mit mir zusammen!«

Das Alphabet der Kindheit

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